Archiv für Juli 2011
Bachmannpreis 2011, der Freitag
Freitag, 8. Juli 2011Mein zweiter Klagenfurttag bestand vor allem aus Überforderung: Ich hörte Texte, die ich langweilig fand oder bis zur Unverständlichlichkeit verquast, und bekam dann von der Jury erklärt, dass ich Zeugin von „unerhört schönen Metaphern“, einem „makellosen Text“ oder einem „erotischen Verhältnis zur Sprache“ geworden war. Es ist sicher entscheidend, dass die Mitglieder (und „Mitgliederinnen“ – Zitat aus der gestrigen Bürgermeisterempfangsrede) der Jury die Texte vorher gründlich lesen konnten.
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Dabei beginnt alles vielversprechend: Linus Reichlin liest, vorgeschlagen von Meike Feßmann, „Weltgegend“. Er erklärt, das seien die ersten drei Kapitel eines Romans. Eine spannende, unterhaltende Geschichte auf einem erzählerischen und inhaltlichen Niveau, wie ich es sonst nur aus der englischsprachigen Literatur gewohnt bin. (Herr Reichlin war mir in den vergangenen beiden Tagen bereits drei, vier Mal aufgefallen: Sein Gebaren war so g’schaftig1 gewesen, dass ich ihn für einen Mitarbeiter des ORF gehalten hatte.)
Winkels lobt den Mut, in der deutschen Literaturwelt ein Buch in einem Gegenwartsthema anzusiedeln, zu dem jeder eine Meinung habe. Dann aber behauptet er, von der Intensität der Situation sei nichts zu spüren, die Geschichte gleiche einem Kammerspiel. Zudem sei die Basis für eine griechische Tragödie gelegt, diese werde jedoch nicht eingelöst. Sulzer freut sich, dass das gestrige Feld der Familie verlassen wurde. Jandl sieht sich einer Kolportage gegenüber. So streng würde Strigl nicht sein, vermisst aber den Inhalt zwischen den Zeilen, den zum Beispiel ein Farewell to Arms von Hemingway schafft. (Na, wenn eine Kriegsgeschichte nur im Vergleich zu Hemingway verliert, kann sie durchaus exzellent sein.)
Vorschlägerin Feßmann erklärt, die Geschichte sei ausgezeichnet erzählt, enthalte interessante Figuren und behandle „endlich ein ernsthaftes Thema“. Dann geht es noch eine Weile um Techniken des Spannungsaufbaus in der Tradition klassischer Hard-boiled-Novels (Detektiv wacht nach „Schlag auf den Nüschel“ neben Leiche auf – Spinnen), des pikaresken Romans (Khalili als Trickster-Figur – Keller), des sonntäglichen Tatorts (souveräner Autor, der immer die Kontrolle behält – wieder Spinnen), der kompletten Leserlenkung (Leser weiß mehr als die Figur – Jandl).
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Maja Haderlap, mitgebracht von Daniela Strigl, kündigt im Portraitfilmchen bereits an, dass ihre Geschichte sehr persönlich und autobiographisch sei. Leider merkt man das ihrem „Im Kessel“ deutlich an. Ich höre einen Text voller Naturbeschreibungen mit hinkenden Vergleichen, dazu unmotiviert auf- und abtretende Verwandte, von einem mittelkleinen Mädchen aus Ich-Perspektive beschreiben. Die erste Hälfte über warte ich noch darauf, dass die Geschichte beginnen möge, doch es bleibt bei einer pointenlosen Aneinanderreihung von Szenen mit oft unbeholfener Vermittlung von Informationen und ausgesprochen wackliger Grammatik. (Fester Vorsatz, dass ich mich gründlich mit den Regeln der indirekten Rede vertraut mache, um nicht in dieselben Fallen wie Haderlap zu treten.)
Ganz falsch, erfahre ich von der Jury. Keller hat die Geschichte gut gefallen, unter anderem wegen ihres langsamen, gemächlichen Rhythmus’ und dem Hinführen auf eine größere Geschichte. Für Sulzer war es gleich ein „makelloser Text“, dessen große Landschaftsmetaphern am Anfang „öffnen auf die Seele des Mädchens“. Jandl hatte drei Ebenen gefunden: Partisanenkampf der Slowenen im Zweiten Weltkrieg, das heranwachsende Mädchen und die Autobiographie der Autorin – mit „feinen sprachlichen und poetischen Nuancen“ und „präzise gearbeiteten Bildern“. (Mittlerweile bin ich völlig verdattert.)
Es ist dann Feßmann, die bei allem „Respekt vor der Ruhe und Unaufgeregtheit – als Deutsche allemal“ das Niveau erheblich tiefer ansetzt und das Thema schon erheblich besser behandelt gelesen hat. Für sie ist der Text etwas aus einem „persönlichen Archiv“, weiter nichts. Winkels stimmt ihr zum Teil zu, ihm sind erzähltechnische Unplausibilitäten aufgefallen.
Doch schon Strigl sieht wieder den Wald „mit großartiger Schlichtheit zum Erzählraum eröffnet“ (das mit dem Raum kam gestern und heute auffallend oft – hat man das derzeit in der Rezeption?). Der Wald überwuchere alles, auch die Familiengeschichte. Spinnen gefällt die Geschichte ebenfalls sehr gut, ihm geht die innere Entwicklung des Mädchens allerdings erzählerisch zu schnell.
Wohl doch eine Preiskandidatin.
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Gegen Julya Rabinowich bin ich persönlich vorbelastet, weil sie sich gestern am Büffet ausgesprochen dreist und divenhaft vordrängelte. Ich hoffe aber, dass ihre Schreibe besser ist als ihre Kinderstube. Ihr „Erdfresserin“ ist – Überraschung – Auszug aus einem Roman und wurde von Daniela Strigl vorgeschlagen.
Die Geschichte hätte mir besser gefallen, wenn sie nicht schon wieder eine Ich-Erzählerin geboten hätte. So fasziniert mich zwar die originelle Mischung aus Surrealem, Gastarbeiterin aus Osteuropa, Aggression und heißer Großstadt, lässt mich aber insgesamt ratlos zurück.
Wieder muss mir die Jury erklären, was da gerade passiert ist. Laut Winkels wurde mir eine Frau in verschiedenen mythischen Dimensionen geboten. Feßmann spricht von einem „weiblichen Intensivtext“ (die Jury liefert mir viel mehr aufhebenswerte Wörter als die Autoren) um den „weiblichen Ekel vor dem männlichen Körper“. Strigl findet den Text merkwürdig, mag aber die „explosive Aggressivität“, mag die zentrale Figur, die so ganz ohne Wehleidigkeit sei, sich selbst in den schwärzesten Farben male, kann allerdings ihre Familiengeschichte nicht recht unterbringen.
Es ist Sulzer, dem es anscheinend trotz mehrfachem Lesen ging wie mir: Er findet den Text schwierig und hat seine Schwierigkeiten mit ihm. Jandl aber findet ihn im Gegenteil sogar besonders einfach: Er biete eine solche Vielzahl an Motiven, dass sich jeder eines davon aussuchen könne. Laut Spinnen ist der Text „als Story und Plot eigentlich toll“, er stört sich aber daran, dass er „so wahnsinnig hochinstrumentalisiert“ sei. Er sieht den Text als noch nicht fertig an und hofft, dass die Autorin nicht zu sehr an ihm hängt, um ihn nicht noch zu überarbeiten. Strigl wiederum findet gerade den Detailreichtum großartig.
Nach der Diskussion bin ich bereit, die Geschichte zu mögen. Vielleicht lese ich sie dereinst als Roman.
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„Der Biber ist einer, der die Welt in die Hand nimmt,“ schließt Nina Bußmann ihren Vorstellungsfilm und ich hoffe inniglich, dass sie sich der Komik dieses Satzes bewusst ist (hey, Aleks Scholz hat letztes Jahr über Hunderennen salbadert philosophiert gesprochen). Ihre Geschichte „Große Ferien“ ist die Empfehlung von Paul Jandl.
Schnell stellt sich heraus, dass die Figur im Mittelpunkt Oberschullehrer ist; als Oberstudienratsgattin nehme ich sofort die Schilde hoch, Schutz vor den üblichen Angriffen und Klischees. Doch es kommen ganz andere Klischees als derzeit gewohnt, eher welche aus den 50ern. Ich werde aus der Hauptperson nicht schlau. Wenn sich die Charakterisierung tatsächlich auf Wohnen bei Muttern, Unkrautjäten und Schneckenvernichtung beschränkt, ist sie ein reiner Scherenschnitt – das passt aber nicht zu dieser Art von Schreibübung.
Außer… Außer ich hätte die Geschichte einfach ein paar Mal gelesen – wie die Jury. Feßmann: „Genau gearbeitet“, „genau gedacht“. Sie verblüfft mich mit der Entdeckung des Grundgedankens der Geschichte: Die Wahrheit ist nicht unbedingt zugänglich. (Hier bitte ein Loriot’sches „Ach.“ einfügen.) Auch Winkels hat die Geschichte gefallen, unter anderem weil das Rätsel, ob da was Homoerotisches war, nicht aufgelöst werde.2
Vielleicht hat Sulzer den Text ja nicht vorher gelesen, denn er stolpert wie ich über die Klischeedarstellung des Mutter-Sohn-Verhältnisses. Spinnen sieht eine ganze Reihe von Klischees, die Schule sei „ein Schattenspiel mit unendlich stark vorgeprägten Rollen“, die Figuren seien abstrakt.
Doch da kommt wieder Keller, die von der „sprachlichen Dimension“ schwärmt, von „unerhört schönen Metaphern“: „Es erfüllt sich etwas Existenzielles.“ Und Strigl sieht ein „Rückzugsgefecht aus der Perspektive des Lehrers“, „in vielen Details schön erzählt“. Allerdings bemängelt sie schiefe Metaphern. Auch Jandl sieht einen „klugen Text“, der genau wisse, was er wolle und seine Ordnungsmetaphern mit „enorm genauer Sprache“ baue, und da ist sie, die „erotische Sprache“.
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Das alles war allerdings ein Ponyhof gegen den Abschlusstext des Tages: Steffen Popp, der ganz anders aussieht als auf dem Autorenphoto, liest fast betonungslos „Spur einer Dorfgeschichte“, vorgeschlagen von Feßmann.
Als in der Jurydiskussion das Stichwort „Lyrik“ fällt, erkenne ich mein Problem: Dieser Text kommt nur zufällig nicht in einer schmalen Spalte daher, eigentlich ist er ein Gedicht. Und Gedichte kann ich nicht (dasselbe gibt übrigens Sulzer zu – ich weiß nicht, ob ich mich deshalb mehr oder weniger mit ihm identifizieren). Will heißen: Ich verstehe fast kein Wort, habe im Gegenteil den Eindruck, dass jemand mir Leser-Ochs vorm Berg eine Geschichte als Karotte vor die Nase hält, mir sie aber auch nach 15 Kilometern im Schweinsgalopp durch Satzfragmente, wechselnde Erzählperspektiven, krause Formulierungen, überflüssig neu erfundene Wörter nicht zu fressen gibt. (Ich kann nämlich AUCH schiefe Metaphern.)
Die Jury (mit Ausnahme von Sulzer) hingegen sieht sich großer Kunst gegenüber. Strigl rühmt die Spurensuche, auch auf kriminalistischer Ebene, ist beeindruckt von der „sozialen Kartographie“, Winkels mag, dass wir ein „Halbfertigprodukt“ bekommen haben, das erst durch den Leser fertiggestellt wird, sieht eine „Leichtigkeit des Aufreihens“. Keller freut sich über den „großen Eigensinn“, mit dem der Text „komponiert“ sei, dabei auf eine Regie verzichte. Allerdings rügt sie, dass sie nicht sehe, was den Text trägt. Feßmann, die ihn ja mitgebracht hat, überschlägt sich: Ein ungeheuer dichter Text, bei dem jeder Gedanke, jedes Wort sitze. Spinnen stimmt ihr zu, sieht in der „großen rhythmischen Sicherheit“ einen Jazzmusiker, sieht große Virtuosität, kritisiert lediglich, dass seine intellektuellen Fähigkeiten als Leser außen vor gelassen würden.
Jandl findet es das „legitime Anliegen der Literaten“, dem Leser Arbeit zuzumuten. Er habe beim mehrfachen Lesen immer neue Motive, poetische Bilder gefunden, „wie ein gewebter Teppich“. (Sag’ ich ja: Lyrik. Und ich habe gar kein Problem damit, mich für Romane anzustrengen, zum Beispiel die von William Faulkner.)
Nur Sulzer hat wie ich Probleme mit der Austauschbarkeit der drei Personen, dem Text gehe es nur um den Rhythmus.
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Anschließend spaziere ich, wegen der Hitze sehr langsam, in die Innenstadt und hole mir als Mittagsmahlzeit die vermutlich größte Eisportion meines Lebens. Wer kann denn ahnen, dass im Eiscafé Alter Platz vier Kugeln Eis ein gutes Pfund ergeben?
Bachmannpreis 2011, Donnerstagabend
Freitag, 8. Juli 2011Der Bürgermeister von Klagenfurt lud zu einem Empfang ins Schloss Maria Loretto – ein wirklich wunderschöner Ort für ein Fest. Nur dass ich, verdorben und belastet durch die Welt billiger Fiktion, mich gleichzeitig am Drehort einer deutschen Fernsehserie fühlte. Das werde ich der billigen Fiktion so schnell nicht verzeihen.
Bekanntschaften vom letzten Jahr in Klagenfurt erneuert, neue geschlossen. Örtliche Konditorenkunst bewundert.
Bachmannpreis 2011, der Donnerstag
Donnerstag, 7. Juli 2011Fünf sehr unterschiedliche Texte waren das am ersten Tag des Vorlesens, in meiner Wahrnehmung keiner davon richtig grottig, aber auch keiner überwältigend gut. Ich setzte mich wieder ins Fernsehstudio selbst (also nicht in das Zelt im Garten vor eine Leinwand und auch nicht ins Pressezentrum vor einen Monitor) und genoss die Inszenierung direkt.
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Gunter Geltinger liest „Auszug aus einem Roman“ (einen Moment lang hoffe ich, das sei der tatsächliche Titel der Geschichte und der Herr mache sich über die Marotte lustig, nicht mit eigenständigen Texten anzutreten, sondern mit Fragmenten). Nach seinem freundlichen „Guten Morgen“ erklärt er erst mal, dass er – wie die Figur der Geschichte – stottere und man das beim Vorlesen merken werde. Tatsächlich ist es für mich zunächst anstrengend ihm zuzuhören, dann aber wieder faszinierend, weil Geltinger die Vorlese-Techniken verwendet, die ich aus The King’s Speech kenne: Er holt vor manchen Wörter ruhig Luft, macht an ungewöhnlichen Stellen Halt, setzt Schwa-Laute vor riskante Anfangskonsonanten: a-legen, a-Wolken, a-riechende. Gegen Ende dirigiert er sich mit anmutig angedeuteten Armbewegungen.
In seiner Geschichte, von Alain Claude Sulzer vorgeschlagen, stolpere ich über die adjektivreiche und symbolschwangere Naturbeschreibung, doch mir gefällt, wie sie die spätere Nachjustierung kindlicher Erinnerung anspricht, wie sich die Zeitebenen auch im erinnerten Geschehen nicht-linear verweben. Figuren und Szene interessieren und fesseln mich, möchte ich gerne weiterlesen.
Der Jury scheint am deutlichsten die große Menge an Körperflüssigkeiten aufgefallen zu sein, Daniela Strigl spricht sogar von einem eigenen Genre „trostloses Landleben in Norddeutschland – statt Blut und Boden Blut und Kotze“. Sie, Hubert Winkels und Hildegard E. Keller scheinen Ähnliches wie ich wahrgenommen zu haben, nur dass sie es als misslungen bezeichnen. Ausgerechnet Meike Feßmann (ich habe ihr das letztjährige Kleinreden des Leidens an Depressionen immer noch nicht verziehen) lobt die Geschichte für die Darstellung des dysfunktionalen Mutter-Sohn-Verhältnisses – das Publikum applaudiert. Paul Jandl wirft dem Text vor, er versuche stellenweise „Literatur zu sein“. Und erinnert mich daran, warum ich englischsprachige Literatur (und Literaturwissenschaft) deutlich bevorzuge.
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Maximilian Steinbeis versucht sich an einer Satire: Eine Beratungsrede über „Einen Schatz vergraben“. Ich frage mich schnell, wer da eigentlich spricht (das erklärt mir später Feßmann: Mephisto. Ja, passt). Und ich fange spätestens bei den lyrisch ausgeschmückten Passagen an, mit den Augen zu rollen. Mit ein wenig Kürzen eine nette Glosse für die Feuilletonbeilage am Wochenende.
Doch das Publikum lacht und amüsiert sich, es scheint Idee und Ausarbeitung nicht so abgedroschen zu finden wie ich. Auch die Diskussion ist sehr wohlwollend. Schon als der Text am Anfang über die verlogenen Banken spricht, ahne ich, dass das bei der Jury ankommen wird. Burkhard Spinnen, der diesen Text ins Rennen geschickt hat, erzählt prompt, was beim Erstlesen im Februar 2011 in ihm vorgegangen ist: „Hier ist jemand, der auf eine der ganz großen Gegenwartsfragen reagiert!“ Vielleicht hülfe es, wenn die Feuilletonisten hin und wieder mit den Kollegen aus der Wirtschaftsredaktion zum Mittagessen gingen. Das nähme einigen Themen die Exotik.
Strigl hat eine „Parodie auf Ratgeberliteratur“ gehört, Winkels sieht das Gold im Text allegorisch für zeitgenössische Kommunikation. Jandl bittet die anderen Jurymitglieder, den Text „bitte nicht zu hoch anzusetzen“.
Hinter mir im Fernsehstudio steht eine Frau, die sich nicht nur während des Vorlesens vor Lachen fast bepinkelt hat, sondern jetzt auch jedes anerkennende Wort über den Text mit zustimmendem „Mhm!“ begleitet, hin und wieder einzeln applaudiert. Vielleicht Mutter Steinbeis?
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Daniel Wisser erfreut durch einen kurzen Vorstellungsfilm, in dem er vor einer weißen Wand nichts sagt, unterlegt mit Musik. Er holt für seine Geschichte „Stand by“ (mitgebracht von Jandl) über einen Ordnungsfanatiker mit Menschenproblem alles aus der Möglichkeit von Passivkonstruktionen heraus. Das Stilmittel wird schnell deutlich und ermöglicht ihm, die Hauptfigur in ihrer ganzen Verquastheit erlebbar zu machen. Einen Roman würde ich nicht durchstehen, aber in der Kurzstrecke ist das ausgesprochen gut gemacht.
Diese Passivkonstruktionen sind auch das zentrale Element der Jurydiskussion. Winkels spricht von einem „satirischen Text über einen zwangsneurotischen Kleinbürger mit apokalyptischen Grundtendenzen“, hält die Konstruktionen und Personen aber für inkonsistent. Strigl schlägt vor, dass das eine das andere spiegelt. Sie hat auch eine ganze Reihe „unterschwelliger Gemeinheiten“ im Text ausgemacht. Die Jury ist sich einig, dass er dem Genre Genazino angehört. Keller weist darauf hin, dass die Geschichte eine reichlich unheimliche Dimension hat, dass es sich nicht um Satire handelt, sondern um eine „hochartifizielle Inszenierung“.
Spinnen macht sich ausführlich Gedanken, welche Wirkung die Passivkonstruktionen haben. Er findet sie ästhetisch enttäuschend und bemängelt einige Fehler in den Konjunktiven. Sulzer weist ihn darauf hin, dass Wisser durch dieses Stilmittel Dinge über Personen sagen konnte, „die anders nicht gesagt werden können“. Für Jandl werden durch das Passiv die Gegenstände ebenso präsent wie die Figur, er findet es ästhetisch präzise durchgezogen.
Feßmann wiederum haut drauf, das Passiv sei „Vorwand für ein an Schlichtheit nicht zu überbietendes Konglomerat an Misanthropie und simpelsten Einfällen“, wird aber nicht gehört.
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Anna Maria Praßler, vorgeschlagen von Spinnen, lässt in ihrem Vorstellungsfilm symbolbeladen Spiegel zerbrechen. Ihre Geschichte heißt „Das Andere“ und kommt mir vor wie ein Text, von dem sich Lieschen Müller vorstellt, dass ihn eine Schriftstellerin über eine Geisteswissenschaftlerin schreibt. Während des Vorlesens bemerke ich, dass es eine schlechte Idee ist, eine zentrale Figur Björn zu nennen: Dieses Wort kann niemand auf Deutsch peinlichkeitsfrei aussprechen, egal aus welcher Region das Deutsch stammt. Zudem irritiert mich, dass Praßler als Ich-Erzählerin vorliest: „Sein Süddeutschland sollte mir immer fremd bleiben.“ – Praßler hat einen sehr deutlichen süddeutschen, nämlich bayerischen Akzent.
Feßmann bemängelt, dass sie nichts von dem Paar erfährt, um das es doch hauptsächlich gehen soll. Sulzer spricht von einer „trivialen Geschichte, angereichert mit Trivialitäten“. Winkels: „Man spürt die Absicht und ist verstimmt.“ Ihm ist die Symbolik in diesem „Seminargerede“ viel zu deutlich, Jandl hat sogar eine ganze Reihe „Schlagersätze“ entdeckt. Spinnen bringt das Ganze ins Positive indem er unterstreicht, dass all diese Dinge nicht unbedingt aufs Konto der Autorin gehen, sondern Teil der Rollenprosa sein könnten: Dass damit die Figur charakterisiert werde. Doch Jandl fasst zusammen: „Das ist ein so konventionelles Ding, dass man es damit entschuldigen muss, dass es Rollenprosa ist.“
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In Antonia Baums Geschichte (vorgeschlagen von Winkels) geht es ab, im Widerspruch zu ihrem Titel: „Vollkommen leblos, bestenfalls tot“ hat zwei Kapitel und eine sehr lebendige Ich-Erzählerin. Im ersten Kapitel steht sie kurz vor dem Abitur und ist angemessen genervt von Eltern, Schule, Dorf. Im zweiten Kapitel ist diese Genervtheit Wut und überheblichem Frust gewichen, die sie über ihr Leben als Anhängsel eines Mannes in der wilden Großstadt empfindet. Ich mochte einige der elaborierten Metaphern („Einrichtungssirup“) und die eingesprengten surrealen Elemente. Etwas abgelenkt war ich durch die Erkenntnis, dass the camera tatsächlich adds ten pounds: Vor mir am Lesetisch saß eine schmale, junge Frau, hohe Wangenknochen im schmalen Gesicht. Auf der Leinwand aber sah ich eine nicht mehr ganz junge Frau mit weichem Kinn und breitem Gesicht.
Strigl nennt das Ganze sofort eine Thomas-Berhard(TB)-Parodie oder -Imitation – in jedem Fall sei sie misslungen. Und darum dreht sich dann fast die gesamte Jury-Diskussion. Für Feßmann ist es kein TB, sondern Rollenprosa. Jandl entdeckt „manchmal“ TB, dann aber wieder „verschwurbelte Metaphern“. Winkels verteidigt die Geschichte, TB-Stil gehöre „seit Jahrzehnten zum poetischen Grundbestand“. Sulzer bemerkt, dass der Text beim Vorlesen weniger nach TB klinge als beim Selbstlesen. Ich merke, dass ich deutlich mehr von TB lesen muss als die beiden Romane vor 20 Jahren – ich wäre nie auf den Vergleich gekommen.
Einziges weiteres Thema der Diskussion: Hat sich die Figur zwischen erstem und zweitem Kapitel weiterentwickelt? Sulzer sagt ja, Keller („ein Text mit ganz großem Schmollmund“) sagt nein.
Bachmannpreis 2011, der Mittwoch
Donnerstag, 7. Juli 2011Die Anreise im EC und in 1. Klasse genoss ich sehr: Bequeme Sessel, Musik im Ohr, Sommerlandschaft vor dem Fenster – zwischen Villach und Klagenfurt inklusive Wasserskifahrern auf derm Wörthersee. Das alles machte mir Lust auf Baden. BADEN! Ich war seit mindestens fünf Jahren nicht mehr beim Baden.
Ich lebte diese seltene Lust im alten Strandbad Maria Loretto aus.
Abends die Eröffnung der Tage der deutschsprachigen Literatur (wenn Sie auf Twitter Kommentare dazu lesen wollen: #tddl).
Eingang zum Fernsehstudio, in dem die gerade die Eröffnungsveranstaltung stattfand. Ich guckte Sie mir in diesem Foyer auf einem Bildschirm an und bekam die Live-Atmosphäre über die offene Tür mit.
Frische Lieblingstweets
Mittwoch, 6. Juli 2011Menschenkater
Montag, 4. Juli 2011Wenn der Termin nicht seit zwei Monaten festgestanden hätte, wäre mir vielleicht die Möglichkeit eingefallen, nicht hinzugehen. Aber mein eingebautes Pflichtbewusstsein kalkuliert das nur bei Bettlägerigkeit oder Schlimmerem ein.
Zwei Tage Konferenz mit sehr vielen, sehr aufwühlenden Begegnungen mit fremdem Menschen. Einen Nachmittag Standdienst auf einer Infomesse, auf der ich auf fremde Menschen zugehen musste. Sonntagskaffee mit erweiterter Familie samt vielen Kindern. Zusammengerechnet kostete mich das alles so viel soziale Energie, dass man eine mittelgroße Dating-Website damit betreiben könnte. Denn obwohl zwischenmenschlicher Austausch auch in meinem Leben das Bereicherndste ist, muss ich mich oft dafür sehr anstrengen. Leider gehöre ich nicht zu den Menschen, die daraus grundsätzlich Energie schöpfen (sondern halt doch zu den stereotypen menschenscheuen Grottenolmen vor dem Computer-Bildschirm).
Gestern Abend ging dann leider nichts mehr. Das lag zum Teil daran, dass ich nicht auf eine Veranstaltung mit socialising gefasst gewesen war. Ich lächelte zwar brav, ließ mich in Gespräche verwickeln, doch in mir stellten sich alle Widerstände und Borsten auf, ich verkrampfte gründlich. Dieser Mechanismus geht bei mir mit einem Komplettausfall von Appetit einher (ausgerechnet auf einer Essensveranstaltung), ich will dann bitte eigentlich nur ganz viel Wasser in mich kippen. Um den Teufelskreis zu schließen, war mein Verhalten mir ausgesprochen peinlich: Der Personenkreis war so klein, dass mein Rückzug in Ecken und mein Abkapseln schwerlich unbemerkt bleiben konnten. Was mich natürlich noch viel mehr verkrampfte und völlig unfähig machte, eine Lösung zu finden. Klar werden Sie jetzt sagen: „Die soll sich nicht so anstellen, soll sich nicht so wichtig nehmen.“ Zumindest ist es das, was ich mir selbst sage. Hilft aber nicht.
Ich kann nur hoffen, dass ich so wenig wie möglich gestört habe.