Nachdem meine Gedanken, ob man Literatur nachträglich dem Zeitgeist anpassen darf, zu einer Diskussion über Formen von Rassismus und über persönliche Erlebnisse mit sprachlicher Diskriminierung wurde (ehrlichen Dank für den verhältnismäßig sachlichen Tonfall, ich freue mich über diese Kommentatoren und Kommentatorinnen), setze ich nochmal mit meiner eigentlichen Frage an. Und stelle mich nach denen von Ray Bradbury (der in Deutschland vielleicht nicht so bekannt ist) auf die Schultern eines weiteren Riesen: Robert Gernhardt. Der veröffentlichte 1990 in der Zeit den Aufsatz „Darf man Dichter verbessern? Eine Annäherung in drei Schritten” (hier der Link zur offensichtlich von Maschinen eingelesenen Online-Version). Ich fasse die Langversion des Aufsatzes zusammen, aus Robert Gernhardt, Gedanken zum Gedicht, Zürich 1990.
Schritt 1 nennt Gernhardt „Man kann Gedichte verschlechtern“.
Im Alter ging Goethe redigierend über sein Jugendwerk und nahm ihm derart das Feuer, „daß der Verehrer des Dichters Goethe all jenen Dank schuldet, die dessen frühe Gedichte vor dem Lektor Goethe dadurch retteten, daß sie – im Gegensatz zu ihm – Urschriften oder Abschriften aufbewahrten“.
Der nächste Kandidat ist Georg Trakl; auch von ihm stellt Gernhardt eine erste, kraftvolle Gedichtversion der späteren lahmen Fassung gegenüber.
Die Pointe dieses ersten Schritts: Gernhardt schrieb als Oberstufenschüler selbst einmal ein Trakl-Gedicht, trug es im Unterricht vor samt Interpretation.
Der nächste Schritt lautet „Man kann Gedichte verändern“.
Gernhardt stellt Zitate in ihrer sprichwörtlichen Überlieferung den Originalen gegenüber: Oft unterscheiden sie sich, ebenso wie einige angebliche Zitate, die ganzen Essays zugrunde gelegt werden. Das, so Gernhardt, könne allerdings durchaus ein Hinweis auf eine Verbesserbarkeit einer Passage sein. Er zitiert dazu einen Briefwechsel zwischen Friedrich Torberg (hach!) und Alexander Lernet-Holenia mit weitere Beispielen dafür, dass Gedächtnis-Versionen besser sein können als das Original.
Worauf es 3. heißt „Man kann Gedichte verbessern“.
Es geht unter anderem um ein Rilke-Gedicht, das eher peinlich und zudem wirklichkeitsfremd auf einem Südländer-Stereotyp herumreitet sowie um deutsche Italien-Gedichte voll geologischen und botanischen Humbugs. An einige Gedichte legt Gernhardt dann Hand an, glättet schiefes Vokabular, ersetzt eine Doppelung und macht sich zuletzt über ein eigenes Gedicht her (in dem das Wort „Neger“ sehr dominiert – das hatte ich völlig vergessen und es soll keine Provokation sein, obwohl es noch dazu bei Gernhardts Selbstverbesserung keineswegs um ein Ersetzen dieses Wortes geht).
Es folgt als Bonus ein vierter Schritt „Dürfen sich Gedichte verbessern?“.
Gernhardt schaut Brecht beim Überarbeiten anderer Leut Gedichte zu, die er für sein eigenes Werk verwendet. Und jetzt kommt er zu seinem Punkt, zu seinem „Machtwort“:
Dichter sind doch keine Maler und Gedichte keine Unikate! Anders Bilder: Da freilich wäre es ein unersetzbarer Verlust, hätte ein Slevogt in einem Original von Caspar David Friedrich herumgemalt, ein Braque in einem Bonnard oder ein Mondrian in einem Manet.
Wenn aber zwei Dichter zusammenstoßen, in dem Werk des einen, geht ja nicht das Gedicht drauf, im Gegenteil: Entweder bleiben ein bisheriges und verschlechtertes Gedicht übrig oder ein bisheriges und ein verändertes oder ein bisheriges und ein verbessertes – auf jeden Fall verdoppelt sich die Zahl der Gedichte.
Was allerdings bedeutet, meine Damen und Herren, und jetzt komme ich wieder zu meiner Ausgangsfrage: Klar können Sie ein Werk von Astrid Lindgren umdichten, bis es ihren Ansprüchen genügt. Aber dann ist es ein neues Werk, nämlich Ihres, und nicht mehr das von Astrid Lindgren.
(Das nächste Mal an dieser Stelle: Hätte man Goethes Rechtschreibung besser nie modernisiert?)