Menschenkater
Montag, 4. Juli 2011 um 11:19Wenn der Termin nicht seit zwei Monaten festgestanden hätte, wäre mir vielleicht die Möglichkeit eingefallen, nicht hinzugehen. Aber mein eingebautes Pflichtbewusstsein kalkuliert das nur bei Bettlägerigkeit oder Schlimmerem ein.
Zwei Tage Konferenz mit sehr vielen, sehr aufwühlenden Begegnungen mit fremdem Menschen. Einen Nachmittag Standdienst auf einer Infomesse, auf der ich auf fremde Menschen zugehen musste. Sonntagskaffee mit erweiterter Familie samt vielen Kindern. Zusammengerechnet kostete mich das alles so viel soziale Energie, dass man eine mittelgroße Dating-Website damit betreiben könnte. Denn obwohl zwischenmenschlicher Austausch auch in meinem Leben das Bereicherndste ist, muss ich mich oft dafür sehr anstrengen. Leider gehöre ich nicht zu den Menschen, die daraus grundsätzlich Energie schöpfen (sondern halt doch zu den stereotypen menschenscheuen Grottenolmen vor dem Computer-Bildschirm).
Gestern Abend ging dann leider nichts mehr. Das lag zum Teil daran, dass ich nicht auf eine Veranstaltung mit socialising gefasst gewesen war. Ich lächelte zwar brav, ließ mich in Gespräche verwickeln, doch in mir stellten sich alle Widerstände und Borsten auf, ich verkrampfte gründlich. Dieser Mechanismus geht bei mir mit einem Komplettausfall von Appetit einher (ausgerechnet auf einer Essensveranstaltung), ich will dann bitte eigentlich nur ganz viel Wasser in mich kippen. Um den Teufelskreis zu schließen, war mein Verhalten mir ausgesprochen peinlich: Der Personenkreis war so klein, dass mein Rückzug in Ecken und mein Abkapseln schwerlich unbemerkt bleiben konnten. Was mich natürlich noch viel mehr verkrampfte und völlig unfähig machte, eine Lösung zu finden. Klar werden Sie jetzt sagen: „Die soll sich nicht so anstellen, soll sich nicht so wichtig nehmen.“ Zumindest ist es das, was ich mir selbst sage. Hilft aber nicht.
Ich kann nur hoffen, dass ich so wenig wie möglich gestört habe.
die Kaltmamsell26 Kommentare zu „Menschenkater“
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4. Juli 2011 um 11:51
Verstehe ich sehr gut, dieses Gefühl. Auch ich habe manchmal das dringende Bedürfnis, die Tür zu schließen. Blöd, wenn dann da gerade keine Tür ist bzw. man einfach keinen Ausweg findet. Ein Zuviel an Kontakten oder – noch schlimmer für mich – Menschen, die mir zu eng auf die Pelle rücken und einen Mindestabstand nicht einhalten, kann definitiv stressen. Deshalb: Herzlichen Dank für die ehrlichen Worte. Made my day.
4. Juli 2011 um 11:52
Hmhm … ich würde ja eher sagen “Sie sollte sich wichtiger nehmen und einfach nach Hause gehen, wenn das Socialising nicht zum Tag passte.”
(Also, ich würde sowas nicht so sagen, aber ich würde es eher meionen als das andere.)
4. Juli 2011 um 12:41
ich würde das aber auch sagen – sich wichtiger nehmen. Dann ist es eben so.
Soziale Energie ist ein Begriff, den ich mir merken werden.
Ich fühle sehr mit und bin ganz auf Ihrer Seite!
4. Juli 2011 um 12:41
Ich kann Sie so so gut verstehen! Dieses “schlechte Gewissen”, das einem dann noch obendrein das Leben schwer macht, kenne ich nur zu gut und dazu der Frust, weil man ja eigentlich interessiert ist, nur eben nicht mehr fähig die Energie für die Menschenbegegnungen aufzubringen. Ich wünsche, dass der Menschenkater schnell wieder verschwindet. Ein Espresso mit Zitrone, saure Gurken oder ein sauer eingelegter Hering helfen jedenfalls gegen diesen Kater nix, das kann ich Ihnen schon mal versichern.
4. Juli 2011 um 13:21
So nennt man dieses Gefühl also – danke für den Begriff.
Und ich denke, an diesem Kater leiden mehr Menschen als man glauben mag – eingestehen werden es sich die wenigsten.
4. Juli 2011 um 13:30
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Genau!
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4. Juli 2011 um 14:35
Genau! Das muss normaler werden, dass man eben nichts durchstehen muss, sondern “Schönen Tag noch und servus” völlig ok ist. Musste ich aber auch erst mühevoll lernen. Sich wichtiger nehmen – sehr treffend!
4. Juli 2011 um 14:45
Liebe Frau Kaltmamsell, ich kann mich meinen Vorrednerinnen nur anschließen: Nehmen Sie sich wichtig!!! Denn: wer -im Zweifelsfalle- tut es denn sonst …. “Soziale Energie” – wunderbarer Ausdruck! Ich wünsche Ihnen schnelles Auftanken der Batterien.
4. Juli 2011 um 16:49
Könnte mir stundenlang passieren, Frau Kaltmamsell, mein Mitgefühl. Aber erst, wenn ich nicht mehr prustend vor dem Rechner sitze, “Grottenolm” zerschmettert gerade mein Komikzentrum….
4. Juli 2011 um 18:25
Hier in unserem Haushalt nennen wir das “Leute-Energie”. Und die ist begrenzt. Und deswegen treffen wir uns unter der Woche, nachdem wir mit lauter Schülern zu tun hatten, nicht mehr mit Freunden.
Hier also auch lauter “Grottenolme”, mein achtjähriger Sohn eingeschlossen.
Für das nächste Mal, dass Sie sich auf einer Veranstaltung ungesellig fühlen kann ich nur: “Es tut mir Leid, ich habe die ganze Woche Trubel gehabt und kann jetzt nicht mehr.” empfehlen.
Meiner Erfahrung nach nehmen die meisten Leute eine solche Erklärung weniger krumm als das Abkapseln ohne Erklärung. Und freundlich und sozial sein sind in dem Zustand ja keine Alternative.
4. Juli 2011 um 18:25
Ich schließe mich den Vorkommentaren an: Sich selber ernst nehmen und sich nicht selber irgendwelcher Launen bezichtigen, um dadurch prompt ein schlechtes Gewissen zu bekommen – anders gehts nicht. Ich selber brauche manchmal schon nach ein paar Stunden in Gesellschaft vieler Menschen Abstand, und das hat mit Nerdtum nichts zu tun, sondern mit der individuell vorhandenen Notwendigkeit, Eindrücke zu verarbeiten und Gedanken zu Ende zu denken.
4. Juli 2011 um 18:52
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Gerne gelesen
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4. Juli 2011 um 19:19
Die sieben goldenen Regeln des “polnischen Abgangs”:
1. Verhalte dich unaufällig.
2. Kein schlechtes Gewissen.
3. Weihe niemanden ein.
4. Nütze den Moment.
5. Ein angekündigter polnischer Abgang = tschechischer Abgang.
6. Dreh dich nicht um.
7. Handy aus.
Für Ungeübte mit sozialer Abwehrschwäche zugegeben eine kleine Mutprobe aber der eigenen Gesundheit sehr zuträglich. Allerdings obacht: nicht in allzu überschaubarem Kreis angebracht. Das wirkt dann doch exorbitant unhöflich. Aber ab 25 Personen aufwärts machbar. Man spart sich diese ganzen lästigen Abschiedserklärungen und das “ach bleib doch noch ein bißchen” von Gastgeberseite. Wie gesagt, nur bei größerem Almauftrieb elegant zu handeln. Soweit ich mich erinnere, habe ich das bei dem größten Teil der letzten Zusammenkünfte in größerem Rahmen praktiziert. Das erste Mal war irgendwie noch ein komisches Gefühl. Aber die Erleichterung, unbemerkt davongekommen zu sein…. grandios!
4. Juli 2011 um 19:54
Was Frau Nielsen beschreibt, kenne ich unter der Bezeichnung “sich französisch verabschieden”.
Ansonsten besteht auch meist die Möglichkeit, sich unauffällig nur von Gastgeber/Organisator zu verabschieden, mit der Argumentation, man wolle nicht allzu früh für Aufbruchsstimmung sorgen – was ja auch stimmt.
4. Juli 2011 um 19:54
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Gerne gelesen
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4. Juli 2011 um 21:02
Danke für den Titelbegriff. Ich hab es leicht, und kokettiere mit der sozialen Stoffeligkeit eines Technikers (und kann “es” dabei durchaus). Und ich habe in den letzten fünf Jahren (spät, sehr spät) gelernt, meine Überforderung ernst zu nehmen und ihr nachzugeben – und plötzlich geht es viel besser, wenn ich mich auf einer Fete einfach an die Spüle verziehe, und irgendwas klein, ganz klein schnibble oder sogar abwasche, oder – husch – verschwinde!
Ich habe für mich gesetzt, dass ich nichts zu verlieren habe (habe ich natürlich, aber ich glaube nicht ernsthaft daran, dass ich in meinem Job Nachteile hätte – und im sozialen Privatleben gehe ich das Risiko ein)
4. Juli 2011 um 21:15
Ich glaube die meisten Menschen kennen dieses Gefühl. Tolle Wortschöpfung, übrigens, Menschenkater. Trifft es genau. Manche vertragen mehr und andere weniger, und herauszufinden wieviel man selbst verträgt und sich das auch ein- und zuzugestehen finde ich sehr wichtig. – Ich lerne noch meine Dosis einschätzen zu können.
Den Tip von Susanne: “Es tut mir Leid, ich habe die ganze Woche Trubel gehabt und kann jetzt nicht mehr.” werde ich mir zu Herzen nehmen.
4. Juli 2011 um 21:17
Gelegentlich gibt es schon mal Veranstaltungen, die ich aus dem einen oder anderem Grund gerne vorzeitig verlassen würde, ohne die Gastgeber oder die anderen Gäste zu erzürnen. Ich verwende dazu gerne eine Methode, die in der Familie Klüttenrath schon vom Urgroßvater angewendet wurde und sorgsam von Generation zu Generation weitergegeben wird. Es ist die Methode “virtuelle Großmutter”. Diese liegt zuhause im Bett, ist sterbenskrank und muß sorgsam gepflegt werden. Eigentlich muß ständig jemand bei ihr sein, denn alle zwei Stunden muß der Schleim aus der Luftröhre abgesaugt werden, sonst erstickt die alte Dame jämmerlich. Und augerechnet jetzt, mitten im Xtreme Socializing, ist es in einer halben Stunde wieder soweit. Hoffentlich schaffe ich es noch, in einer halben Stunde von hier nach Pusemuckel . Und schwupps, schon ist man draußen, ohne für böses Blut gesorgt zu haben und kann gemütlich nach Hause juckeln oder in der nächsten Kneipe den Sekt vom Stehempfang noch mit einem anständigen Pils herunterspülen. Prost! Ein Hoch auf die virtuelle Großmutter.
4. Juli 2011 um 21:42
Ich bewundere das Programm, daß Sie sich in den letzten Tagen auferlegt haben, oder haben auferlegen lassen. In solchen Situationen gerate ich gelegentlich in Versuchung, einen satten Migräneanfall vorzuschieben, lasse es aber meistens doch lieber, denn womöglich stellt er sich dann tatsächlich ein…
Am Samstag war ich in der glücklichen Lage, einen polnischen Abgang machen zu können, danke Frau Nielsen für die ‘Gebrauchsanleitung’, ein Straßenfest ist ein ideales Übungsgelände für Anfänger. ;-)
4. Juli 2011 um 22:05
Ich denke, ein schlechtes Gewissen müssen Sie nicht haben. Wie bereits geschrieben wurde, einfach zurückziehen und sich selbst wichtig nehmen. Ggf. schon im Vorfeld absagen, bzw. vieleicht nur einen “Kurzbesuch” ankündigen. Und wie gesagt, ein schlechtes Gewissen brauchen Sie deshalb definitiv nicht zu haben.
Liebe Grüße & gute Erholung
Juniwelt
4. Juli 2011 um 22:06
Gerne gelesen – ich bin auch so. Menschen sind bereichernd, aber auch herausfordernd und kosten Kraft. Aber wenn ich dann nicht mehr kann, werde ich pampig und bockig und gehe einfach… auch nicht die feine englische, aber das bin ich mir wert ;)
5. Juli 2011 um 9:15
beruhigend, dass es noch mehr Menschen so geht…
Aber amüsiert hat mich der polnische Abgang. den kenne ich nur unter: “sich auf französisch verabschieden”. In Frankreich heisst es “filer à l’anglaise”. Wer weiss, was Polen und Engländer dazu sagen?
5. Juli 2011 um 10:20
warum sich nicht einfach verabschieden?
Es wäre gut, für sich selbst zu wissen, wann es genug ist, und “not to make a drama out of a crisis”.
5. Juli 2011 um 12:51
Geniale Wortschöpfung für einen mitlesenden Grottenolm…
6. Juli 2011 um 0:51
Hm, ich plädiere ebenfalls für das selbstbewußte Einstehen der eigenen, sehr nachvollziehbaren Energielosikeit. “Ich hatte eine verdammt harte Woche und möchte micht jetzt gerne verabschieden” sollte gerne zur häufiger geäußerten Abschiedsbegründung werden. Gastgeber mit Stil werden sinngemäß antworten: “Schön, dass Sie dennoch dabei waren!”
Für hanebüchene Ausreden, die kranke Großmütter/Kinder/Haustiere vorschieben, sollte man sich zu schade sein.
Im übrigen finde ich – gerade bei sozialen Pflichtverantaltungen – jene Gäste am angenehmsten, die sich zurückhaltend und höflich zurückhalten (können). Welche Wohltat gegenüber den Dampfplauderern, dauerschwätzenden Wichtigtuern und Krawallschachteln.
8. Juli 2011 um 11:44
Stellen Sie sich eine Situation vor, in der Sie entspannen können und sich sicher fühlen. Alles ist gut, Sie können aufatmen und sich erholen.
Inneres Bild, Gefühl da? Ok.
Sind in Ihrer Vorstellung Menschen um Sie herum, oder sind Sie alleine?
Diese Grunddisposition, dass die ideale anstrengungslsose Situation entweder die Gegenwart von anderen Menschen oder, im Gegenteil, ihre Abwesenheit voraussetzt, können Sie nicht ändern. Lassen Sie die Kokettiererei, was Ihnen andere Menschen wohl raten oder vorschreiben wollen würden und wie Sie dagegen rebellieren, und akzeptieren Sie einfach, wie Sie sind. (Nämlich wie ca. 50% Ihrer Mitmenschen.)
(The doctor is OUT.)