Bachmannpreis 2011, der Freitag
Freitag, 8. Juli 2011 um 18:31Mein zweiter Klagenfurttag bestand vor allem aus Überforderung: Ich hörte Texte, die ich langweilig fand oder bis zur Unverständlichlichkeit verquast, und bekam dann von der Jury erklärt, dass ich Zeugin von „unerhört schönen Metaphern“, einem „makellosen Text“ oder einem „erotischen Verhältnis zur Sprache“ geworden war. Es ist sicher entscheidend, dass die Mitglieder (und „Mitgliederinnen“ – Zitat aus der gestrigen Bürgermeisterempfangsrede) der Jury die Texte vorher gründlich lesen konnten.
§
Dabei beginnt alles vielversprechend: Linus Reichlin liest, vorgeschlagen von Meike Feßmann, „Weltgegend“. Er erklärt, das seien die ersten drei Kapitel eines Romans. Eine spannende, unterhaltende Geschichte auf einem erzählerischen und inhaltlichen Niveau, wie ich es sonst nur aus der englischsprachigen Literatur gewohnt bin. (Herr Reichlin war mir in den vergangenen beiden Tagen bereits drei, vier Mal aufgefallen: Sein Gebaren war so g’schaftig1 gewesen, dass ich ihn für einen Mitarbeiter des ORF gehalten hatte.)
Winkels lobt den Mut, in der deutschen Literaturwelt ein Buch in einem Gegenwartsthema anzusiedeln, zu dem jeder eine Meinung habe. Dann aber behauptet er, von der Intensität der Situation sei nichts zu spüren, die Geschichte gleiche einem Kammerspiel. Zudem sei die Basis für eine griechische Tragödie gelegt, diese werde jedoch nicht eingelöst. Sulzer freut sich, dass das gestrige Feld der Familie verlassen wurde. Jandl sieht sich einer Kolportage gegenüber. So streng würde Strigl nicht sein, vermisst aber den Inhalt zwischen den Zeilen, den zum Beispiel ein Farewell to Arms von Hemingway schafft. (Na, wenn eine Kriegsgeschichte nur im Vergleich zu Hemingway verliert, kann sie durchaus exzellent sein.)
Vorschlägerin Feßmann erklärt, die Geschichte sei ausgezeichnet erzählt, enthalte interessante Figuren und behandle „endlich ein ernsthaftes Thema“. Dann geht es noch eine Weile um Techniken des Spannungsaufbaus in der Tradition klassischer Hard-boiled-Novels (Detektiv wacht nach „Schlag auf den Nüschel“ neben Leiche auf – Spinnen), des pikaresken Romans (Khalili als Trickster-Figur – Keller), des sonntäglichen Tatorts (souveräner Autor, der immer die Kontrolle behält – wieder Spinnen), der kompletten Leserlenkung (Leser weiß mehr als die Figur – Jandl).
§
Maja Haderlap, mitgebracht von Daniela Strigl, kündigt im Portraitfilmchen bereits an, dass ihre Geschichte sehr persönlich und autobiographisch sei. Leider merkt man das ihrem „Im Kessel“ deutlich an. Ich höre einen Text voller Naturbeschreibungen mit hinkenden Vergleichen, dazu unmotiviert auf- und abtretende Verwandte, von einem mittelkleinen Mädchen aus Ich-Perspektive beschreiben. Die erste Hälfte über warte ich noch darauf, dass die Geschichte beginnen möge, doch es bleibt bei einer pointenlosen Aneinanderreihung von Szenen mit oft unbeholfener Vermittlung von Informationen und ausgesprochen wackliger Grammatik. (Fester Vorsatz, dass ich mich gründlich mit den Regeln der indirekten Rede vertraut mache, um nicht in dieselben Fallen wie Haderlap zu treten.)
Ganz falsch, erfahre ich von der Jury. Keller hat die Geschichte gut gefallen, unter anderem wegen ihres langsamen, gemächlichen Rhythmus’ und dem Hinführen auf eine größere Geschichte. Für Sulzer war es gleich ein „makelloser Text“, dessen große Landschaftsmetaphern am Anfang „öffnen auf die Seele des Mädchens“. Jandl hatte drei Ebenen gefunden: Partisanenkampf der Slowenen im Zweiten Weltkrieg, das heranwachsende Mädchen und die Autobiographie der Autorin – mit „feinen sprachlichen und poetischen Nuancen“ und „präzise gearbeiteten Bildern“. (Mittlerweile bin ich völlig verdattert.)
Es ist dann Feßmann, die bei allem „Respekt vor der Ruhe und Unaufgeregtheit – als Deutsche allemal“ das Niveau erheblich tiefer ansetzt und das Thema schon erheblich besser behandelt gelesen hat. Für sie ist der Text etwas aus einem „persönlichen Archiv“, weiter nichts. Winkels stimmt ihr zum Teil zu, ihm sind erzähltechnische Unplausibilitäten aufgefallen.
Doch schon Strigl sieht wieder den Wald „mit großartiger Schlichtheit zum Erzählraum eröffnet“ (das mit dem Raum kam gestern und heute auffallend oft – hat man das derzeit in der Rezeption?). Der Wald überwuchere alles, auch die Familiengeschichte. Spinnen gefällt die Geschichte ebenfalls sehr gut, ihm geht die innere Entwicklung des Mädchens allerdings erzählerisch zu schnell.
Wohl doch eine Preiskandidatin.
§
Gegen Julya Rabinowich bin ich persönlich vorbelastet, weil sie sich gestern am Büffet ausgesprochen dreist und divenhaft vordrängelte. Ich hoffe aber, dass ihre Schreibe besser ist als ihre Kinderstube. Ihr „Erdfresserin“ ist – Überraschung – Auszug aus einem Roman und wurde von Daniela Strigl vorgeschlagen.
Die Geschichte hätte mir besser gefallen, wenn sie nicht schon wieder eine Ich-Erzählerin geboten hätte. So fasziniert mich zwar die originelle Mischung aus Surrealem, Gastarbeiterin aus Osteuropa, Aggression und heißer Großstadt, lässt mich aber insgesamt ratlos zurück.
Wieder muss mir die Jury erklären, was da gerade passiert ist. Laut Winkels wurde mir eine Frau in verschiedenen mythischen Dimensionen geboten. Feßmann spricht von einem „weiblichen Intensivtext“ (die Jury liefert mir viel mehr aufhebenswerte Wörter als die Autoren) um den „weiblichen Ekel vor dem männlichen Körper“. Strigl findet den Text merkwürdig, mag aber die „explosive Aggressivität“, mag die zentrale Figur, die so ganz ohne Wehleidigkeit sei, sich selbst in den schwärzesten Farben male, kann allerdings ihre Familiengeschichte nicht recht unterbringen.
Es ist Sulzer, dem es anscheinend trotz mehrfachem Lesen ging wie mir: Er findet den Text schwierig und hat seine Schwierigkeiten mit ihm. Jandl aber findet ihn im Gegenteil sogar besonders einfach: Er biete eine solche Vielzahl an Motiven, dass sich jeder eines davon aussuchen könne. Laut Spinnen ist der Text „als Story und Plot eigentlich toll“, er stört sich aber daran, dass er „so wahnsinnig hochinstrumentalisiert“ sei. Er sieht den Text als noch nicht fertig an und hofft, dass die Autorin nicht zu sehr an ihm hängt, um ihn nicht noch zu überarbeiten. Strigl wiederum findet gerade den Detailreichtum großartig.
Nach der Diskussion bin ich bereit, die Geschichte zu mögen. Vielleicht lese ich sie dereinst als Roman.
§
„Der Biber ist einer, der die Welt in die Hand nimmt,“ schließt Nina Bußmann ihren Vorstellungsfilm und ich hoffe inniglich, dass sie sich der Komik dieses Satzes bewusst ist (hey, Aleks Scholz hat letztes Jahr über Hunderennen salbadert philosophiert gesprochen). Ihre Geschichte „Große Ferien“ ist die Empfehlung von Paul Jandl.
Schnell stellt sich heraus, dass die Figur im Mittelpunkt Oberschullehrer ist; als Oberstudienratsgattin nehme ich sofort die Schilde hoch, Schutz vor den üblichen Angriffen und Klischees. Doch es kommen ganz andere Klischees als derzeit gewohnt, eher welche aus den 50ern. Ich werde aus der Hauptperson nicht schlau. Wenn sich die Charakterisierung tatsächlich auf Wohnen bei Muttern, Unkrautjäten und Schneckenvernichtung beschränkt, ist sie ein reiner Scherenschnitt – das passt aber nicht zu dieser Art von Schreibübung.
Außer… Außer ich hätte die Geschichte einfach ein paar Mal gelesen – wie die Jury. Feßmann: „Genau gearbeitet“, „genau gedacht“. Sie verblüfft mich mit der Entdeckung des Grundgedankens der Geschichte: Die Wahrheit ist nicht unbedingt zugänglich. (Hier bitte ein Loriot’sches „Ach.“ einfügen.) Auch Winkels hat die Geschichte gefallen, unter anderem weil das Rätsel, ob da was Homoerotisches war, nicht aufgelöst werde.2
Vielleicht hat Sulzer den Text ja nicht vorher gelesen, denn er stolpert wie ich über die Klischeedarstellung des Mutter-Sohn-Verhältnisses. Spinnen sieht eine ganze Reihe von Klischees, die Schule sei „ein Schattenspiel mit unendlich stark vorgeprägten Rollen“, die Figuren seien abstrakt.
Doch da kommt wieder Keller, die von der „sprachlichen Dimension“ schwärmt, von „unerhört schönen Metaphern“: „Es erfüllt sich etwas Existenzielles.“ Und Strigl sieht ein „Rückzugsgefecht aus der Perspektive des Lehrers“, „in vielen Details schön erzählt“. Allerdings bemängelt sie schiefe Metaphern. Auch Jandl sieht einen „klugen Text“, der genau wisse, was er wolle und seine Ordnungsmetaphern mit „enorm genauer Sprache“ baue, und da ist sie, die „erotische Sprache“.
§
Das alles war allerdings ein Ponyhof gegen den Abschlusstext des Tages: Steffen Popp, der ganz anders aussieht als auf dem Autorenphoto, liest fast betonungslos „Spur einer Dorfgeschichte“, vorgeschlagen von Feßmann.
Als in der Jurydiskussion das Stichwort „Lyrik“ fällt, erkenne ich mein Problem: Dieser Text kommt nur zufällig nicht in einer schmalen Spalte daher, eigentlich ist er ein Gedicht. Und Gedichte kann ich nicht (dasselbe gibt übrigens Sulzer zu – ich weiß nicht, ob ich mich deshalb mehr oder weniger mit ihm identifizieren). Will heißen: Ich verstehe fast kein Wort, habe im Gegenteil den Eindruck, dass jemand mir Leser-Ochs vorm Berg eine Geschichte als Karotte vor die Nase hält, mir sie aber auch nach 15 Kilometern im Schweinsgalopp durch Satzfragmente, wechselnde Erzählperspektiven, krause Formulierungen, überflüssig neu erfundene Wörter nicht zu fressen gibt. (Ich kann nämlich AUCH schiefe Metaphern.)
Die Jury (mit Ausnahme von Sulzer) hingegen sieht sich großer Kunst gegenüber. Strigl rühmt die Spurensuche, auch auf kriminalistischer Ebene, ist beeindruckt von der „sozialen Kartographie“, Winkels mag, dass wir ein „Halbfertigprodukt“ bekommen haben, das erst durch den Leser fertiggestellt wird, sieht eine „Leichtigkeit des Aufreihens“. Keller freut sich über den „großen Eigensinn“, mit dem der Text „komponiert“ sei, dabei auf eine Regie verzichte. Allerdings rügt sie, dass sie nicht sehe, was den Text trägt. Feßmann, die ihn ja mitgebracht hat, überschlägt sich: Ein ungeheuer dichter Text, bei dem jeder Gedanke, jedes Wort sitze. Spinnen stimmt ihr zu, sieht in der „großen rhythmischen Sicherheit“ einen Jazzmusiker, sieht große Virtuosität, kritisiert lediglich, dass seine intellektuellen Fähigkeiten als Leser außen vor gelassen würden.
Jandl findet es das „legitime Anliegen der Literaten“, dem Leser Arbeit zuzumuten. Er habe beim mehrfachen Lesen immer neue Motive, poetische Bilder gefunden, „wie ein gewebter Teppich“. (Sag’ ich ja: Lyrik. Und ich habe gar kein Problem damit, mich für Romane anzustrengen, zum Beispiel die von William Faulkner.)
Nur Sulzer hat wie ich Probleme mit der Austauschbarkeit der drei Personen, dem Text gehe es nur um den Rhythmus.
§
Anschließend spaziere ich, wegen der Hitze sehr langsam, in die Innenstadt und hole mir als Mittagsmahlzeit die vermutlich größte Eisportion meines Lebens. Wer kann denn ahnen, dass im Eiscafé Alter Platz vier Kugeln Eis ein gutes Pfund ergeben?
- das hochdeutsche geschäftig ist nicht ganz dasselbe [↩]
- Sehen Sie: Jetzt bin ich verunsichert. Ich hatte immer angenommen, dass ein untergeordneter Satz in der indirekten Rede nicht in den Konjuntiv gesetzt wird, weiß aber nicht mehr, woher ich das habe. [↩]
11 Kommentare zu „Bachmannpreis 2011, der Freitag“
Sie möchten gerne einen Kommentar hinterlassen, scheuen aber die Mühe einer Formulierung? Dann nutzen Sie doch den KOMMENTAROMAT! Ein Klick auf einen der Buttons unten trägt automatisch die gewählte Reaktion in das Kommentarfeld ein, Sternchen darüber und darunter kennzeichnen den Text als KOMMENTAROMAT-generiert. Sie müssen nur noch die Pflichtfelder "Name" und "E-Mail" ausfüllen und den Kommentar abschicken.
8. Juli 2011 um 19:02
Auf Wunsch der Kommentatorin gelöscht von Kaltmamsell 10.7.2011
8. Juli 2011 um 19:48
Ich habe nur die Biberfrau live gesehen – wg. deines Twits. Etwas Bemühteres ist mir selten untergekommen. Scheint, als würde nur akzeptiert, was komplizierte – man kann durchaus sagen – gequirlte Kacke ist. Je gequirlter, desto besser. Hemmingway wäre bei dieser Jury wg. “Kinderniveau” durchgefallen. Da bin ich mir sicher. Sind ja selbst der reinste Durchfall. Dein Text hat meine Zeit gelohnt. Die Liveschaltung ganz sicher nicht. Ich konnte mir nicht mal Ihren Namen merken, nur das eigenartige Gesicht beim Lesen im Stehen. Ich würde sogar eine Theorie wagen: wer selber arge Probleme mit dem Leben und der Welt hat, sollte niemals versuchen diese öffentlich unter Gewaltandrohung an der Sprache abzuarbeiten.
8. Juli 2011 um 21:36
Gibt’s von dem Bachmann-Olympia auch Filmchen?
8. Juli 2011 um 21:39
P.S.
hab’s schon selber gefunden:
http://bachmannpreis.eu/de/audio_video/3319
(gleich mal die Buffet-Diva gucken)
8. Juli 2011 um 21:51
haha – ah!
Dafür hat der liebe Gott das schöne Wort verschwurbelt erfunden.
Da ich noch nicht viel sehen konnte, war auch eine charismatische Bühnenpersönlichkeit unter den lesenden Autoren? So jemand, wo alles gestimmt hat? Text, Stimme, Diktion, Aura?
8. Juli 2011 um 21:58
So unterschiedlich sind die Wahrnehmungen. Ich fand de Steffen Popp – abgesehen von seinem Vorlesestil – atemberaubend gut. Die Diva gefiel mir mir, wegen ihrer Leidenschaft – da kann es schon mal vorkommen, dass am Büffet ein paar Opfer das Nachsehen haben.
Maja Haderlap scheint einen uns unbekannten Bonus zu besitzen, der weit über ihre Lokalmatadorinnen-Position hinaus geht, anders kann Mensch das verwucherte Präsenz-Vergangenheits-Gestrüpp ihres Erzählwaldes nicht deuten.
Für mich war es heute ein Frises Lesevergnügen.
8. Juli 2011 um 22:01
Bin einigermaßen ratlos aus welchem Wort die Autokorrektur ein Frises Lesevergnügen macht.
8. Juli 2011 um 22:46
Wunderbar! Das ist ja spannender als ein Frauenfussballspiel hier. ;-)
Ich habe den Bachmann-Wettbewerb immer nur von fern verfolgt, heftig fremdelnd.
Alles wie weggeblasen. Ich freu mich schon auf die nächste Folge.
Danke, Frau Kaltmamsell.
8. Juli 2011 um 22:56
Die Praßler-Diskussion wäre bislang mein Anspieltipp (ihre Leserei vorher weniger).
Von den Autorenportraitfilmchen gefällt mir bis jetzt der von Linus Reichlin am besten.
Bisher allerdings noch keine Autorin und keinen Autoren darunter entdeckt, die/der in der Lage wäre, derart vorzulesen, dass der Text die mangelnde Profession des Vorlesens überstrahlen würde. Zuviel dialektgefärbter Zungenschlag. Behäbig, schwerfällig, volkstümlich. Und der Junge, der einigermaßen Hochdeutsch artikulieren kann, hat weniger Sprachmelodie als die männlichen und weiblichen Stimmen der deutschen Navigationssysteme. Die Jury ist schon sehr im Vorteil durch die Vorkenntnis der Texte. Ich kann mich gar nicht auf die Sätze konzentrieren, bei dem ganzen Genuschel.
9. Juli 2011 um 8:26
Ich würde niemandem Kompensation unterstellen wollen, Michael, und gerade der Text der Biberfrau (na, das wäre doch mal ein Romantitel) erschien mir wie reinstes Kalkül.
Eine charismatische Bühnenpersönlichkeit, Gaga, fand ich bislang noch niemanden – allerdings muss ich gestehen, dass mich das auch misstrauisch gemacht hätte: Die sollen ordentlich schreiben, das Vorlesen ist halt der Zwang der Bachmannpreismodalitäten. Vielleicht ist mir gerade deshab die Leistung des Stotterers Geltinger vom ersten Tag so im Gedächtnis geblieben.
Frise Lesevergnügen ist ein weiterer Romantitel, Sammelmappe. Beim Popp kam mir wirklich meine Dyslyrizie ins Gehege (wenn es Dyskalkulie gibt, sollte es auch ein Wort für das Unvermögen geben, Lyrik zu erfassen).
10. Juli 2011 um 23:12
******************KOMMENTAROMAT**********************
Gerne gelesen
*******************************************************