Für den Titel des Buches (im Interview mit Kotzendes Einhorn verrät die Autorin, dass sie nichts damit zu tun hatte) gehört der Ullstein-Verlag ordentlich durchgeschüttelt. Da war er schon schlau genug zu erkennen, dass in Alexandra Tobor, die ich seit Jahren bei Twitter als silenttiffy lese, ein wundervolles Buch steckt – und dann das. Nein, meine Damen und Herren, zwischen den Pappdeckeln verbirgt sich keineswegs, was der Titel androht. Keine Schenkelklopfer, keine Stereotypen, sondern ein Stück menschliche europäische Geschichte. (Auf der Rückseite des Buches steht groß „Goodbye, Polen!“ – das wäre ein deutlich weniger peinlicher Titel gewesen.)
Schon nach der Lektüre von Pia Ziefles Suna war mir aufgefallen, dass es höchste Zeit für deutsche Migrationsliteratur ist. Auch Alexandra Tobor füllt diese Lücke ein wenig, aber ganz anders als Suna. Zwar lädt auch ihre sehr personale Perspektive mehr zum Miterleben einer Migrationsgeschichte ein als zum Lernen darüber. Doch der kleinere zeitliche Ausschnitt, die geradlinige Erzählung, die Sicht des Kindes Ola machen sie leicht zugänglich. Im Nachwort erklärt Tobor, dass das Buch keine Autobigrafie ist, sondern die Erlebnisse vieler Menschen kombiniert – das macht die Geschichte repräsentativ für viele Menschen, während Suna von der Einzigartigkeit der Geschichte geprägt ist.
Ich selbst habe schon wieder ein bisschen über meine eigene Familiengeschichte gelernt. Während in Suna die Gastarbeitervergangenheit meines spanischen Vaters durchklang, hörte ich durch Sitzen vier Polen im Auto Echos der Geschichte meiner polnischen Mutterfamilie. Zwar wurde meine polnische Großmutter bereits Anfang der 1940er als Zwangsarbeiterin nach Deutschland verschleppt und kehrte nie wieder nach Polen zurück (komplizierte Geschichte – was Psychologisches), doch ich erkannte viele ihrer Werte und Ideale in der beschriebenen polnischen Familie der 1980er wieder. (Und meiner Mutter war als Schulkind selbstverständlich noch „Polackenzipfe“ nachgerufen worden. Während viel später ein Schulfreund meines Bruders aus unserer speziellen Familienmischung liebevoll „Spanacken“ machte.)
In Sitzen vier Polen im Auto erleben wir Alexandra, Ola genannt, als kleines und als Schulkind in ihrem polnischen Heimatdorf. Wie sie sich nach den bunten Spielzeugen und Kleidungsstücken aus dem Westen verzehrt, wie die industriell hergestellten Lebensmittel von dort einen solchen Zauber haben, dass selbst leere Verpackungen als Tauschwährung taugen.
Da ich 1987 zehn Tage in Danzig auf Chorreise war, untergebracht mit zwei weiteren Sopränern in einer Privatfamilie im Plattenbau, hatte ich viele innere Bilder zu ihren Beschreibungen. Unter anderem zu der Verherrlichung westlicher Körperpflegeprodukte: Wir waren von den Organisatoren der Reise gebeten worden, so viel wie möglich von diesen Waren mitzubringen. Wie war es mir peinlich gewesen, von meinem mageren Einkommen nur billigstes Haargel, Großpackungen Zahnpasta und Shampoo vom Discounter als Gastgeschenke überreichen zu können – und wie verlegen machte mich der enthusiastische Dank meiner Gastfamilie dafür.
Im Jahr darauf besuchte uns der damals gastgebende Danziger Knabenchor in Bayern. Ich organisierte das Freizeitprogramm, brachte einige Buben bei meinen Eltern und meiner Oma unter. Und ich musste mit all den jungen Burschen fertigwerden, die nach einem Besuch im Provinzkaufhaus mit leerem Blick fast zusammenbrachen. Oder den Orangensaft zum Frühstück horteten, um ihn ihren Eltern daheim mitzubringen. Nein, ich konnte damals kein bisschen darüber lachen, ich kann es auch heute nicht. Das alles nahm mir einige Unbefangenheit im Leben mit dem hiesigen Überfluss.
Und so konnte ich auch über Alexandras Sehnsüchte und Nöte nicht lachen; ich wusste einfach zu genau, wie schmerzvoll sie waren. Ihr Buch machte mir zudem die vielen Konsequenzen nachvollziehbar, die diese Haltung bei der Einwanderung nach Deutschland hatte. Hier waren in den 80ern zerrissene Jeans schick, wo die polnischen Einwanderer gewohnt waren, Wohlstand durch gepflegte Kleidung zu zeigen – und damit fing das Lernen der Migranten erst an. Tobor nutzt geschickt die Perspektiven ihrer Hauptpersonen, um das Aufeinanderprallen der Kulturen zu beschreiben: Hauptsächlich ist das die Wahrnehmung ihres achtjährigen Alter Ego Ola, doch einige Lücken füllt die Erwachsenensicht aus den Augen ihrer Eltern oder der vulgären Nachbarn („Lux!“), auf die die Familie schon bei der Ausreise aus Polen getroffen war. Über allem thront göttinnengleich der Blick der weisen und durchsetzungsstarken Oma: Sie hatte sich schon weder durch die Sterbensanfälle der kleinen Ola noch durch die sozialistische Propagandabürokratie täuschen lassen, sie fällt auch nicht auf die Großkotzigkeit und die Glitzerwelt des Westens herein. Und in ihrer Mischung aus Pochen auf gutes Benehmen und dröhnendem Auftreten hat sie mich durchaus an meine polnische Oma erinnert (die nie das Haus verlassen hätte, ohne sich sorgfältig herzurichten, unter ihrem feinen Hut aber der verhassten polnischen Nachbarin – alle polnischen Nachbarinnen waren ihr verhasst – Unflätigkeiten zurief).
Der Tonfall von Sitzen vier Polen im Auto ist durchaus liebevoll heiter, aber das überlässt Alexandra Tobor den Inhalten und legt nicht auch noch sprachlich drauf. Eine unbedingte Leseempfehlung.
Wer mal reinlesen möchte in das Buch, kann es in diesem Probekapitel.
Und gestern veröffentlichte die Autorin auch noch das Foto eines Gegenstands aus dem Buch, den ich für hoffentlich erfunden gehalten hatte.
Übrigens kommt in Sitzen vier Polen im Auto eine polnische Negerpuppe vor, die genau so genannt wird. In ihrem Blog erklärt Tobor, warum kein anderes Wort für sie in Frage kam. Eine kluge Bereicherung der Debatte, die sich seit Wochen durch mein Internet zieht.