Schuhausziehwohnungen
Donnerstag, 19. Januar 2012Zieht man bei Ihnen daheim die Schuhe beim Reinkommen aus? Ich habe den Eindruck, dass sich unsere Gesellschaft in Schuhauszieherwohnungen und Nichtschuhauszieherwohnungen unterteilen lässt und dass die Zugehörigkeit zu einer der beiden Gruppen Aufschluss über viele andere Gewohnheiten und Gebräuche gibt. (Ich erinnere mich daran, wie ich den Mitbewohner nach einem Kollegenfest am Vorabend fragte, wie es gewesen sei und ob er sich amüsiert habe. Seine knappe Antwort: „Schuhauszieherwohnung.“)
Strukturierte Abhandlungen über das Thema Schuhe in Wohnungen kenne ich zwar unter dem Aspekt der internationalen Kulturzugehörigkeit: So erhalten Japanreisende aus Europa detaillierte Anweisungen, an welchen Schwellen Schuhwerk abzulegen oder zu wechseln ist. Auch scheint es ein guter Tipp zu sein, in muslimischen Ländern Privatwohnungen nicht in Straßenschuhen zu betreten.
Nirgends aber habe ich bislang eine Untersuchung über das Schuhausziehen in der deutschen Kultur gehört. Dabei vermute ich sogar, dass es sich um ein ausgesprochen deutsches Thema handelt: Ich kenne die Diskussion weder aus England noch aus Frankreich, Spanien oder Italien. Hat das vielleicht mit Modebewusstsein zu tun? Es scheint mir naheliegend, dass eine Kultur, die viel Wert auf schöne persönliche Ausstattung legt, Gäste nicht zum Zerstören des Stylings durch Schuhausziehen zwingt.
Was also macht in Deutschland eine Wohnung zur Schuhauszieherwohnung – oder eben nicht? Hängt das vielleicht von der Gesellschaftsschicht ab? Bei ganz feinen Leuten, Großbürgertum aufwärts, werden Schuhe wohl eher nicht abgelegt. In der Landwirtschaft wiederum aus praktischen Gründen schon: In den Wohnbereich soll nicht der Schmutz des Arbeitsbereichs getragen werden. Und dazwischen? Ist das Schuhausziehen etwas Kleinbürgerliches?
Vielleicht kann man bei den Schuhausziehern sogar abstufen: Wohnungen, in denen das Schuhausziehen für alle und jeden gilt / Wohnungen, in denen Gäste vom Schuhausziehen befreit sind. Erstere erkennt der aufmerksame Beobachter ja meist an dem See aus Schuhen vor der Wohnungstür. Dabei ist mir bewusst, dass es durchaus äußere Gründe für das konsequente Einfordern von Strumpfsockigkeit geben kann: Säuglinge und Kleinkinder, neuer Parkettboden, sonstige Haustiere.
Warum komme ich wohl aus einer Anbehalt-Familie? Mögliche Einflüsse:
– Die großmütterliche polnische Seite: Oma stammte aus einer südpolnischen Handwerkerfamilie, mein Urgroßvater war Kunstschmied. Oma achtete sehr auf gute Manieren bei Tisch und in der Bekleidung.
– Die väterliche spanische Seite: Bettelarme Bauern und Hilfsarbeiter – die hatten ohnehin höchstens ein Paar Schuhe.
Klar sollten wir als Kinder schmutzige Schuhe sofort beim Betreten der Wohnung ablegen. Das taten wir auch und schlüpften in Hausschuhe. Auf keinen Fall aber wäre es in Frage gekommen, Schuhe vor der Wohnungstür im Hausflur des Wohnblocks abzustellen, das hätten meine Eltern als schlampig bezeichnet. Und als grobe Unhöflichkeit hätten meine Eltern es angesehen, von Gästen das Entblößen ihrer Socken zu erwarten.
Doch selbstverständlich war ich schon als Kind zu Besuch bei Freunden und Freundinnen, bei denen die erste Handlung nach Betreten der Wohnung das Abstreifen der Schuhe war (schnell mit dem Ballen von der Ferse geschoben, meist dafür gerügt von deren Eltern). Und bei denen von mir erwartet wurde, dass ich mich strumpfsockig durch die Wohnung bewegte.
Heute handhabe ich es, wenig überraschend, wie meine Eltern: Beim Heimkommen wechsle ich aus Bequemlichkeit in Hausschuhe und verräume meine Straßenschuhe. Doch wenn ich Besuch bekomme, trage ich selbst richtige Schuhe und erwarte von niemandem, dass er seine ablegt (Ausnahme: vermatschte, verdreckte Schuhe).
Ich bin sicher, dass hinter diesem Thema mehr steckt. Wäre das nicht eine nette kleine Hausarbeit für eine angehende Ethnologin?