Matt Ruff, The Mirage
Mittwoch, 11. April 2012 um 9:10Matt Ruff gehört zu den Autoren, deren Schaffen ich aufmerksam beobachte. Sein Fool on the Hill war seinerzeit ein Meilenstein meiner persönlichen Literaturgeschichte (und irgendwann erfülle ich hoffentlich Frau Klugscheissers Bitte, das zu erläutern). Die beiden Folgeromane Sewer, Gas & Electric und Set this House in Order gefielen mir sehr gut, doch Bad Monkeys war eine solch peinliche Katastrophe, dass ich mit Bangen aufs neue Buch wartete. Und zunächst las sich die Inhaltsangabe dieses neuen Buchs, The Mirage, nach einer weiteren Peinlichkeit:
11/9/2001: Christian fundamentalists hijack four jetliners. They fly two into the Tigris & Euphrates World Trade Towers in Baghdad, and a third into the Arab Defense Ministry in Riyadh. The fourth plane, believed to be bound for Mecca, is brought down by its passengers.
The United Arab States declares a War on Terror. Arabian and Persian troops invade the Eastern Seaboard and establish a Green Zone in Washington, D.C….
Zum Glück bangte ich unbegründet.
Ruff macht sich also an alternative history. The Mirage spielt hauptsächlich in Baghdad, im Mittelpunkt drei dortige Anti-Terror-Polizisten, die im Jahr 2009 aktuelle Anschläge christlichistischer Terroristen aufklären sollen. Doch nicht nur einer der Verdächtigen erzählt seltsame Geschichten einer Parallel-Historie, in der nicht die arabische Welt die entwickelte und technologisierte Ecke der Erde ist, sondern das heute barbarische und eben erst von Diktatoren befreite Nordamerika.
Der Plot ist ganz gut durchkonstruiert, die Figuren sind durchaus interessant, Ruff hat sich für seine Alternativwelt nette Details ausgedacht (z.B. erfundene Umgangssprache wie ninja für muslimische Vollverschleierung: In einer Szene heißt es von Kommissarin Amal “she had gone full ninja”). Doch das Ganze ist verwirrend komplex: Ruff will zu viel unterbringen, und das schafft er nur mit hölzernen Erzähltechniken (dabei hat er mit Fool on the Hill doch bewiesen, dass er dicht und komplex kann). Es werden über ein Dutzend historische Persönlichkeiten der Politik eingeflochten, nur halt mit anderen Vorzeichen – für jede muss ein wenig ausgeholt werden. Da bleibt kein Raum für Subtilitäten, und so bekommen wir die Hintergrundgeschichten der Hauptfiguren alle explizit und in eigenen Kapiteln serviert. Alternativgesellschaftlicher Hintergrund erscheint sogar in Zwischenkapiteln mit eigenem Layout, nämlich in Form von Wikipediaeinträgen, die in dieser Welt The Library of Alexandria heißt. Die zahlreichen Kampf- und Anschlagsszenen sind so unübersichtlich, dass ich immer schneller über sie hinweg las – für wirkliches Verständnis hätte ich Skizzen zeichnen müssen.
Zusätzlich schwingt mir der Roman seinen belehrenden Zeigefinger ein wenig zu nah vor meiner Leserinnennase: Zum Beispiel sind die Amerikaner der Arabischen Liga nicht etwa dankbar dafür, dass sie befreit wurden – mir wird erklärt, dass das wohl an den Panzern liegt, die vor ihren Eigenheimen stehen und darauf zielen. Auch die Vielschichtigkeit des Islams bekomme ich vermittelt, da hatte jemand wohl eine Mission. Was mich zu einer weiteren Irritation führt: Es tauchen nur religiöse Menschen und Gesellschaften auf, und zwar nur die halbwegs monotheistischen Christen, Muslime, Juden. Die Möglichkeit anderer Spiritualitäten oder gar des Unglaubens gibt es in dieser Utopie nicht. Ob das im Zusammenhang mit Matt Ruffs Danksagung steht? „Special thanks to the late (and sorely missed) Reverend Jack Ruff, whose insight into human nature continue to serve me well”.
Ich habe The Mirage durchaus interessiert und gespannt gelesen – selbst als der Roman im letzten Teil auf die Suche nach den Ursachen der Doppelwelten geht: Diese Suche verschwurbelt ziemlich ins unübersichtlich Esoterische: Sind es Träume, Drogen, neurologische Vorgänge, Gottes metaphysische Prüfungen oder dann doch der sehr physische Flaschengeist, den sich die Handlung zu verkraften zutraut?
Besser gemacht als die meiste zeitgenössische deutschsprachige Literatur ist The Mirage allemal, aber Sie sollten Action-Romane mögen, wenn ich’s Ihnen empfehlen soll.
Weitere Meinungen:
– Begeisterung auf Boingboing.
– Eine ähnlich gemischte Reaktion wie meine in der New York Times, wo Joshua Hammer den Roman “an intriguing if uneven addition to the genre” nennt.
die Kaltmamsell2 Kommentare zu „Matt Ruff, The Mirage“
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11. April 2012 um 14:35
Ich hab’s auch grade am Wochenende ausgelesen und würde es weiterempfehlen. Was ich wirklich schade fand, dass es ab der Mitte zu sehr auf Plot und zu wenig auf die Welt setzt… Jedenfalls habe ich mich gut amüsiert, wurde nett unterhalten und war immer mal durchweg begeistert – auch wenn man nach dem Auslesen das Gefühl hat, das ein wenig Potenzial verschenkt wurde…
11. April 2012 um 15:04
Ja, von neuen Büchern von Matt Ruff kann ich auch nie die Finger lassen – landet jetzt auf der kurzen Liste. Ein anderes Buch, das mit dem 11. September und alternativen Geschichtsverläufen spielt ist “Underground” von Andrew McGahan – meiner Meinung nach viel zu wenig bekannt und übersetzt (der Autor, nicht das spezielle Buch).