Spanien im Mai 2011
Sonntag, 22. Mai 2011Noch bin ich recht verwirrt von dem, was da gerade politisch in Spanien passiert (und was gestern bis auf den Sendlinger-Tor-Platz in München schwappte). Auch von der Berichterstattung in deutschen etablierten Medien, die erst vier Tage nach Beginn der Proteste eingesetzt hat. (Ein sehr guter Hintergrundartikel hier bei den Netzpiloten.) Ich beteilige mich hiermit an dieser Verwirrung durch die Lieferung einiger ungeordneter Informationsschnipsel.
Mein Vater ist Spanier, also habe ich einen etwas persönlicheren Blick auf das Ganze – allerdings keineswegs den Fachhintergrund für Expertentum. (Anders als Alexandros Stefanidis, der als griechischer Einwanderer zweiter Generation seinen familiären Hintergrund zur Kernkompetenz ausgebaut hat, dafür interessiere ich mich einfach zu wenig für Spanien.).
Spanien ist ein demokratischer Staat – jaja, genau genommen eine parlamentarische Monarchie, doch Don Juán Carlos de Borbón hat sich nach 1975 ziemlich ins Zeug gelegt, die obrigkeitshörigen Schafe der Franco-Diktatur zum Glück demokratischer Prozesse zu bringen, mit unbeirrbarem Druck. Die spanische Verfassung ist eine Mischung aus US-amerikanischem und deutschem Föderalismus, der die Verfassungsmacher seinerzeit viel Spielraum zur dynamischen Entwicklung gaben. Die Spanier haben sie mit den Jahren eher Richtung US-amerikanischem Modell verändert, mit immer unabhängigeren Regionen (dass Katalonien 1994 Kastilisch als Schulsprache durch Katalanisch ersetzt hat, wissen Sie? hier ein wenig Hintergrund).
Nicht nur dieses Detail hat der spanischen Demokratie ein ganz eigenes Profil gegeben. Aus meiner Beobachtung gehört dazu auch die Freude, mit der vom Recht auf öffentliche Meinungsäußerung Gebrauch gemacht wird: Der Spanier demonstriert gerne, und zwar Spanier jeglicher politischer Orientierung. Während Demonstrationen in Deutschland fast völlig von links ausgerichteten Menschen betrieben werden und ansonsten von Rechtsextremisten (weswegen die öffentlichen Proteste gegen den neuen Stuttgarter Bahnhof solches Aufsehen erregten), sehen wir in Spanien alle politischen Ausrichtungen auf der Straße, auch konservative – zum Beispiel Tausende gegen die Einführung der Schwulenehe, darunter sauber ondulierte feine alte Damen. Auch wenn sie nicht meine Ansichten vertraten, hat mich der Anblick damals sehr gefreut, nahm ich ihn doch als Symptom für eine gesunde Demokratie.
Es ist sicher kein Zufall, dass es Spanier waren, die bereits 2006 das Manifestómetro entwickelten, mit dem sich mit Hilfe von Luftaunahmen und Videos endlich die Teilnehmerzahlen von Demonstrationen unparteiisch messen lassen. Demnach gab es am 16. Mai um 19 Uhr auf der Puerta des Sol in Madrid etwa 15.000 Demonstranten.
In diese Demonstrationsfreudigkeit ordne ich durchaus auch die jetzigen Proteste ein – und bin schon sehr gespannt, was daraus wird. Denn Spanien ist eine echte Demokratie: Wenn daraus über die Jahre ein Zweiparteiensystem wurde, haben das die Wähler angerichtet. Die Linke befindet sich in einem Zustand der Zersplitterung, wie wir Akademikerinnen es aus Uni-Zeiten kennen und wir Historikerinnen aus dem spanischen Bürgerkrieg. Ich kann mich noch erinnern, welche Lacher 1986 die Gründung der „Izquierda Unida“ auslöste, also der „Vereinigten Linken“ – wenn es je ein schönes Beispiel für Oxymoron gab, dann das.
Doch es ist meiner Ansicht nach die fortschreitende regionale Zersplitterung, die die Aktivierung einer schlagkräftigen Opposition am stärksten erschwert. Die politische Basis scheint mir in erster Linie damit beschäftigt, Unterschiede zwischen den autonomen Regionen untereinander und zur Zentrale herauszuarbeiten und auszuschlachten. Eine Ahnung von Schließung der Reihen sehe ich überregional allerhöchstens, wenn mal Herr König vorbeikommt, die Regionalparlamente gegen Madrid motzen können und bei der Gelegenheit eine eigene Stimme in Brüssel fordern.
Will sagen: Jungs, Mädels, (¡hija!, ¡macho!), Ihr werdet Euch entscheiden müssen. Jedem Quadratkilometer seine eigene Sprache, Straßenbeschilderung und autonome Verwaltung – oder eine gemeinsame Basis, mit der Ihr im spanischem Parlament und auf europäischer Ebene die großen Dinge beeinflussen könnt.
Hier eine Live-Kamera zum Madrider Platz Puerta del Sol, der gerade von Demonstranten besetzt ist (schaut ja gar nicht schön aus – was werden da die ondulierten abuelas sagen?):