Ein Nachdenken in drei Kapiteln.
1. Hans Fallada, Jeder stirbt für sich allein und meine polnische Oma
Meine polnische Oma selig unterteilte die Männerwelt in „guede Männä“ und „Lumpe“ (darunter war der Bodensatz „g’suff’ne Mannsbild“). Meiner Mutter und mir gratulierte sie immer wieder dazu, dass unsere Ehemänner zur ersten Sorte gehörten, hin und wieder lobte sie uns explizit für unsere umsichtige Wahl des Lebenspartners.
Was sie damit meinte, begriff ich erst durch die Lektüre von Hans Falladas Jeder stirbt für sich allein. In dieser Welt Ende der 1930er bis Mitte der 1940er war meine Oma ein junges Mädchen und eine junge Frau, aus dieser Zeit hatte sie ihre Sicht auf die Menschen.
Der Fallada-Roman ist voll von armen Leuten. Davon sind viele Schlawiner und Haderlumpen, Tagediebe, die sich von wechselnden Frauenbekanntschaften durchfüttern lassen, Kleinkriminelle, die keine illegale Gelegenheit des Gelderwerbs auslassen und notfalls die eigene Ehefrau bestehlen, wieslige Handlanger der Mächtigen, die von Spitzeldiensten leben. Kurz: viele Lumpen. Ich konnte mir sehr gut vorstellen, wie meine Oma in jungen Jahren gelernt hatte, sich vor diesen Männern zu hüten, vor allem, wenn sie auch noch soffen.
Doch unter den armen Leuten bei Fallada sind auch anständige Menschen, tüchtig, fleißig, ordentlich. Die Abgrenzung zu den Lumpen war in dieser Zeit so klar, dass Fallada sie in seinem Roman nicht explizit erklärt – wo er ansonsten in Jeder stirbt für sich allein doch alles und jedes erklärt und durchleuchtet. Arm waren sie auch. Doch die Guten machten sich nützlich, waren bedacht und sorgsam, achteten auf sich und ihr Hab und Gut, haushalteten, sahen hauptsächlich sich selbst in der Verantwortung für ihr eigenes Wohlergehen – das gute alte protestantische Arbeitsethos.
Ob jemand an seiner Situation selbst schuld war, ob ihm ein Staat helfen sollte, waren damals keine Themen. Zum einen gab es eine große Gemeinschaft von Armen, die die Zugehörigkeit zu dieser Schicht als etwas Schicksalhaftes sahen. Zum anderen gab es nicht das gemeinschaftliche Ziel, reich zu werden – im Gegenteil: Diesen Wunsch hatten nur die Lumpen, die Faulen. Auch in dieser Haltung erkenne ich meine polnische Oma wieder.
2. Arme Leute – reiche Leute
Zu Falladas Zeiten waren die Wünsche der kleinen Leute bescheiden: Genug Nahrung, um jeden Tag satt zu werden, genug Möbel und Ausstattung für eine behagliche Wohnung, dazu Gesundheit und körperliche Unversehrtheit. Reichtum hingegen war kein verbreitetes Ziel. Das ist heute anders geworden. Der Mitbewohner bot mir letzthin als Erklärung dafür die Demokratisierung der Gesellschaft an: Vor 80 Jahren akzeptierte fast jeder Hierarchien und dass es nun mal reiche Leute und arme Leute gab (Unmut und Groll auf diese reichen Leute eingerechnet). Die Ideale der Französischen Revolution von Freiheit und Gleichheit sind in Deutschland wohl erst durch die Demokratisierung der Nachkriegszeit wirklich Konsens geworden. Nun beansprucht jeder die Möglichkeit für sich, zu den Reichen zu gehören (die USA räumen den pursuit of happiness schon länger jedem ein).
Sibylle Berg wunderte sich kürzlich in ihrer Spon-Kolumne, warum Intellektuelle heute nicht mehr geschätzt würden, sondern:
Die achtziger Jahre leiteten (…) einen Wertewandel im großen Stil ein. Bei einer Bank zu arbeiten, war plötzlich nicht mehr denen vorbehalten, die es anderenorts zu nichts Gescheitem gebracht hatten. Der Kapitalismus hatte mit dem Zusammenbruch der verzagten Gegenversuche endgültig gewonnen, und befand sich auf der Geraden zur eigenen Explosion, die in Kürze bevorsteht. Gesellschaftlich respektiert werden unterdes nur noch Menschen, die es zu was, sprich: zu Geld gebracht haben. Die kollektiven Vorbilder sind Superreiche, und deren durch die Inflation der Yellow Press für alle erreichbar scheinenden Lebensmodelle, die Helikopter, goldene Wasserhähne und Speedboote beinhalten.
Auch das ließe sich mit der oben beschriebenen Demokratisierung erklären. Während früher(TM) ausgemacht war, dass nur Menschen einer bestimmten Herkunft ein Anrecht auf Reichtum und ein bequemes Leben haben, sorgte der Gedanke der Demokratie dafür, dass alle dieses Recht für sich beanspruchen. Dass angeborene Hierarchie nicht mehr akzeptiert wird, ist doch eigentlich eine gute Sache – die halt ihren Preis hat.
3. Armut zu meinen Kinderzeiten
Schon länger fühle ich mich unwohl beim Umgang mit dem Begriff „Armut“ in den heutigen Medien, vielleicht sogar in unserer heutigen Gesellschaft. Eigentlich besagt er doch lediglich, dass ein Mensch wenig materielle Güter besitzt. Unwohl wird mir bei den Schlussfolgerungen und Implikationen: Meist werden damit undifferenziert gesellschaftliche Randexistenz, Bildungsferne und Arbeitslosigkeit gleichgesetzt. Damit einher geht die Annahme, man müsse lediglich die materiallen Güter dieser armen Leute vermehren und sorge damit für gesellschaftliche Integration, Bildung und Arbeitseinsatz. Das ist meiner Überzeugung nach eine gefährliche Vermischung von nur bedingt voneinander abhängigen Erscheinungen.
Leider sind meine Argumente anekdotisch: Ich bin halt unter armen Leuten aufgewachsen. Doch damals, in den 60er und 70ern, bedeutete das etwas ganz anderes als heute.
Ich rufe mir die Umgebung vor Augen, in der ich groß geworden bin: In einem sehr einfachen Arbeiterviertel einer zentralbayerischen Provinzstadt. In erster Linie wohnten in diesen Neubaublöcken, die Ende der 60er, Anfang der 70er zwischen Vorstadt und großer Fabrik gebaut worden waren, die Familien der Arbeiter dieser Fabrik. Doch es gab dort auch richtiges „G’schwerl“, so die Dialektbezeichnung für Asoziale: In einen der Wohnblöcke hatte die Stadt Familien einquartiert, die bis in die 1960er die Nachkriegs-Notwohnungen im Kavalier Hepp behaust hatten. Wir Kinder hatten deshalb immer Umwege um diesen heruntergekommenen Festungsbau gemacht: Jederzeit konnten einen daraus kläffende freilaufende Hunde oder böse Buben anspringen. Auch wenn inzwischen das Stadtmuseum in dem Gebäude untergebracht ist, habe ich bis heute bei dem Anblick ein ungutes Gefühl.
Sie können sich also vorstellen, dass da niemand viel hatte. Zudem, und das ist keine zwingende Folge, richtete sich das Wertesystem dieser Leute nicht daran aus, was jemand besaß. Ob jemand höher oder geringer geschätzt wurde, hatte eher folgende Kriterien:
– Kann die Familie gut haushalten? (Verschwendung wurde als schlecht erachtet.)
– Sind die Kinder sauber, frisiert, ordentlich angezogen?
– Achten die Eltern auf regelmäßigen Schulbesuch ihrer Kinder?
– Gibt es etwas Anständiges zu essen?
– Trägt die Familie gepflegte, saubere, anlassgemäße Kleidung?
– Wird einmal am Tag gemeinsam gegessen (die Männer arbeiteten ja alle Schicht)?
– Sind die Kinder behütet? (Ist für Aufsicht gesorgt? Da konnte ja durchaus die Nachbarin oder Hausmeisterin einspringen. Rennen die Kinder nicht bei Dunkelheit allein herum? Kümmert sich jemand um sie, wenn sie krank sind?)
– Haben die Kinder Umgangsformen?
– Erfüllen die Familien ihre Gemeinschaftspflichten? (Treppendienst, kein Zeug draußen herumliegen lassen)
Zum guten Ton im Leben dieser armen Leute gehörte auch, dass die Mütter untereinander Kinderkleidung und Tipps zum Selbernähen austauschten. Dass die Väter den Kindern Spielzeug bastelten. Dass auf Anschaffungen erst gespart wurde, bevor man sie kaufte – Schulden waren verpönt.
Unter diesen kleinen Leuten bedeutete Armut keineswegs Antriebslosigkeit, fehlenden Ehrgeiz, schlechte Umgangsformen, vernachlässigte Kinder. Daher mein Verdacht, dass diese Probleme andere Ursachen als fehlendes Geld haben, also auch nicht durch höhere finanzielle Unterstützung zu beheben sind. Ich kann mir auch vorstellen, dass heutzutage viel Leid durch Armut im Vergleich mit der Umgebung entsteht: Wenn man auf dem Volksfest die einzige in der Clique ist, die nur fünf Euro im Geldbeutel hat, schmerzt das. In meinem Fall musste die ganze Clique mit je fünf Mark rumkommen, das war halt so.
Wie sieht das heute aus? Gibt es diese Art kleiner Leute überhaupt noch? Ist das Wertesystem meiner Kindheitsumgebung abgelöst worden von der Sehnsucht nach Ruhm und Reichtum?
Selbst bewege ich mich halt nicht mehr unter armen Leuten: Meine Gastarbeitereltern haben hart geschuftet, um mir das zu ermöglichen. Die armen Familien, die ich noch selbst kenne und die ich zu meiner Gesellschaftsschicht zähle, sind Künstler, zum Beispiel klassische Musiker mit vielen Kindern: Sie achten auf die Bildung ihrer Kinder, halten ihr Zeug zusammen und pflegen es, achteten auf das nicht-materielle Wohlbefinden ihrer Kinder. Auch bei ihnen bedeutet Armut keineswegs Randexistenz.