Journal Mittwoch, 20. April 2011
Donnerstag, 21. April 2011 um 9:37Um halb fünf von gellenden “Aiuto!”-Schreien einer Frauenstimme draußen geweckt worden. Als ich noch meine schlaftrunkenen Gedanken sortierte, ob ich den Bademantel überwerfen und nachsehen sollte, hörte ich, dass die Rufe in eine normale Unterhaltung mit Gelächter übergegangen war. Mal sehen, wie oft sowas (auch außerhalb des Oktoberfests) passieren muss, bis ich es konsequent ignoriere und mir nie mehr Sorgen mache.
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Im Büro erst mal eine Kanne Tee gemacht – wie an jedem Schreibtischvormittag. Dazu hole ich mir heißes Wasser an der zentralen Kaffeemaschine, für meinen Grüntee oder Kräutertee braucht es nicht wirklich kochend heiß zu sein. Gestern gab es Jasmintee.
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Emsiges Werkeln, zwei Besprechungen im Haus, zu einer weiteren fuhr ich im Taxi. Auf dem Heimweg Lektüre im Buchladen abgeholt: Nachdem ich in den vergangenen Monaten meinen Meter vorhandener ungelesener Bücher kleiner gelesen hatte, gönnte ich mir ein Dutzend neuer Bücher.
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Für die Theaterbesuche in den Kammerspielen verkleide ich mich ja gerne als Provinztheaterabonnentin. Das fällt mir nicht schwer: Meist brauche ich nur das Bürokleid anzubehalten und mit meiner Abendtasche zu ergänzen – schon sehe ich nach Ingolstädter Stadttheater aus, Platzmiete D. (In zehn Jahren werde ich mich allerdings um schwarzen Rock, weiße Bluse und silberfarbene Häkelstola kümmern müssen).
Gestern wurde im Werkraum XY Beat von René Pollesch gegeben, ein ganz frisches Stück, erst letzten November uraufgeführt. Pollesch hatte mich bereits vor zwei Jahren mit seinem Ping Pong d’Amour verwirrt. Auch diesmal astreines absurdes Theater auf der Metametameta-Ebene, aber diesmal mit dem Mantrathema Annäherung ans Leben. Vier Leute führten in wechselnden Rollen Treppenhausgespräche, selbstverständlich in einem Bühnenbild, das nach allem aussah, nur nicht nach Treppenhaus (der Autor inszenierte selbst): Der gesamte Werkraum war mit lila Teppich ausgekleidet, das Publikum saß an drei Seiten des Raums auf zwei Ebenen, in der Mitte ein Podest, an der vierten, publikumsfreien Seite, ein dunkelila Vorhang. Die vier Schauspieler waren in wechselnde Kostüme gekleidet, die ebenso selbstverständlich nach allem aussahen, nur nicht nach Kleidung, die man im Treppenhaus trägt.
Den Rahmen bildeten zwei raumgreifend gespielte Monologe mit nur angedeutetem Bezug zu den Treppenhausgesprächen, dargeboten vom ganz erstaunlichen Fabian Hinrichs. Alle Darsteller mussten überwältigende Mengen Text sprechen, dessen Sinnhaftigkeit dem melodiösen Zusammenhang von Zwöltonmusik entsprach – rein handwerklich eine beachtliche Leistung, selbst wenn sie Souffleur Viktor Herrlich regelmäßig um Hilfe bitten mussten. Ein 80-Minuten-Rausch an Wörtern, Licht und Bewegung – ziemlich Roncalli.
Deutlich greifbarer und inspirierender fand ich das Publikum, das ich durch die Sitzordnung ausführlicher betrachten konnte als sonst im großen Theatersaal. Etwa ein Drittel sah wie junges Berliner Volk aus: Die Männer mit Wollmütze, Vollbart und engen Hosen, die Frauen in ungebügelten Tüftelikleidern mit dicken Strumpfhosen, Stiefeln, Baumwollschals. Irgendwelche Stereotypen flüstern mir ein, dass es sich bei diesem Menschen wohl um Theatervolk handelt, also um Theaterwissenschaftsstudenten, Schauspielschülerinnen, Literarturstipendiaten. Wie komme ich da bloß drauf? Etwa 20 Prozent des Publikums sahen wie ich nach spießigem Provinzbildungsbürgertum aus, weitere 30 Prozent schätzte ich als betuchte Bildungsbürgerrenter ein, vielleicht sogar mit ein wenig künstlerischem Hintergrund. Der Rest fiel dazwischen.
die Kaltmamsell6 Kommentare zu „Journal Mittwoch, 20. April 2011“
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22. April 2011 um 7:40
Liebe Kaltmamsell,
was sind denn Tüftelikleidern?
22. April 2011 um 7:45
Na, Nathalie, das sagt doch das Wort schon (das tatsächlich eine Abkürzung von Tüftelimüftelikleider ist): flattrige Fähnchen, gerne mit der einen oder anderen Rüsche oder Franse.
22. April 2011 um 17:21
Gebe gerne zu, daß ich auch den Ausdruck Tüftelimüftelikleid nicht kenne. :-)
Danke für die Erklärung!
22. April 2011 um 18:34
Konntest du auch nicht, das Wort hat meine damalige Freundin Gunda in den 80ern erfunden.
2. Mai 2011 um 0:33
ich mag solche tüftelkleider, und ich hab theaterwissenschaft studiert. ich genier mich jetzt grade, so präzis ins klischee zu passen. darf ich mir trotzdem eventuell gelegentlich die wundervolle klassifizierung “ziemlich roncalli” ausleihen?
2. Mai 2011 um 7:25
Ha, queenofsoup: Ich WUSSTE es! (Natürlich gerne.)