Mein 1986 – Teil 1
Mittwoch, 16. Februar 2011Kürzlich ging wieder ein Spielchen durch meine Twitter-Timeline: #twitternwie1986
Nicht, dass das besonders ergiebig gewesen wäre, doch es löste bei mir einen Erinnerungs-Flash aus. 1986 war vielleicht eines der wichtigsten Jahre meines Lebens, ziemlich sicher aber das bislang vollste (und ich habe in AGENTUREN gearbeitet!). Zudem kann ich mich an ganz erstaunlich viele Details erinnern. Sonst habe ich ein elend schlechtes Gedächtnis, was meine eigene Vergangenheit betrifft – Romane und Filme behalte ich besser.
Ich stelle mal einen kleinen Ausschnitt zusammen, was 1986 bei mir so los war. Das wird länger.
Foto-Session
Ich war in diesem Jahr 18 und ging in die 13. Klasse. Im Januar kam eine Bekannte zu einer Fotositzung mit Verkleidung zu mir. Ich glaube, wir hatten denselben Kindergarten oder dieselbe Grundschulklasse besucht, doch unsere Wege hatten sich erst wieder gekreuzt, weil sie die Freundin eines Freundes eines Schülersprecher-Kollegen war. Hier das resultierende Sammelfoto von mir:
Diese Bekannte stellte sich kurz darauf als Bulimikerin heraus (die erste, mit der ich persönlich konfrontiert war), was schlagartig ihr Verhalten während unseres Ausflugs nach München erklärte: Die zarte Person hatte mich in ein Café nach dem anderen gelotst und hatte nach dem Verzehr großer Portionen Kuchens mit Sahne immer dringend aufs Klo gemusst.
Chorwochenende Burg Rothenfels
Ich sang in einem Jugendchor, der über das Faschingswochenende zu Blockproben verreiste, 1986 zum letzten Mal nach Burg Rothenfels. Gesungen wurde praktisch durchgehend – wenn wir nicht gerade zum Ausgleich Volkstänze übten.
Ziel des Probenwochenendes auf der tief verschneiten Burg waren das Jahreskonzert in der Kirche Maria de Viktoria und eine Tournee durch Südspanien über die Pfingstferien 1986. Diese Tournee wurde von einem ehemaligen Chorsänger organisiert, der ein Jahr in Granada studiert hatte und in seiner Organisatorenfunktion am Probenwochenende teilnahm. Ich kannte ihn bis dahin nur von alten Chorfotos, fand ihn den so ziemlich attraktivsten Mann, den ich je gesehen hatte, und hoffte inständig, dass ich nicht in eine peinliche Schwärmerei für ihn verfallen würde.
Selbst nach der Nacht, die wir beide verknäuelt und verküsst auf einer Eckbank verbracht hatten, bis die Morgensonne durch die Bleiglasfenster der Burg blitzte, notierte ich in mein Tagebuch: „NICHT verliebt!“ (Es sollte noch ein paar Jahre bis zu der Erkenntnis brauchen, dass ich meine Gefühle gerne mal mit deutlicher Verzögerung wahrnehme. Bis zu Wochen Verzögerung.)
Die Beziehung mit diesem Herrn war eines der prägenden Elemente meines Jahres 1986. Der deutlich ältere Student eröffnete mir Welten. Seine Freunde. Seine Musik. Seine Wohnung in München. Dass er Spanisch konnte. Sein langer Urlaub mit seiner Schwester, aus dem er mir viele Seiten lange Briefe schrieb. Sein Umzug in meine Heimatstadt, um dort am Theater zu arbeiten. Die Theaterleute. Seine Wohnung, mit alten Erbstücken eingerichtet, Bad am Gang ohne warmes Wasser. Seine Eigenständigkeit. Mein erstes unangekündigtes Fernbleiben vom Elternhaus über Nacht. Mein überfordertes Schwimmen auf diesem überlebensgroßen Verliebtheitsgefühl. Erster Urlaub mit Freund (mit geliehenem Auto und Zelt nach Budapest). Seine Wortschöpfungen. Käse mit Marmelade, Schwedenspeise. Dann seine wachsende Ablehnung meiner fehlenden Lebenserfahrung und Bildung, meiner hilflosen Passivität in Beziehungsdingen. Sein endgültiger Rückzug, als ich um Weihnachten herum krank im Bett meiner inzwischen eigenen Wohnung lag.
Facharbeit über Christa Wolfs Kassandra
Meine erste (halbwegs) wissenschaftliche Arbeit war die Facharbeit im Leistungskurs Griechisch. Ich hatte gerade Kassandra von Christa Wolf gelesen, war sehr beeindruckt davon gewesen und schlug dem Kursleiter vor, dass ich den Roman mit Homers Ilias vergleichen könnte. Als ich vor ein paar Jahren das Ergebnis mal wieder in die Hand nahm, war ich darauf gefasst, mich gründlich für mein früheres Ich zu schämen. Doch die Arbeit ist mit Verstand, System und Leidenschaft verfasst, ich bekam ganz im Gegenteil gehörigen Respekt vor diesem früheren Ich. (Dass die Hauptkritik des korrigierenden Lehrers „zu feuilletonistisch“ lautete, würde er möglicherweise heute nicht mehr so sehen. Wir waren sein erster Leistungskurs.)
Tschernobyl
Die Öko-Familie im Reihenhaus neben dem meiner Eltern machte ein Riesenaufheben: Ließ ihre kleinen Kinder nach dem Regen nicht mehr draußen spielen, warf den Salat aus dem Garten weg. Ich konnte mich trotz des „Atomkraft? Nein danke“-Stickers auf meiner Schultasche lange nicht entschließen, ob meine Skepsis der Reaktion dieser Wasseradern-Gläubigen gelten sollte oder den Abwiegelungen der bayerischen Staatsregierung. Man wusste ja nichts! Unser Lehrer des Grundkurses Mathe nutzte seine Stunden dazu, uns die unterschiedlichen Sorten von radioaktiver Strahlung zu erklären und warum Geigerzähler nicht viel nützten. Sollte ich familienunüblichen Krebs bekommen, kann das daran liegen, dass ich trotzdem durch den Regen radelte.
Abitur
Auch wenn ich die 13. Klasse etwas leichter nahm – schließlich gab es gerade so viele ungeheuer aufregende Dinge in meinem Leben: Aufs Abitur büffelte ich so richtig, ich hatte einen Heidenrespekt davor. Mündliches Abitur (fand vor den schriftlichen Prüfungen statt) in Katholischer Religionslehre, an einem wundervoll sonnigen Nachmittag. Drittes Abiturprüfungsfach Mathe – und zum einzigen Mal in meinem ganzen Schulleben eine Aufgabe ÜBERSEHEN. Leistungskursprüfungen in Englisch und Altgriechisch.
Kaltmamsell auf Abiturfoto (wir waren ein Jahrgang von knapp 50).
Ich hatte den Termin vergessen, sonst wäre ich nicht ausgerechnet in diesem Restlpullover und mit ungewaschenen Haaren in die Schule gekommen.
Nach den Prüfungen ein endloser Reigen von Partys in den Elternhäusern und Gärten der Mitabiturienten, auch dem meiner Eltern (mein Freund saß in der Küche und buk Käsewaffeln mit einem mitgebrachten Waffeleisen). Dort die angetrunkene Eröffnung eines Mitschülers, er nehme sich schon seit der fünften Klasse vor, endlich was zu sagen, aber jetzt gebe es ja diesen anderen Mann und seine Chance sei wohl endgültig vorbei.
Zu dieser Zeit kriselte es ziemlich zwischen meinen Eltern und mir, vor allem zwischen meiner Mutter und mir. Die Details habe ich erfolgreich verdrängt, wir holten wohl den Pubertätskonflikt mit allen Gemeinheiten nach.
Sie warf mir den Abiturschnitt von 2,2 als unterirdisch vor, schließlich hätten sie und mein Vater mir alle Pflichten und Sorgen abgenommen, da wäre es ja wohl das mindeste gewesen etc. pp. Ich rächte mich damit, dass ich mich einem Abiturgeschenk verweigerte: Ich sollte mir beim Juwelier eine kostbare Halskette für die Abiturfeier aussuchen, möglicherweise ließ ich mich auch ins Geschäft schleifen, stand aber unter Umständen darin bockig schweigend und mit verschränkten Armen, schnappte vielleicht irgendwas im Sinne davon, wenn sie mein Abitur für so erbärmlich halte, sei es ja wohl auch kein Anlass für ein Geschenk. Ich kann nur hoffen, dass meine Erinnerung trügt.
Ich nutzte den Berufsanfang im September für Auszug und vorläufigen Bruch mit dem Elternhaus.