Camilla Macpherson, Theda Krohm-Linke (Übers.),
Am Tag und in der Nacht
Montag, 7. November 2011 um 16:56
Vor einer Woche erhielt ich die E-Mail einer Frau, die mich während meines Auslandsstudienjahrs sehr beeindruckt hat – und die hier im Blog unter anderem als Quelle dieses Rezepts aufgetaucht ist. Sie entschuldigte sich kurz, dass sie seit vielen Jahren nicht von sich habe hören lassen und dass sie jetzt gleich mit einer Bitte auf mich zukomme: Eine Londoner Freundin habe ihren ersten Roman veröffentlicht, der eben auf Deutsch erschienen sei. Der Verlag habe kein Budget für PR, ob ich vielleicht deutschen oder österreichischen Freunden davon erzählen könne. Ich wusste etwas Besseres: Das Buch zu lesen und in meinem Blog darüber zu schreiben. Hiermit:
Der Fließtext von Am Tag und in der Nacht beginnt so:
Genau das hatte Claire immer gewollt. Doch das wurde ihr erst jetzt klar, als sie im Schneidersitz auf dem Badezimmerboden saß, den positiven Schwangerschaftstest in der Hand.
Die nächsten Absätze führen im Detail die Freude dieser jungen Londonerin Claire über Schwangerschaft und bevorstehende Mutterschaft aus. Inklusive Ermahnung an ihren Partner, „er müsse jetzt ganz vorsichtig mit ihr umgehen“. Wer schon länger bei mir liest, weiß, dass eine Geschichte nicht weiter entfernt von meiner Erlebenswelt landen könnte; kaum etwas kann ich weniger nachvollziehen als die so beschriebenen Gefühle. Denn schon immer hätte ein positiver Schwangerschaftstest für mich zu den schlimmsten Unglücken gehört. Ohne den äußeren Anlass der E-Mail aus London hätte ich den Roman also im Leben nicht gelesen.
Doch das Buch ist lang genug, die Handlung interessant genug, dass selbst ich die Prämisse im Lauf der Seiten als funktionale Vorgabe akzeptierte. Die Fehlgeburt auf den ersten Seiten wird dadurch zu einer der tiefen seelischen Verletzungen, für das viele dringend einen Schuldigen brauchen – Claire findet ihn in ihrem Partner. Die Folge: Kindische Zickereien, selbsterfüllende Vorhersagen, Unglücksverstärkung Marke Eigenbau. Das ist zwar Psychologisierung auf dem Niveau von Frauenzeitschriften – wird aber zumindest genau so thematisiert: Dass man sich in Gefühlen wiederfinden kann, über die man beim Lesen von Frauenzeitschriften die Augen gerollt hat.
Umsichtigerweise tauchen auch an mehreren Stellen Frauen auf, die mit der ganzen Kinderkriegerei überhaupt nichts am Hut haben. Und ums Kinderkriegen geht es in dem Roman eine Menge, inklusive einem hochromantischen Mutterideal, das ich mir nur mit Hormonen erklären kann. Dem Tonfall der Geschichte halte ich allerdings zugute, dass er keine Spur der augenzwinkernden Launigkeit enthält, in die diese Art Frauenbücher gerne verfallen. Außerdem ist ein wenig Kunst drin.
Handwerklich ist die Handlung mit einer schönen Grundidee sauber konstruiert: Die personale Erzählerin Claire gerät an ein Bündel Briefe, die die entfernte Verwandte Daisy 1943 aus London monatlich an ihre engste Freundin in Kanada schrieb – immer aufgehängt an dem einen Bild, das die National Gallery pro Monat aus ihren Luftschutzkellern zog und der Öffentlichkeit zeigte. Diese Briefe – ich fühlte mich ein wenig an den Bestseller The Guernsey Literary and Potato Peel Pie Society erinnert – sind im Wortlaut Teil des Romans, und die unglückliche Claire macht sich daran, jeden Monat das damals gezeigte Bild in der National Gallery anzusehen. Die Handlung in der Gegenwart verwebt sich immer mehr mit der Geschichte, die aus den Briefen spricht.
Deswegen wird das Buch im Original auch Pictures at an Exhibition heißen. (Die deutsche Übersetzung kam zuerst heraus – weiß jemand, wie üblich das ist?) Der deutsche Titel Am Tag und in der Nacht bleibt bis zum Schluss ein Rätsel.
Die deutsche Übersetzung liest sich so flüssig, dass ich die meiste Zeit vergaß, dass ich eine Übersetzung aus dem Englischen vor mir hatte (das ist für mich ein sehr großes Lob). Bis die Übersetzung behauptete, im Krieg habe es in London so wenig Nahrungsmittel gegeben, dass niemand an Weihnachten „auch nur eine Hackfleischpastete“ habe zubereiten können. Da verwette ich dann doch meine linke Arschbacke, dass das Original „mincemeat“ pies genannt hatte, also die typisch englischen Weihnachtstarteletts, die mit kleingehackten kandierten Früchten gefüllt sind. Wird gerne mal von Deutschen verwechselt, die zum ersten Mal von mincemeat hören. Das war aber der mit Abstand größte Stolperstein der Übersetzung.
Ich wünsche der Autorin viel Erfolg für ihren Erstling: Er kann sich wirklich sehen lassen.
die Kaltmamsell6 Kommentare zu „Camilla Macpherson, Theda Krohm-Linke (Übers.),
Am Tag und in der Nacht“
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7. November 2011 um 17:58
Aber, aber: *echte* mince pies sind wirklich mit Rinderhack! Ich habe sogar irgendwo ein Rezept.
7. November 2011 um 18:28
Und was haben die mit Weihnachten zu tun, Sabine?
7. November 2011 um 19:40
Also ich kenne Mince Pies als Süßkram zu Weihnachten, mit Zitronat und Orangeat etc.
Und dieses Beobachten bei übersetzten Texten kenn ich auch, dieses “oh NEIN”!
z.B: sie war krank und müde…she was sick and tired (of something).
7. November 2011 um 21:07
Die Mince Pies mit Rinderhack sind auch mit Zitronat und Orangeat und angeblich schmeckt man das Rinderhack gar nicht, sie schmecken nur besser als andere mince pies. Und es gibt sie an Weihnachten. Ich glaube, das Rezept steht in Jane Grigsons “English Food”. Ich konnte mich nie überwinden, das zu machen.
Wahrscheinlich ist das so ein mittelalterliches Relikt: viele Gewürze und recht viel Süßpapp verdecken den hautgout des Gammelfleisches.
8. November 2011 um 10:07
Das schlimmste sind VO Filme, bei denen aber eine dt. Übersetzung mitläuft und man dauernd kontrolliert, ob sie gut übersetzt haben (meistens nicht). :-(
8. November 2011 um 20:59
Stephen Fry in der Weihnachtsepisode der ersten Staffel von “Quite Interesting” (Youtube-Link):
„It was derived from the . . . The pastry sweetmeats were given by the people of Rome to the priests of the Vatican on Christmas Eve, and so they were symbols of Catholicism for that reason. Er . . . er, the English versions were often topped with graven images, er, and baked in the shape of a crib and a manger and little pastry baby Jesus.“