Journal Mittwoch, 30. März 2011
Donnerstag, 31. März 2011Ein Artikel auf der Feuilleton-Eins der Süddeutschen Zeitung fasst mein Unbehagen über die Bigotterie des modernen Lebens als verantwortungsbewusste Bürgerin zusammen: „Stunde der Heuchler“ von Johan Schloeman. „Auch ein Porsche Cayenne eignet sich dazu, das Altglas zum Container zu bringen,“ beginnt er. Die Wählerentscheidung für die grüne Partei werde „endgültig zum zeitgemäßen Ausdruck der Widersprüche, in denen der leidlich aufgeklärte Mensch der westlichen Welt heute steckt.“ Schloeman nennt das „die Stunde der Heuchler“. Ich würde es ein bisschen neutraler mit Bigotterie bezeichnen.
Denn auch die einfachsten Erkenntnisse von Zusammenhängen unserer Lebensweise mit den Risiken der Zukunft müssten konsequenterweise unsere Lebensweise grundsätzlich ändern. Wirklich grundsätzlich. Eines von Schloemans Beispielen: Der Porsche Cayenne ist sehr schlecht für die Umwelt. „Wird nun der neue grüne Ministerpräsident von Baden-Württemberg, der im Wahlkampf eine grünere Automobilindustrie gefordert hat, hingehen und die Porsche-Werke von einem auf den anderen Tag schließen lassen?“ Und damit 7500 Vollzeitarbeitsplätze abschaffen? Unwahrscheinlich.
Schloeman kommt zu dem Schluss, dass die Wahlentscheidung für die Grünen vielmehr als Ersatz für eine konsequente Lebensumstellung getroffen wurde: „Wenn die wohlhabenderen, gebildeteren, liberaleren Kreise sich im Kleinen bemühen, alles ein ganz bisschen sauberer und richtiger zu machen, und zugleich die großen Strukturfragen zur Gewissensentlastung an die Partei der Grünen delegieren.“ Mir fällt sofort der lokale Widerstand gegen Windräder oder neue Strommasten ein. Erneuerbare Energien: Ja! Solange sich dadurch vor der eigenen Haustür nichts ändert. (Zum NIMBY-Prinzip siehe dieses Posting im ScienceBlog.)
Noch eine Beobachtung Schloemans trifft meiner Meinung nach ins Schwarze (und ich fühle mich unangenehmerweise sehr gemeint): „Wenn die biologisch wertvollere Lebensweise unterschwellig als soziales Distinktionsmerkmal dient, denn beim Aldi ist es ja wirklich so was von eklig.“
Das ist genau der von mir belächelte Manufactum-Effekt: Wohlhabende Menschen umgeben sich mit Insignien einer untergegangenen Handwerkskultur, wo doch genau die Verdrängung des Handwerks durch Massenindustrie ihren Wohlstand erst hervorgebracht hat. Jetzt wieder Schloeman: „Der unerstättliche Kapitalismus, der unsere Lebensform garantiert, bildet den Hintergrund für das grüne Lebensgefühl der Mittelklassen; mit fundamentaler Umkehr hat das alles nichts zu tun.“
Selbst wenn ich einen möglichen Konflikt zwischen meinem Gelderwerb und meinem Anspruch an richtige Lebensweise ganz aus der Überlegung auslasse, habe ich nicht das Zeug zum Vorbild. Beispiel? Ich kaufe doch so gerne im Internet ein. Und wie kommt diese Ware zu mir? Als Einzelsendung per Post oder Kurierdienst – erheblich weniger transporteffizient als alles, was ich in einem Kaufhaus besorge.
Aber würde echte Bescheidenheit nicht unsere gesamt Wirtschaft kaputt machen? Wenn die Menschen Individualverkehr als überholten und schädlichen Luxus erkennten – stürbe dann nicht die Automobilindustrie, würden dann nicht Tausende arbeitslos?
Tatsächlich fällt mir bei diesem Thema ständig meine jungste Lektüre Der Untergang der Stadt Passau ein. Die Ausgangssituation, die ein grundsätzliches Umstellen der Lebensweise erfordert, wird darin durch eine nicht näher beschriebene Seuche erzeugt. Die Überlebenden müssen sich von ihren bisherigen Prioritäten verabschieden, neu denken und lernen – ihre bis dahin nützlichen Fertigkeiten und Besitztümer sind obsolet geworden. Allerdings macht das Büchlein klar, dass schlicht alles von vorne beginnt und die Entwicklung der darauffolgenden Jahrhunderte alle menschlichen Torheiten und gesellschaftlichen Verheerungen einfach in neuer Form enthalten wird.
Welche Konsequenzen ich persönlich aus diesen Erkenntnissen ziehe? Sehr wahrscheinlich gar keine. Ich bin schließlich auch nur ein Mensch.
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Durchschnittsarbeitstag ohne Ausreißer. Wetter sonnig und mild.
Nach einer Runde in der Muckibude den Feierabend mit einer weit angereisten Kollegin über Pizza und Primitivo verbracht.