John Irving, In One Person
Mittwoch, 23. Mai 2012 um 8:45Praktisch spoilerfrei.
Roberta war die erste Transsexuelle, mit der ich nähere Bekanntschaft machte, nämlich in der Verfilmung von Garp und wie er die Welt sah, gespielt von John Lithgow. (Ein prägender Eindruck: Wann immer ich John Lithgow danach in welcher Rolle auch immer sah, jubelte ich: „Roberta!“). In John Irvings Vorgängerroman von The World According to Garp (1978), in The Hotel New Hampshire (1981), war bereits ein bisexueller Bär aufgetaucht – na gut, eine bisexuelle Frau, Susie, im Bärenkostüm, die erst die Schwester des Erzählers, Franny, zum Singen bringt, später die Partnerin des Erzählers wird. Zur Besetzung von The Hotel New Hampshire gehört zudem der schwule, ältere Bruder des Erzählers, Frank. A Son of the Circus (1994) ist reich ausgestattet mit Frauen, die mal Männer waren, es zum Teil noch sind, sich nicht festlegen wollen.
Sexueller Missbrauch von Kindern und Jugendlichen sowie Vergewaltigung kommen in fast allen Romanen Irvings vor, ersteres ist das Hauptthema in Until I Find You von 2005. Weiterhin das Recht auf Abtreibung, um das Iriving The Cider House Rules (1985) geschrieben hat. Alles in Allem: John Irvings bisherige Romane haben sexuelle Selbstbestimmung gründlich und in vielerlei Facetten durchgespielt – und das sind nur die, die mir ohne Nachschlagen eingefallen sind (die Veröffentlichungsjahre habe ich aber nachgeschlagen).
Warum also nochmal ein Irving-Roman zu diesem Thema, genauer: In dem es explizit fast ausschließlich darum geht? Weil, so fürchte ich, Irving diesmal vor allem eine BOTSCHAFT hatte. Was meiner Erfahrung nach als Hauptmotivation fürs Schreiben einem Roman nicht gut tut.
In One Person ist die fiktive Autobiographie von Billy, geschrieben aus der Perspektive des Fast-Siebzigjährigen. Die Botschaft wird im letzten Absatz des Romans nochmal unterstrichen: “Don’t put a label on me—don’t make me a category before you get to know me!“ (Kursivsetzung im Original.)
Die Geschichte beginnt mit Billys crush auf die Bibliothekarin Miss Frost, als er 15 ist: „I’m going to beginn by telling you about Miss Frost.“ In Vor- und Rückschauen rollt dieser Ich-Erzähler die Geschichte seiner Familie in einer Kleinstadt in Vermont aus, von Anfang an sind dabei sexuelle Orientierung und Geschlechtsidentität Thema, in vielen, vielen Schattierungen. Der Erzähler selbst ist sowohl zu Buben, später Männern als auch zu Frauen hingezogen. Und das wird in vielen Details reflektiert und diskutiert, unter fast allen Personen des Romans – genau hier setzte meine Skepsis ein: Es stieß mir als ausgesprochen unrealistisch auf, dass eine ganz normale amerikanische Familie in den frühen 60ern so frank und frei über Sexualität spricht, und nicht einmal damit als besonders markiert wird.
Billy outet sich mit 18 als bisexuell, geht mit seinem ersten Liebhaber auf Europareise, studiert in New York (er will Schriftsteller werden), ein Jahr in Wien, lebt im New York der 70er, erlebt Anfang der 80er das anfangs so mysteriöse massenhafte und qualvolle Sterben von Schwulen, hat Partnerschaften und Freundschaften. Das alles ist detailreich, ergreifend und interessant genug, um die Leserin bei der Stange zu halten.
Doch gleichzeitig bleibt die Geschichte sehr explizit und unsubtil: Die zentralen Charakterzüge und vor allem Charakterfehler der Hauptfiguren drückt uns der Ich-Erzähler wieder und wieder rein, doch richtige Konflikte kommen praktisch nicht vor – nicht mal äußere: In Wien lebt Billy Mitte der 60er problemlos mit einer Frau unverheiratet in Untermiete, davor schon war er ja mit einem Liebhaber auf Europareise, ohne dass sich irgendwo irgendjemand daran zu stören schien. Die Geschichten, die ich über solche Situationen von nicht erfundenen Menschen aus dieser Zeit gehört habe, klingen ganz anders.
Die Erzählstimme ist schlicht und platt, Nebenhandlungen fehlen. In Erzähltechnik steckt Irving seinen Ehrgeiz offensichtlich seit einigen Romanen nicht mehr, das tat er zuletzt in Widow for One Year (1998).
Das zeigt sich auf der Metaebene auch in einem Nebenthema des Romans: Literaturrezeption taucht in In One Person immer wieder auf, es werden Shakespeare-Stücke diskutiert und einige Romanklassiker. Doch der Ansatz ist immer deutlich vormodernes 19. Jahrhundert: Über die Charaktere wird rein psychologisierend gesprochen – von wem war nochmal „Siegmund Freuds Einfluss auf Shakespeare“?1, der einzige andere Aspekt ist Freude an poetischer Sprache.
Doch die Fertigkeit, eine Geschichte möglichst gut und vielleicht sogar künstlerisch interessant zu erzählen, scheint Irving nicht mehr recht zu interessieren. Indirektes Vermitteln von Information, das durch die Art der Vermittlung weitere Information transportiert – das konnte Irving mal meisterlich. Nach Widow for One Year scheint ihm das egal geworden zu sein. Ich vermisse den früheren Irving sehr.
Kunst ist jetzt durch BOTSCHAFT ersetzt. Das Lesen, das in In One Person beschrieben wird (englische Klassiker des 19. Jahrhunderts, darunter natürlich wieder Irvings Liebling Dickens, zudem als zentraler Roman Madame Bovary), hat die Funktion seelisch zu erbauen und aufzuklären, beschrieben werden auch immer wieder kathartische Prozesse angestoßen durch Lektüre – der Verdacht liegt nahe, dass Irving darin auch den Zweck von In One Person sieht. Doch ich bin Zweckliteratur gegenüber misstrauisch: Ich verdächtige sie automatisch des Manipulationsversuchs. Der Sache (Recht auf sexuelle Selbstbestimmung fördern) hätte Irving vielleicht mit einer PR-Kampagne mehr gedient.
Noch ein paar Details, die mir auffielen:
– Im ganzen Roman wird deutsche Literatur (vor allem Goethe und Heine) korrekt zitiert – ein erstes Mal bei Irving und eine große Freude.
– Ja, der Ringsport spielt wieder eine Rolle, diesmal aber ringt der Protagonist nicht selbst.
– Bären tauchen auf – in einer charmanten Nebenvariante.
– Während es im Vorgängerroman Last Night in Twisted River zentral um Essen und Kochen ging (in Until I Find you eher um Essstörungen), kommt Essen in In One Person überhaupt nicht vor – so sehr nicht, dass es auffällt.
Das mag sich bisher so gelesen haben, als hielte ich In One Person für einen schlechten Roman – nicht doch! Das Buch ist spannend, voller Charaktere, die ich gerne kennengelernt habe. Sehen Sie mir nach, dass mir vor allem auffällt, was der Roman nicht ist und was er hätte sein können. John Irving ist unter seinen Möglichkeiten geblieben.
Nachtrag: Andere Meinungen zu diesem Roman.
– The Guardian “John Irving’s memorable hymn to individuality”
– The New Yorker (Achtung: Spoiler!) “Irving is intent on depicting the plague years with solemnity and feeling, and, if he doesn’t fully succeed in re-creating the way we lived then, he achieves a piercing, intermittent fidelity.”
– The New York Times (Achtung: Spoiler!) “If ‘In One Person’ were more coherent, Mr. Irving would not deliver his toughest punches from atop a soapbox.”
– The Daily Beast (Noch eine Rezensentin, deren Vater fast exakt so alt ist wie John Irving) “The new frankness that has seeped across society in the post-Garp years has allowed Irving to lay out his inclusive vision in In One Person more explicitly than he has in the past.”
– The Oprah blog “What transforms the story from a predictable novel about private secrets into the story of a young man understanding his identity in the context of his family and past is Irving himself.”
– The Globe and Mail (Achtung: unverschämte Spoiler!) “This is a novel that reaffirms the centrality of Irving as the voice of social justice and compassion in contemporary American literature.”
– Xtra! “In One Person, as a story about sexual differences among people, has real potential to help effect positive change for gay and trans people, especially in the US.”
- Ernsthaft: Es ging in dem Aufsatz natürlich um Rezeptionsgeschichte, nicht um Zeitreisen, und wie die Shakespeares von Freud beeinflusst wurde. Kann mir jemand weiterhelfen? [↩]
7 Kommentare zu „John Irving, In One Person“
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23. Mai 2012 um 10:16
Ich bin ein großer Fan von John Irving. Und bedauere, dass es den aktuellen noch nicht auf deutsch gibt.
Vielen Dank, für diese umfassende Beschreibung
23. Mai 2012 um 11:59
Ich bin kein umfassender Shakespeare-Rezeptionsgeschichts-Kenner, aber erinnere einen sehr frühen Aufsatz einmal angeblättert, aus dem Jahr 1960 von Norman Holland, Freud on Shakespeare, er versucht eine Annäherung und stellt Lesarten und Verbindungslinien her, das ist wenn ich mich nicht völlig falsch erinnere, gar kein schlechter Versuch und gerne sende ich diesen per elektronischer Brieftaube, wenn denn Interesse besteht und nicht gar etwas gänzlich Anderes gesucht ist.
23. Mai 2012 um 13:13
YES, marie_sophie, genau den meinte ich, großen Dank!
Norman Holland ist dann auch naheliegend als früher Reader Response Theorist, sein 5 Readers Reading habe ich eventuell sogar daheim. Und den Aufsatz kriege ich hier:
http://www.jstor.org/discover/10.2307/460328?uid=3737864&uid=2129&uid=2&uid=70&uid=4&sid=21100817662541
Wir können heutzutage Shakespeare nunmal nicht rezipieren, ohne Freud’sche Konzepte als Filter mitzudenken.
23. Mai 2012 um 14:46
Dieses “hammering it home to the people” einer Botschaft ist aber auch dem frühen (oder mittleren) Irving nicht fremd, wie ich finde. Cider House Rules neigte stellenweise schon zum sehr Pamphlet, Owen Meany las sich in meinen Augen bereits wie ein überdick bemaltes theologisches Thesenpapier. (Es war mit ein Grund, weshalb Widow for a Year als letzter Irving-Band weiterhin ungelesen hier liegt.) Immerhin gelang es ihm, noch genügend Geschehen und autarke Charaktere um diese Botschaften zu versammeln, nun klingt es, als sei ihm tatsächlich auch dieser Wille abhanden gekommen. Ist es denn immerhin auch komisch?
23. Mai 2012 um 15:50
Widow empfehle ich dann hiermit gleich mal, kid37, die Protagonistin Ruth Cole ist eine meiner liebsten fiktionalen Figuren überhaupt jemals.
Komisch? Diesen Irving sonst so wichtigen Punkt habe ich ganz übersehen. Nein, eigentlich nicht. Auch dafür fehlt der technische Ehrgeiz.
Das mit den plumpen Botschaften in früheren Romanen sollte ich wirklich durch Wiederlesen checken. The Hotel New Hampshire kam mir ja beim letztjährigen Wiederlesen plötzlich überladen und manieriert vor.
23. Mai 2012 um 16:08
Ach, das Historikerherz freut sich immer, wenn Interdisziplinarität so praktisch funktioniert. Da passt auch gut der Satz von Karl Kraus der befand, Shakespeare habe alles vorausgewusst, und der von Harold Bloom, Shakespeare habe uns erschaffen, der sich um Freud habe uns Shakespeare wenn nicht lesen gelehrt, so doch ein Lesezeichen in die Hand gegeben, ergänzen ließe. Ein sehr feiner Leser im besten Freudschen Sinne nicht nur von Shakespeare ist, wie ich finde, Jan Philipp Reemtsma.
27. Mai 2012 um 21:31
Bin noch mittendrin im Lesen, da ich mich momentan einfach nicht auf Bücher konzentrieren kann. Artikel-Länge der ZEIT geht gerade noch. Ich hoffe, dass sich das wieder ändert. Jedenfalls: Herzlichen Dank für Ihren Einblick bzw. Ihre Meinung. Ich liebe Irving einfach so sehr, dass ich ihm Vieles verzeihe und ihm einfach gerne “zuhöre”. Aber die BOTSCHAFT geht mir doch auch ein bisserl auf die Nerven. PS: JA, Ruth Cole ist grandios. Ich mochte aber auch Marion sehr – sogar in der Verfilmung (A door in the floor), in der sie von einer wunderbar traurigen Kim Basinger gespielt wurde…