Wir introverts
Donnerstag, 22. März 2012Introvertiertheit hatte ich eigentlich mit folgenden Eigenschaften verbunden:
– sehr niedriges Mitteilungsbedürfnis
– Unauffälligkeit
– Schüchternheit
Da irrte ich. Introvertiertheit bezeichnet wohl vor allem das ausgesprochen geringe Bedürfnis nach menschlichem Kontakt um des reinen Kontakts Willen.
Darauf gebracht hat mich dieser ältere Artikel in The Atlantic: „Caring for Your Introvert“.
Do you know someone who needs hours alone every day? Who loves quiet conversations about feelings or ideas, and can give a dynamite presentation to a big audience, but seems awkward in groups and maladroit at small talk? Who has to be dragged to parties and then needs the rest of the day to recuperate? Who growls or scowls or grunts or winces when accosted with pleasantries by people who are just trying to be nice?
Ein echter Augenöffner! Endlich fühle ich mich verstanden. Ich bin also kein Freak – wo ich mich doch immer seltsam fühlte, weil ich einerseits mit Leidenschaft und Energie Vorträge halte und präsentiere, zudem in Gesellschaft gesellig wirke, lächle, angesprochen werde, laut bin, oft sogar in den Mittelpunkt gerate, doch mich in Wirklichkeit bei Small Talk immer wie eine schlechte Schauspielerin fühle, gesellige Anlässe aktiv meide und sie in meinem Leben zur absoluten Ausnahme mache. Lange Zeit erklärte ich guten Freunden mein überdurchschnittlich großes Bedürfnis nach Alleinsein damit, dass ich schüchtern sei – was immer Gelächter auslöste. Tatsächlich meinte ich aber Introvertiertheit (nicht die extremste Form, ich bin wohl eine 70-prozentig Introvertierte).
Introverts are not necessarily shy. Shy people are anxious or frightened or self-excoriating in social settings; introverts generally are not. Introverts are also not misanthropic, though some of us do go along with Sartre as far as to say “Hell is other people at breakfast.” Rather, introverts are people who find other people tiring.
Our motto: “I’m okay, you’re okay—in small doses.”
Nun kommen wir dazu, wie das mit meinem in diesem Blog unübersehbaren Mitteilungsbedürfnis zusammenpasst: Ein Blog hat nichts mit Extrovertriertheit zu tun, da es keine Geselligkeit bedingt.
Extroverts are easy for introverts to understand, because extroverts spend so much of their time working out who they are in voluble, and frequently inescapable, interaction with other people. They are as inscrutable as puppy dogs. But the street does not run both ways. Extroverts have little or no grasp of introversion. They assume that company, especially their own, is always welcome. They cannot imagine why someone would need to be alone; indeed, they often take umbrage at the suggestion.
Ich möchte die steile These wagen, dass es unter Bloggerinnen besonders viele introverts gibt: Wir veröffentlichen unsere Erlebnisse und Gedanken, müssen uns dafür aber nicht mit Menschen auseinandersetzen. Und meine Partnerschaft funktioniert vermutlich auch deshalb recht gut, weil wir beide introverts sind: Meist halten wir uns in unterschiedlichen Räumen auf, unternehmen einzeln Unternehmungen, doch weder er noch ich sehen darin etwas Unangenehmes – im Gegenteil. Solange wir oft genug zusammenkommen, um einander davon zu erzählen.
Ob es wohl Untersuchungen gibt, wie Introvertiertheit und Karriere zusammenhängen? Ich nehme an, dass Introvertierte höllisch schlechte Networkerinnen sind – und genau dieses Networking, so predigen uns täglich die Karrierekolumnen der Medien, ist doch der Weg an die Spitze.
Dass Introvertiertheit und Schüchternheit zwei ganz verschiedene Charakterzüge sind, beschäftigt mich. Sicher gibt es schüchterne Introvertierte, aber sehr wahrscheinlich leiden sie nicht unter ihrer Schüchterheit – schließlich sehnen sie sich nicht nach der menschlichen Interaktion, die durch Schüchternheit behindert wird. Wie aber müssen sich schüchterne Extrovertierte fühlen? Ich stelle mir diese Kombination als einzige Qual vor, schließlich ist ihnen der Weg versperrt, sich die menschliche Anerkennung und die Streicheleinheiten zu holen, die für sie lebenswichtig sind. Ist das vielleicht sogar die typische Persönlichkeitsstruktur der Amokläufer an Schulen?