Archiv für Juni 2012

Neues aus den Webs – Bitte um Lesestoff

Freitag, 8. Juni 2012

Unsere Geschlechterstereotypen werden zu großen Stücken durch persönliche Erfahrungen aufrecht erhalten – wie halt alle Stereotypen. Der Mensch speichert früh etwas als Muster ab (egal ob es nun ein belegbares und falsifizierbares Muster ist oder eine Fehleinschätzung auf ungenügender Basis) und tendiert dazu, alle weiteren Erfahrungen als diesen Mustern zugehörig abzuspeichern, damit seine Stereotypen eher zu verstärken als zu hinterfragen.

Dass bei der Verstärkung der vorhandenen Geschlechterstereotypen der eigene Partner eine große Rolle spielt, liegt auf der Hand. Und so merkte ich schon früh in meinem Arbeitsleben, dass ich tendenziell einfacher mit Chefs und Kollegen auskomme, deren Partnerinnen erwerbstätig sind. Mit einem befreundeten Manager scherzte ich schon vor zehn Jahren, dass bei der Auswahl von männlichen Führungskräften diejenigen bevorzugt werden sollten, deren Partnerin beruflich erfolgreich ist: Zum einen wären sie tendenziell vor zu hoher Gewichtung der eigenen Position geschützt, zum anderen wären sie beruflich erfolgreiche Frauen ja schon mal gewohnt und könnten gelassen damit umgehen.

Nun zeigt eine Studie, dass der Scherz berechtigt war: “Men may be subconsciously looking at women through the lenses of their own marriages.”
Die Studie heißt “Marriage Structure and Resistance to the Gender Revolution in the Workplace” und wurde von Sreedhari D. Desai, Dolly Chugh und Arthur Brief durchgeführt:

In this article, we examine a heretofore neglected pocket of resistance to the gender revolution in the workplace: married male employees who have stay-at-home wives. We develop and empirically test the theoretical argument suggesting that such organizational members, compared to male employees in modern marriages, are more likely to exhibit attitudes, beliefs, and behaviors that are harmful to women in the workplace. To assess this hypothesis, we conducted four studies with a total of 718 married, male participants. We found that employed husbands in traditional marriages, compared to those in modern marriages, tend to (a) view the presence of women in the workplace unfavorably, (b) perceive that organizations with higher numbers of female employees are operating less smoothly, (c) find organizations with female leaders as relatively unattractive, and (d) deny, more frequently, qualified female employees opportunities for promotion.

Gayle Tzemach Lemmons Reflexion der Studie in The Atlantic greift einen Aspekt heraus: Die Chefs, die Frauen beschützen wollen und glauben, damit genderneutral zu handeln. Ich dachte sofort an Männer, die ständig betonen, wie besonders wertvoll Frauen in der Firma wegen ihrer Weiblichkeit sind, also wegen ihrer Emotionalität, Empathie und Fürsorge. Und die auf Kritik an dieser Haltung beleidigt reagieren, weil sie doch ihre besondere Wertschätzung zu Ausdruck gebracht zu haben glaubten.

Auch hier ein Wort der Warnung: Selbstverständlich gibt es Ausnahmen (auch mir fallen sofort welche ein) – doch diese Ausnahmen widerlegen nicht die Grundtendenz.

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Ganz was Anderes. Es sind nun doch fast Wochen ins Land gegangen, in denen kein neuer Fall einer schrecklichen Kindesmisshandlung oder -tötung durch die eigenen Eltern durch die Medien ging. Aber die Öffentlichkeit einschließlich ihrer gewählten Vertreter schien sich einig, dass zur Verhinderung weiterer Fälle sehr früh im Prozess angesetzt werden muss, dass überforderten Eltern geholfen werden muss, um die Kinder zu schützen.

Diese besorgte Öffentlichkeit sollte dringend wissen, welche Form das tatsächlich annimmt, was eigentlich diese Verhinderung und dieser Schutz wert sind. Tadellos himmelblau kann es Ihnen sagen: 14,95 Euro Stundenlohn.

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Das Blog von Moni, Gedankenträger, gibt es schon immer. Und seither lese ich es. Eines der großen Themen des Blogs ist Monis autistischer Sohn John, und weil Moni ganz wunderbar schreiben kann, habe ich über die Jahre viel über Autismus gelernt, über Alltag, Schulmöglichkeiten für Autisten in Berlin und über die haarsträubende Bürokratie dahinter.

Dass aus dieser Mischung, interessantes Thema und gute Schreibe, ein Buch werden könnte, liegt nahe. Moni hat sogar einen noch interessanteren Erzählanlass gefunden: Sie ist mit John durch Europa gereist und hat viel dabei erlebt. Doch um das Buch Tomorrow can wait Wirklichkeit werden zu lassen, braucht es Geld (dass ich es beim besten Willen nicht verstehen kann, warum Verlage nicht sofort und mit Hurra! auf die Idee angesprungen sind, belegt wahrscheinlich meine komplette Ahnungslosigkeit in Verlagsdingen). Moni und Co-Autor/Partner Scott versuchen, es sich über die Crowdfunding-Plattform Kickstart zu holen. Dort kann man sich für verschiedene Unterstützungbeträge eintragen, und wenn am Stichtag die angestrebte Summe zusammengekommen ist, wird dieser Betrag auch in Anspruch genommen. Das geht mit einem Facebook- oder Amazon.com-Konto über zwei Klicks.


Ich würde das Buch wirklich gerne lesen, deshalb bitte ich Sie ganz egoistisch um Unterstützung des Projekts.

Weltkulturerbe Well

Donnerstag, 7. Juni 2012

Dieses Jahr stand mein Kammerspiel-Abo unter keinem günstigen Stern: Die Abende der Aufführungen folgten allesamt Tagen, nach denen mir überhaupt nicht der Sinn nach Theater stand. Der gestrige sah zunächst nach einem weiteren solchen aus: Am Abend zuvor war ich erst spät ins Bett gekommen, hatte am Morgen vor der Arbeit einen Zahnarzttermin (nichts Schlimmes, nur mal wieder professionelle Reinigung), wollte nach der Arbeit in die Muckibude und dann noch für den heutigen Feiertag einkaufen. Doch dann gab der Mitbewohner einen Anruf der Kammerspiele weiter: Die Vorstellung müsse abgesagt werden. Statt dreier Kurzstücke von Sarah Kane („Folge eines dunklen, beunruhigenden Oeuvres (…), in dem Vernichtung und Selbstzerstörung wichtige Themen sind“) werde es einen Hausmusikabend mit den Geschwistern Well geben. Schlagartig sah der ganze Tag anders aus.

Die drei Well-Brüder, die bis vor Kurzem die Biermösl Blosn bildeten, gehören eng zu meinem Erwachsenwerden. Auf Chortourneen sangen wir einander im Bus ihre Lieder vor, (mir fällt als erstes „Annamirl“ ein, das eine Mitsopranistin aufs Bewegendste zum Vortrage zu bringen wusste – ob jemand zuhören wollte oder nicht), „Gott mit dir, du Land der BayWa“ lässt sich ja auch schnell auswendig lernen. Niemand sonst hat der Teenager-Kaltmamsell so früh begreiflich gemacht, dass Politik etwas mit ihr zu tun hat und nicht nur mit Parlamentariern in Bonn.

Von dieser Well-Show in den Kammerspielen hatte ich vor Monaten gelesen: „Fein sein, beinander bleibn“ – sechs Geschwister der Well-Familie schenken sich zum fast 50-jährigen Bühnenjubiläum einen gemeinsamen Auftritt, oder, wie sie selbst es bezeichnen, eine „Familienaufstellung auf volksmusikalischer Basis”. Das wollte ich unbedingt sehen.

Also nahm ich sogar in Kauf, dass ich auf dem Heimweg zweimal eingeregnet wurde, vom schwer bepackten Radeln zudem durchschwitzt war, mich also eigens fürs Theater duschen und umziehen musste. Aber der Abend war es sowas von wert. Auf dem nächtlichen Heimweg fragte ich mich, ob man eigentlich auch Familien zum UNESCO Weltkulturerbe ernennen kann – die Well-Familie wäre ein Kandidat.

Der Blick aus dem leider spärlich besetzten Zuschauerraum (klar, wer schwenkt schon so kurzfristig um) auf die Bühne war zunächst der oben auf dem Foto. Das Zählen der Instrumente gab ich bei 40 auf. Dabei setzten die drei Well-Frauen (Bärbi, Burgi Moni – als die Wellküren schon seit Jahren im Musikgeschäft) und drei Well-Männer (Stofferl und Michael kannte ich von der Biermösl Blosn, Klausi hatte ich noch nie gesehen) noch erheblich mehr Instrumente ein, als anfangs zu sehen waren. (Ich lernte sogar ein Instrument neu kennen: Die Nonnentrompete, hier im Einsatz bei den Wellküren.)

Die Rahmengeschichte (Regie Franz Wittenbrink) ist eine Probe für die nächsten Auftritte. Abwechselnd erzählen die Geschwister von diesen geplanten Auftritten (zum Beispiel zur im August anstehenden Hochzeit von Lafontaine und Wagenknecht in der Wieskirche, es traut der Münchner Erzbischof Marx) und geraten sich auf die verschiedenste Art und Weise in die Haare (ein Vorfall mit einem Schürhakl in der Küche, an dem mindestens die beiden Jüngsten Moni und Stofferl beteiligt waren, damals anderthalb und drei Jahre alt, spielt eine Schlüsselrolle).

Zweieinhalb Stunden spielten die sechs quer durch alle Musikrichtungen, die sich mit vier Dutzend Instrumenten und sensationeller Musikalität wiedergeben lassen (ja, Anke, Wagner war auch dabei) – mittlerweile nehme ich an, dass der Stofferl jedes Instrument, das es überhaupt auf der Welt gibt, konzertreif spielt. Wobei „die sechs“ nicht korrekt gezählt ist: Hinten links auf der Bühne thronte über dem allen „d‘ Mutti“ in einem riesigen Ohrensessel, die schöne, kleingebeugte weißhaarige und mittlerweile 92-jährige Mutter der 15 (fünfzehn) Well-Kinder. Sie wurde nicht nur in die Dialoge eingebunden, sondern hatte auch den einen oder anderen Zither-Part.

Ich bekam unter anderem zu hören:
– ein böse gerocktes „Da Teifi soi di hoin!“ der drei Schwestern (Melodie passte zu Klausis T-Shirt „Highway to Well“ – die dürfen das), bei dem Moni ihr Hackbrett fast in Stücke drosch
– klassischen Dreigsang
– einen schottischen Marsch (Stofferl am Dudelsack) mit Clog-Schuhplattl-Crossover-Tanz
– Rennaisance-Musik mit Harfe und Drehleier
– einen fröhlichen Schunkel-Beitrag für die Fernsehsendung „Zuchtperlen der Volksmusik“ mit dem Titel „Wer nimmt d’ Oma, die liegt im Koma“
– Schnaderhüpfl
– einen Rap für einen anständigen Milchpreis („Fourty Cent! Fourty Cent! Oder dei Audi brennt!“) – für den der rappende Stofferl eine Wollmütze aufsetzte und seine kurze Lederhose auf unter Hüfthöhe runterzog
– diverse Jodler, wobei der Andachtsjodler darin endete, dass sich drei Alphörner aus der Bühne nach oben schoben. Die die drei Brüder, um darauf spielen zu können, ins Publikum schoben – irgendwer wird die Enden schon festhalten, Michael gab mit einer Geste den Tipp, dieses auf die Schulter zu legen.
– ein Alphorn-Medley, das in „We will rock you“ kulminierte
– den Bolero von Ravel, auf den sich, wie ich jetzt weiß, hervorragend schuhplatteln lässt

So ein Spaß! Und wenn jeder singen und unzählige Instrumente spielen kann, sind auch drei bis vier Zugaben kein Problem – das Familienrepertoire muss unerschöpflich sein.

Was mir wieder auffiel: Das Bayrisch der Wells ist nicht ganz meines, also kein reines Oberbayrisch. So sprechen sie das Wort Eltern nicht wie ich „Eytern“ aus, sondern „Oitern“, auf der Annamirl-Aufnahme ist außerdem ein deutliches „woascht“ statt meinem oberbayrischen „woaßt“ zu hören. Ich nehme an, das ist so weit südwestlich bereits der Einfluss des Allgäus.

So oder so: Falls sie die Show noch irgendwie erwischen (zweieinhalb Stunden durchgehendes Bayrisch! Wo gibt es das sonst in München?), schauen Sie sich die an. Anfangen könnten Sie mit der Fotogalerie auf der Kammerspiele-Website und der Fotogalerie bei den Wellküren.

Den Rapp von Little Milli gibt’s sogar beim YouTube:

Sehnsuchtsüberfall

Sonntag, 3. Juni 2012

Gerade als ich mir einen schwarzen Tee aufbrühte, überfielen mich die Erinnerungen. Sie trank nämlich nur Tee, nie Kaffee – auch wenn sie für Gäste Kaffee im Haus hatte. Genauso wie sie versuchte, immer eine Flasche Wein oder Bier im Haus zu haben für Gäste, obwohl sie selbst keinen Alkohol mochte (nur Rum zum Backen gehörte zu ihren Standardvorräten).

Ich kannte sie so gut, zumindest ihre Gewohnheiten und Vorlieben. Was eigentlich in ihr vorging, was sie antrieb, habe ich nie gewusst – doch das fiel mir erst auf, als ich mich innerlich schon lang von ihr gelöst hatte. Wir waren im Alter zwischen 16 und etwa 25 eng befreundet. Dass sie sich mit 28 vor anderen als meine „beste Freundin“ bezeichnete, war bereits befremdlich. Doch gerade eben erinnerte mich der Duft des schwarzen Tees an sie, und ich vermisste die Freundin von damals sehr.

Ihr schönes Bayrisch, tendenziell Niederbayrisch, durchsetzt mit selbst erfundenen Wörtern. Ihre tiefe Loyalität Freunden und Partnern gegenüber, aber auch ihre schnellen, bösen Aburteilungen mancher Menschen. Ihr frühe, große Eigenständigkeit, vor allem in materiellen Dingen – laut ihrer Erklärung musste sie sich sogar Schulsachen selbst kaufen und verdiente deshalb schon mit 14 eigenes Geld mit Zeitungsaustragen. Wie großartig sie erzählen konnte! Während ihres Studiums unterhielt sie selbst große Gesellschaften mit ihren Erlebnissen als Aushilfe bei der Telefonauskunft („Sechs fünf, sechs fünf, SECHS!“ – jemand hatte nach einem Bestellservice für Essen gefragt und nicht aufgehört, ihr Details seiner kulinarischen Vorlieben zu schildern, sie antwortete eisern mit der Telefonnummer des damals einzigen Pizzaservices der Stadt) und als Türsteherin einer Schwulendisco („Rosette zusammenkneifen und immer schön mit dem Rücken zur Wand bleiben – dann kann gar nix passieren“ – zu Heterogästen aus der Provinz, die zum Schwulengucken gekommen waren).

Wie stolz sie auf ihr sehr langes Haar war – den Stolz auf ihre schöne große Nase, so bilde ich mir ein, brachte allerdings erst ich ihr nahe. Einen Fingernagel ließ sie sich einige Jahre immer ganz lang wachsen und lackierte ihn schwarz. Ihr Schnäppchenjagdeifer: Im Schlussverkauf schaffte sie es immer wieder, aus einem Stapel mit auf 50 Mark reduzierten Designerteilen das eine rauszuzupfen, das nur 20 Mark kostete und auch noch das mit Abstand schönste war. Ich habe nie jemanden kennen gelernt, der so konsequent und erfolgreich handelte wie sie: Da war auf einem Herrenschwaige-Flohmarkt das dunkelviolette Trachtenkostüm, edelstes Material, das ohnehin für Appel und Ei angeboten wurde – sie packte es für die Hälfte ein. Überhaupt Flohmärkte: Sie führte mich in diese Welt ein und war im Endeffekt dafür verantwortlich, dass meine Kleidung einige sensationelle alte Stücke enthielt und dass mein erster Hausstand sich aus abgelegten Flohmarktschnäppchen zusammensetzte statt aus Allerwelts-Ikea. Warten’S, ein paar Wermutgläser von damals habe ich immer noch:

Auf dem Schrank ihrer Studentinnenwohnung stapelten sich Dutzende Jeans – sie besaß ungeheuer viel Kleidung. Und sie kleidete sich gerne mehrmals am Tag um; ein schneller Aufbruch zum Ausgehen war völlig unmöglich („oder soll ich doch das blaue anziehen, wart’, ich zeig’s dir schnell“), ihr Gepäck auf Urlaubsfahrten unüberschaubar.

Sie war eine große Strickerin, gehörte mit mir in den 80ern unserer Schulzeit zu den Schülerinnen, die praktisch durchgehend während des Unterrichts unter der Bank vor sich hin nadelten. Zwei Paar Socken, die sie mir gemacht hat, habe ich immer noch. Solange ich noch bei meinen Eltern wohnte, verbrachten wir Stunden bei Tee, Stricken und Diskussionen in meinem Zimmer. Später fanden diese Diskussionen in unseren eigenen Wohnungen in verschiedenen Studienstädten statt, meist bei Frühstücken, die bis in die Abendstunden andauerten.

Die junge Frau links, die gerade meiner Bitte „Mach doch mal die Ente“ nachkommt, das ist sie (Chorfestival 1985 in Hannover). Mit dieser 17-Jährigen würde ich mich so gerne nochmal unterhalten.

Katherine Boo, Behind the Beautiful Forevers

Freitag, 1. Juni 2012

Sie kennen diese Vorwörter, die Sie sich bald wünschen, nicht gelesen zu haben, weil Sie Ihre anschließende Lektüre des Haupttextes so stark färbten? Und die als Nachwörter viel nützlicher gewesen wären? Zum ersten Mal geht es mir umgekehrt: Teile des Nachworts, das die Autorin an ihr Buch Behind the Beautiful Forevers anschließt, wären besser ein Vorwort gewesen, eine Einführung.

Ohne diese Einführung schwamm ich nämlich ein paar Dutzend Seiten lang, in welcher Textsorte ich mich wohl gerade befand. Ich war des verehrten Salman Rushdies Empfehlung auf Twitter gefolgt, als ich Boos Buch bestellte (die leidenschaftlichste Empfehlung, die ich je von Rushdie gesehen hatte):

Ich wusste, dass ich non-fiction vor mir hatte, doch die Handlung begann in medias res wie ein spannender Roman: Ein junger Mann flieht vor Verfolgung durch die Polizei durch einen nächtlichen Slum. Danach wird die Handlung ruhiger, wir erfahren die Hintergründe, die zu dieser Situation führten – ohne dass auf Spannung oder Effekte gezielt wird.

Im Mittelpunkt steht der Slum Annawadi, der sich hinter dem immer weiter modernisierten Flughafen von Mumbai erstreckt, genauer: Hinter einer Betonmauer am Mumbaier Flughafen, auf der als Werbung auf Kacheln abwechselnd die Wörter beautiful und forever stehen – daher der Titel des Buches. Erst aus dem Nachwort geht hervor, dass Boo dort dreieinhalb Jahre ein und aus ging, um den Slum und seine Bewohner genau kennenzulernen, immer begleitet von Übersetzerinnen. Das Ergebnis ist eine sehr genaue Beschreibung der dortigen Lebensumstände und ihrer Mechanismen. Ebenfalls aus dem Nachwort erfuhr ich, dass die Journalistin Boo sich seit langer Zeit für benachteiligte Bevölkerungsgruppen interessiert und dabei vor allem für die Wege, mit denen Angehörige dieser Gruppen versuchen, dieser Benachteiligung zu entkommen.

Die Hauptfiguren der beschriebenen Entwicklungen sind zum einen der jugendliche Müllhändler Abdul, ältester Sohn der elfköpfigen muslimischen Familie Husain. Er ist fleißig, ehrgeizig und besonnen, setzt alles daran, den langsamen Aufstieg seiner Familie fortzusetzen. Zum anderen sind da die Kindergärtnerin mittleren Alters Asha und ihre Familie. Asha engagiert sich politisch, um so schnell wie möglich slumlord zu werden, außerdem soll ihre jugendliche Tochter Manju als erste Slumbewohnerin einen College-Abschluss machen.

Nichts an Behind the Beautiful Forevers ist reißerisch oder zynisch, auch wenn viele Details der Lebensumstände emotional berühren. Die Ausweglosigkeit des Systems wird klar, das in jedem Aspekt auf Korruption basiert, auch die ungewollten Folgen westlicher Hilfsprojekte werden gründlich und in all ihrer Komplexität beschrieben. Und doch prangert Boo nicht an, sondern konstatiert lediglich. Das aber tief und sorgfältig. Sie eröffnet dadurch die Chance, das Leben in diesem Slum zu verstehen, in Höhen und Tiefen und in seiner ganzen Vielfalt. Denn selbstverständlich gibt es auch hier Starke und Schwache, Fleißige und Faule, Ehrgeizige und Beharrende, Verschlagene und Aufrechte, Verzweifelte und Ausgeglichene. Boo gibt ihnen mit ihrem Buch ihre einzigartigen Gesichter, zeigt sie als Individuen mit individueller Würde, richtet ein Mikroskop auf die sonst anonyme Masse „Slumbewohner“. Lösungen bietet sie keine an – auch das macht den Tonfall des Buches besonders.

Dicke Leseempfehlung – hoffentlich wird das Buch auch ins Deutsche übersetzt.

Eine empfehlenswerte Besprechung bietet die New York Times.

Ebenfalls gut, wenn auch etwas reißerisch ist die Besprechung in der Washington Post.