Ein langes, dichtes Wochenende
Dienstag, 15. März 2011 um 11:21Samstag
Mit dem Morgenkaffee vor mir suchte ich auf allen Kanälen nach Japan-Infos. Da mich das schnell überforderte, ging ich Kleinigkeiten einkaufen und machte mich auf zum Schwimmen. Glücklicherweise sah ich schon jetzt, dass das Olympiabad nächsten Samstag von einer Veranstaltung belegt sein wird.
Solange ich noch außerhalb der Nass-Zone war, checkte ich zehnminütlich meinen Twitter-Stream nach Neuigkeiten. Langsam schälte sich heraus, dass zum ersten Mal meine persönliche Twitter-Timeline von Hysterie dominiert war statt von sachlichen Hinweisen auf Informationen und von Anteilnahme. Mit Hysterie meine ich: Alles, was auf eine atomare Katastrophe hinwies, wurde wahllos weiterverbreitet, inklusive auch noch so konstruierter Bezüge zu Deutschland. Hinweise auf die primären Auswirkungen von Erdbeben und Tsunami und auf die Schicksale der Bewohner fand ich nur vereinzelt und fast ausschließlich in US-amerikanischen Tweets.
Meine 3.000 Meter schwamm ich besonders versunken ab (pun intended). Vor allem versunken in Grübeleien, woher zum Teufel Japan denn sonst die fürs High-Tech benötigten immensen Mengen Strom hätte herkriegen sollen, ein Land praktisch ohne Rohstoffe. Weitergegrübelt, dass das Problem nicht in der Stromerzeugung, sondern beim Strombedarf liegt. Mir der Lächerlichkeit dieser Erkenntnis bewusst worden, wo ich doch gerade in einem Hallenbad schwamm, dessen Energiebedarf ich mir lediglich ansatzweise vorstellen konnte.
Zum frühstücklichen Mittagessen gab es eine zweite Runde Baroda Dal Dhokli. Das wird ziemlich sicher ein Liebling.
Ich las Buch und Internet, ließ mich aber immer wieder von den Sondersendungen auf ARD und ZDF unterbrechen. Auch im Fernsehen überwog bei weitem die Berichterstattung über die Atomreaktoren inklusive Bezug zu Deutschland – aufgrund deutscher Befindlichkeiten und Historie zwar erklärbar, für mich dennoch befremdend. Ich klappte mein Bügelbrett auf, bügelte mich durch ein mittleres Gebirge und ließ mir weiter auf verschiedenen Fernsehsendern das Neueste aus Japan samt Einschätzung erzählen.
Abends Essenseinladung bei Menschen, deren Existenz ich ohne Internet nicht einmal erahnen würde, und die ich nie im Leben ohne dieses Webdings getroffen hätte. Viele Köstlichkeiten, österreichische Weine mit Geschichte, Einblicke in Leben und Vergangenheit, neue Wissensjuwelen (u.a. dass die Feuerwehr brennende Reetdächer nicht etwa mit Wasser löscht, sondern das brennende Reet mit Haken vom Dach holt – nein, ICH wusste das nicht), Entdeckung eines bislang unbekannten Münchner Stadtteils, großes Vergnügen.
Die Nacht war richtig mild – so mild, wie man gut 10 Grad vermutlich nur nach diesem langen, bitteren Winter empfinden kann.
Sonntag
Das mit dem Ausschlafen klappt auch weiterhin nicht, auch nicht nach langen Nächten. Nu, nutzte ich die Gelegenheit noch zu einem kleinen Isarlauf, an dessen Ende ich ein paar Bahnen durchs Krokusmeer des Alten Südfriedhofs schwamm.
Kernschmelze begonnen, keine Kernschmelze in Sicht, Kernschmelze außer Kontrolle, Kernschmelze durch Kühlung verhindert etc. ad inf.
Großes Packen für Besuch bei Eltern: Ich hatte in den vergangenen Wochen mal wieder Kleidung aussortiert (zu eng geworden, hat mir noch nie wirklich gefallen, kann ich nicht mehr sehen, zu eng geworden), die ich wie immer meiner Mutter bringen wollte, auf dass sie sich daran bediene und den Rest dem Altkleidercontainer zuführe.
Voll bepackt im Zug nach Augsburg zu Schwiegermutters Geburtstag, dortselbst Verwandtschaft inklusive meiner Eltern plus Berge von selbst gemachten Kuchen und Torten, darunter sogar astreine Buttercreme.
Autofahrt mit Eltern in die Geburtststadt. Dazu statt Konversation konzentriertes Lauschen auf Radionachrichten. Schwerpunkt auch des Bayrischen Rundfunks: Die Atomkraftwerke, so gut wie keine Informationen hingegen über Opferzahlen, Versorgungslage, Nachbeben.
Abend bei Elterns mit Sondersendungen und Polizeiruf vor dem Fernseher.
Montag
Dank frühem Einschlafen passte bis zum Aufwachen zu Vogelgezwitscher genügend Schlaf (merken!). Geratsche und Geplauder mit meiner Mama über Kaffee und Zeitung, während mein Vater im Fitnessstudio war. Sie machte mir Vorschläge zur Verschönerung meines Schlafzimmers – alle ganz ausgezeichnet. Es wird auf einen Teppich unterm Bett hinauslaufen sowie auf eine Stoffbahn in Bettbreite an der Wand hinterm Bettkopf. Dafür hatte sie mir bereits Stoffe und Teppiche in Katalogen und Wohnzeitschriften herausgesucht.
Der vordergründige Zweck meines Besuchs war aber der Erwerb neuer Aerobicschuhe gewesen (in den alten stehe ich bereits fast zur Hälfte außen neben der Sohle). Nach der 10-Uhr-Sondersendung im ZDF machten wir uns also auf den Weg ins Einkaufs- und Industriegebiet (die Stadt scheint mittlerweile praktisch ausschließlich aus Einkaufs- und Industriegebieten zu bestehen); in einem dortigen Sportgeschäft hatte ich bereits meine jüngsten Laufschuhe gekauft. Doch weder dort noch in einem weiteren Riesenladen vor den Toren der Stadt fand ich wirklich passende Hüpfschuhe – lernte allerdings aus der freundlichen und ausführlichen Beratung unter anderem, dass die halbhohen Aerobicschuhe immer weniger werden, weil der Halt heutzutage aus speziellen Sohlen kommt, und dass meine Einlagen, die ich explizit als Sporteinlagen bekommen habe, genau für Sport ungeeignet sind (rutschige Oberfläche).
Im Regionalzug heim nach München fühlte ich mich wie die in meiner Familie sprichwörtliche tonta del pueblo, so reich bepackt war ich mit spanischen landwirtschaftlichen Lebensmitteln (spanische Freunde meiner Eltern waren gerade aus Andalusien gekommen). An mir hingen Tüten mit Zitronen, Orangen, Chorizo, Morcilla, Schinkenknochen, in einer Hand trug ich einen 5-Liter-Plastikkanister mit Olivenöl aus Urracal (doch, das gibt’s wirklich). Fehlte eigentlich nur noch der Käfig mit den lebendigen Hühnern.
Da ohnehin noch der Putzmann in der Wohnung zugange war (er hatte anlässlich des sensationellen Wetters auch die Fenster geputzt), gab ich dem Turnschuhkauf in der Münchner Innenstadt eine weitere Chance – mit Erfolg. Die nächsten beiden Hüpfjahre sind gesichert.
Vorbereitung des Abends mit Leserunde bei uns. Der zu beredende Roman, Am grünen Strand der Spree von Hans Scholz, erschienen 1955, spielt in einem Berliner Club der Nachkriegszeit, und so stellten der Mitbewohner und ich einige der dort genannten Speisen (Geflügelsalat, Gürkchen) und Getränke (White Lady, Henkell trocken, Canadian Club) bereit, dazu passend Käsespießchen, Cräcker, Salzbrezeln. Einige Mitleser waren zwar nicht rechtzeitig an den vergriffenen Roman gekommen, um ihn überhaupt lesen zu können, ließen sich aber von der Leidenschaft der Fans des Romans mitreißen. Wir feierten, dass es dem Jockey-Club zur Ehre gereicht hätte. Allerdings nicht bis halb acht morgens, sondern nur bis halb elf abends. Die Rolle der ernsten Note spielte das Thema Japan: Vier der Mitlesenden hatten Japan bereist oder sogar dort gelebt.
Zum Roman gibt es hier sicher noch Details, doch vorab schon die Frage an die werten Leserinnen und Leser: Wie finde ich wohl heraus, welcher Verlag die Rechte an Hans Scholz, Am grünen Strand der Spree – So gut wie ein Roman besitzt? 1955 kam er bei Hoffmann und Campe heraus. Ich würde zu gerne eine Neuauflage anregen – wohl wissend, dass die Stimme einer einzelnen begeisterten Leserin wenig ausrichten kann.
die Kaltmamsell11 Kommentare zu „Ein langes, dichtes Wochenende“
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15. März 2011 um 12:03
Geht mir genauso. Die Sache mit den Opfern. Ich sitze nun nicht vor dem Fernseher und warte auf Bilder von Leichen, aber es kommt mir so roh vor, sie nicht einmal zu erwähnen. Die Lage für uns hier ändert sich exakt gar nichts. Das Erdbebenrisiko wurde bei Genehmigungen für Atomkraftwerke berücksichtigt – weil dies in einem Fall nicht ausreichend geschah, wurde Mülheim-Kärlich ja nach eineinhalb Jahren Laufzeit für immer außer Betrieb genommen.
Es gibt viele sehr gute Gründe gegen Atomkraftwerke, und eine Neubetrachtung kann nie schaden, aber das gilt in ein, zwei Wochen auch noch. (Und überall kämpfen Initiativen gegen die Verbauung von Alpenbächen durch Wasserkraftwerke, gegen Windräder in blühenden Landschaften, gegen Kohlekraftwerke usw. Auch jeweils mit guten Gründen.)
(Und wo ich jetzt schon mal meine Vorsatz gebrochen habe, zu dem Thema die Klappe zu halten: Sich über die komische Gelassenheit, Ungerührtheit der Japaner zu mokieren, wie es in Nachrichten und Kommentaren geschieht, ist auch daneben. Die sind sicher nicht gelassen, sie wissen nur alle jederzeit, dass so etwas geschehen kann, und dass Hysterie da nicht weiterhilft. Die meisten Japaner werden jederzeit bestätigen, dass ihr Land von seiner Geographie eigentlich nicht zum Bewohntwerden durch so viele Menschen geeignet ist. Sie gehen halt so gut es geht damit um, in Kenntnis der Risiken und natürlich auch in der Hoffnung, davonzukommen.)
15. März 2011 um 13:02
Ich weiß zwar nicht, welcher Verlag die Rechte am Scholzens Roman hat (und ob sie überhaupt einer hat, denn es kann gut sein, dass die Rechte frei sind), kenne aber einen Verlag, der sie gern hätte.
Wenn jemand hier Scholzens Erben oder Nachlassverwalter kennt: Ich würde mich über einen Hinweis freuen!
15. März 2011 um 14:09
Habe von einer Leserin einen Kontakt vermittelt bekommen, ATh, werde dem mal nachgehen.
(Und nachdem ich die Geschichte eben einer Kollegin erzählt habe, kann ich beteuern: Es gäbe sogar ZWEI Leserinnen!)
15. März 2011 um 14:30
Gerade gesehen: über vierzigmal beim großen Online-Kaufhaus angeboten!
15. März 2011 um 18:22
Liebe Kaltmamsell, das mit den lebenden Hühnern hat bei mir mannigfaltige Zugerinnerungen von Deutschland nach Portugal und retour wachgerufen, ebenso Zugfahrten in Portugal. Einmal begleitete uns vom Alentejo zurück nach Lissabon sogar ein lebendiges Ferkel. Ich sah es damals schon in einem Lissabonner Hinterhof, nebst spärlichen Kohlköpfen sein baldig nahendes Ende fristen.
15. März 2011 um 18:26
Da Hans Scholz erst 1988 gestorben ist, das Buch offensichtlich ausser bei Hoffmann & Campe nirgends mehr verlegt wurde, müssten die Rechte immer noch bei HoCa liegen, da der Autor erst 23 Jahre tot ist.
HoCa müsste demnach Ihr Ansprechpartner sein:
Lektorat
Harvestehuder Weg 42 in 20149 Hamburg.
Gutes Gelingen!
15. März 2011 um 21:20
Hier gibt es noch eine begeisterte Leserin!
15. März 2011 um 22:12
******************KOMMENTAROMAT**********************
Gerne gelesen
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15. März 2011 um 22:36
Gelöscht von der Kaltmamsell: Keine E-Mail-Adresse, kein Kommentieren.
16. März 2011 um 17:11
dem kann ich nur beistimmen und hätte auch sehr gerne einmal eine
wiederholung der serie im tv gesehen – ich habe Elisabeth Müller – die
ja die weibliche Hauptrolle spielt vor jahren in der Schweiz kennen gelernt –
sie war wirklich eine zauberhafte Frau und Schauspielerin – und ist leider wie
so viele bei uns total vergessen – wie auch ihr partner Peter Pasetti…
17. März 2011 um 16:41
Gelöscht von der Kaltmamsell: Keine E-Mail-Adresse, kein Kommentieren.