Weltkulturerbe Well

Donnerstag, 7. Juni 2012 um 10:41

Dieses Jahr stand mein Kammerspiel-Abo unter keinem günstigen Stern: Die Abende der Aufführungen folgten allesamt Tagen, nach denen mir überhaupt nicht der Sinn nach Theater stand. Der gestrige sah zunächst nach einem weiteren solchen aus: Am Abend zuvor war ich erst spät ins Bett gekommen, hatte am Morgen vor der Arbeit einen Zahnarzttermin (nichts Schlimmes, nur mal wieder professionelle Reinigung), wollte nach der Arbeit in die Muckibude und dann noch für den heutigen Feiertag einkaufen. Doch dann gab der Mitbewohner einen Anruf der Kammerspiele weiter: Die Vorstellung müsse abgesagt werden. Statt dreier Kurzstücke von Sarah Kane („Folge eines dunklen, beunruhigenden Oeuvres (…), in dem Vernichtung und Selbstzerstörung wichtige Themen sind“) werde es einen Hausmusikabend mit den Geschwistern Well geben. Schlagartig sah der ganze Tag anders aus.

Die drei Well-Brüder, die bis vor Kurzem die Biermösl Blosn bildeten, gehören eng zu meinem Erwachsenwerden. Auf Chortourneen sangen wir einander im Bus ihre Lieder vor, (mir fällt als erstes „Annamirl“ ein, das eine Mitsopranistin aufs Bewegendste zum Vortrage zu bringen wusste – ob jemand zuhören wollte oder nicht), „Gott mit dir, du Land der BayWa“ lässt sich ja auch schnell auswendig lernen. Niemand sonst hat der Teenager-Kaltmamsell so früh begreiflich gemacht, dass Politik etwas mit ihr zu tun hat und nicht nur mit Parlamentariern in Bonn.

Von dieser Well-Show in den Kammerspielen hatte ich vor Monaten gelesen: „Fein sein, beinander bleibn“ – sechs Geschwister der Well-Familie schenken sich zum fast 50-jährigen Bühnenjubiläum einen gemeinsamen Auftritt, oder, wie sie selbst es bezeichnen, eine „Familienaufstellung auf volksmusikalischer Basis”. Das wollte ich unbedingt sehen.

Also nahm ich sogar in Kauf, dass ich auf dem Heimweg zweimal eingeregnet wurde, vom schwer bepackten Radeln zudem durchschwitzt war, mich also eigens fürs Theater duschen und umziehen musste. Aber der Abend war es sowas von wert. Auf dem nächtlichen Heimweg fragte ich mich, ob man eigentlich auch Familien zum UNESCO Weltkulturerbe ernennen kann – die Well-Familie wäre ein Kandidat.

Der Blick aus dem leider spärlich besetzten Zuschauerraum (klar, wer schwenkt schon so kurzfristig um) auf die Bühne war zunächst der oben auf dem Foto. Das Zählen der Instrumente gab ich bei 40 auf. Dabei setzten die drei Well-Frauen (Bärbi, Burgi Moni – als die Wellküren schon seit Jahren im Musikgeschäft) und drei Well-Männer (Stofferl und Michael kannte ich von der Biermösl Blosn, Klausi hatte ich noch nie gesehen) noch erheblich mehr Instrumente ein, als anfangs zu sehen waren. (Ich lernte sogar ein Instrument neu kennen: Die Nonnentrompete, hier im Einsatz bei den Wellküren.)

Die Rahmengeschichte (Regie Franz Wittenbrink) ist eine Probe für die nächsten Auftritte. Abwechselnd erzählen die Geschwister von diesen geplanten Auftritten (zum Beispiel zur im August anstehenden Hochzeit von Lafontaine und Wagenknecht in der Wieskirche, es traut der Münchner Erzbischof Marx) und geraten sich auf die verschiedenste Art und Weise in die Haare (ein Vorfall mit einem Schürhakl in der Küche, an dem mindestens die beiden Jüngsten Moni und Stofferl beteiligt waren, damals anderthalb und drei Jahre alt, spielt eine Schlüsselrolle).

Zweieinhalb Stunden spielten die sechs quer durch alle Musikrichtungen, die sich mit vier Dutzend Instrumenten und sensationeller Musikalität wiedergeben lassen (ja, Anke, Wagner war auch dabei) – mittlerweile nehme ich an, dass der Stofferl jedes Instrument, das es überhaupt auf der Welt gibt, konzertreif spielt. Wobei „die sechs“ nicht korrekt gezählt ist: Hinten links auf der Bühne thronte über dem allen „d‘ Mutti“ in einem riesigen Ohrensessel, die schöne, kleingebeugte weißhaarige und mittlerweile 92-jährige Mutter der 15 (fünfzehn) Well-Kinder. Sie wurde nicht nur in die Dialoge eingebunden, sondern hatte auch den einen oder anderen Zither-Part.

Ich bekam unter anderem zu hören:
– ein böse gerocktes „Da Teifi soi di hoin!“ der drei Schwestern (Melodie passte zu Klausis T-Shirt „Highway to Well“ – die dürfen das), bei dem Moni ihr Hackbrett fast in Stücke drosch
– klassischen Dreigsang
– einen schottischen Marsch (Stofferl am Dudelsack) mit Clog-Schuhplattl-Crossover-Tanz
– Rennaisance-Musik mit Harfe und Drehleier
– einen fröhlichen Schunkel-Beitrag für die Fernsehsendung „Zuchtperlen der Volksmusik“ mit dem Titel „Wer nimmt d’ Oma, die liegt im Koma“
– Schnaderhüpfl
– einen Rap für einen anständigen Milchpreis („Fourty Cent! Fourty Cent! Oder dei Audi brennt!“) – für den der rappende Stofferl eine Wollmütze aufsetzte und seine kurze Lederhose auf unter Hüfthöhe runterzog
– diverse Jodler, wobei der Andachtsjodler darin endete, dass sich drei Alphörner aus der Bühne nach oben schoben. Die die drei Brüder, um darauf spielen zu können, ins Publikum schoben – irgendwer wird die Enden schon festhalten, Michael gab mit einer Geste den Tipp, dieses auf die Schulter zu legen.
– ein Alphorn-Medley, das in „We will rock you“ kulminierte
– den Bolero von Ravel, auf den sich, wie ich jetzt weiß, hervorragend schuhplatteln lässt

So ein Spaß! Und wenn jeder singen und unzählige Instrumente spielen kann, sind auch drei bis vier Zugaben kein Problem – das Familienrepertoire muss unerschöpflich sein.

Was mir wieder auffiel: Das Bayrisch der Wells ist nicht ganz meines, also kein reines Oberbayrisch. So sprechen sie das Wort Eltern nicht wie ich „Eytern“ aus, sondern „Oitern“, auf der Annamirl-Aufnahme ist außerdem ein deutliches „woascht“ statt meinem oberbayrischen „woaßt“ zu hören. Ich nehme an, das ist so weit südwestlich bereits der Einfluss des Allgäus.

So oder so: Falls sie die Show noch irgendwie erwischen (zweieinhalb Stunden durchgehendes Bayrisch! Wo gibt es das sonst in München?), schauen Sie sich die an. Anfangen könnten Sie mit der Fotogalerie auf der Kammerspiele-Website und der Fotogalerie bei den Wellküren.

Den Rapp von Little Milli gibt’s sogar beim YouTube:

die Kaltmamsell

21 Kommentare zu „Weltkulturerbe Well“

  1. Sue meint:

    Sensationell, der Fourty Cent Rap wird mich eine Weile begleiten.

  2. walküre meint:

    Was für ein genialer Text !!!!!
    Wahnsinn.
    Bei den Kattas haben SIE mich beneidet, jetzt bin i dran mit Loadsegn.

  3. Lena meint:

    A Draum!

  4. Georg meint:

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    Gerne gelesen, gerne gehört, (wäre) gerne dabeigewesen.
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    Ob allerdings “reines Oberbayrisch” ein eindeutig definierbarer Zweig das Bairischen ist, möchte ich doch in Frage stellen. Ich behaupte beispielsweise, dass sowohl in Ihrer Geburtsstadt als auch an den Orten meiner Kindheit irgendwo zwischen Isar/Inn/Isen und Chiemgau “echtes” Oberbayrisch gesprochen wird — und sich die Idiome dennoch in vielen Details unterscheiden.

  5. Thea meint:

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    Gerne gelesen

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  6. Hans-Peter meint:

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    Gerne gelesen

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  7. iv meint:

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    Gerne gelesen

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  8. antje meint:

    auch haben will!!

  9. Dentaku meint:

    Das hätte ich auch gern gesehen(/hört).

  10. Kathrin Zellerer meint:

    Ich durfte gestern Abend “Weltkulturerbe Well”
    in Forstern erleben.
    Einfach genial!

  11. philine meint:

    Liebe Kaltmamsell, da gratuliere ich Ihnen herzlich! Ich hatte das grosse Vergnügen die Generalprobe sehen zu dürfen und habe mich köstlichst amüsiert. Beim Bayerischen der Biermöslblasn spielt das nördliche Augsburgerisch eine grosse Rolle, also der Einfluss vom Allgäu. Aber die bayerischen Varianten sind gross: so wird im Chiemgau manches anders ausgeprochen, als im Fünfseenland bis über nach Bad Tölz, dem Kernland von Oberbayern.
    Richtung Garmisch-Partenkirchen, Richtung Linderhof, Neuschwanstein sind bereits österreichische Einflüsse vorhanden. Die Sprache ist ein weites Feld

  12. Mel meint:

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    Gerne gelesen

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  13. padrone meint:

    Very, very Well!

  14. Stofferl Well meint:

    Sehr geehrte Frau Kaltmamsell,
    das freut mich aber, daß wir Ihnen mit unserem Auftritt so eine Freude bereitet haben!
    Wissen Sie, es ist komisch und nicht leicht für ein Publikum zu spielen, welches eigentlich ein anderes Stück sehen wollte und noch dazu, zahlenmäßig gesehen, handverlesen war. Aber wie ich so da oben auf der Bühne gestanden bin und mir die Zuhörer/innen einzeln anschaue, denk ich mir beim Singen und Musizieren, welche Gnade es doch ist, wenn das, was einem persönlich so eine Gaudi und Freude bereitet, wieder eine Gaudi und Freude beim Zuschauer auslöst. Es wird praktisch gaudi- und freud‘mäßig multipliziert und die Gesamtheit der Freude und Gaudi wird immer größer. Wie Sie als Publikum Ihre Freude in Form von Lachen, Zuhören und Applaus mitteilen ernährt unsere Freude am Erfreuen, hält sie am Leben. Und Ihr Kommentar hat mich eben auch grad arg gefreut!
    Ganz herzlichen Gruß von Christoph Well.

  15. die Kaltmamsell meint:

    Die große Gaudi- und Freud-Multiplikation – ja, das schaffen Sie immer wieder, Stofferl Well. Und eben grad wieder. Haben wir ein Dussel! So vielen Dank.

  16. katha meint:

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    Gerne gelesen

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  17. Sabine meint:

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    Made my day

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  18. Alessa meint:

    Heute, 01.01.2013, um 20.15 Uhr kommt eine Aufzeichnung des Abends im Bayerischen Fernsehen.

  19. die Kaltmamsell meint:

    Vielen Dank für den Hinweis, Alessa! (Hatte ich fast im selben Moment in der Programmzeitschrift entdeckt.)

  20. Alessa meint:

    Gerne doch ! Ich dachte, ich erwähne es hier in den Kommentaren – und werde die Gelegenheit natürlich nutzen (wenn TV auch kein Ersatz für live sein mag).
    Alles Gute für’s neue Jahr, Frau Kaltmamsell !

  21. philine meint:

    Und heute abend geht Stofferl Well im Bayerischen Fernsehen um 19.45, also am 4.1.2013 auf musikalische Deutschlandreise. Viel Vergnügen.

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