Archiv für Juli 2012

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Dienstag, 10. Juli 2012

Bachmannpreis 2012 – Aufräumen

Montag, 9. Juli 2012

Der Bachmannpreis für Olga Martynova freut mich – allerdings war das Niveau der Texte dieses Jahr so hoch, waren die Einreichungen so vielfältig, dass ich keinen echten Favoriten hatte. Unterm Strich wurden alle meine Lieblinge ausgezeichnet: Martynova mit der scheinbar leichten Erzähltestreihe im Provinzstädtchen, Matthias Nawrat mit seinem grün-alternativen Schwarzwald-Mad Max, Lisa Kränzler mit ihren vom Zeitgeist vergifteten Kindergartenmädchen, Inger-Maria Mahlke mit der durch glasklare Sacherzähltechnik getriebenen Frau, Cornelia Travnicek mit dem für mich heutigsten Text und hervorragendem uneigentlichen Erzählen. Seit langem interessiert mich die Zukunft der deutschsprachigen Literatur wieder, ohne dass ich sehnsüchtig ins Englischsprachige schiele.

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Den Samstagabend hatte wieder der Lendkanal verzaubert: Eine halb-improvisierte Bar am Endstück des Lendkanals, nur aus Ausschank sowie Tischen und Stühlen im Freien bestehend. Zu welcher Kneipe kann man schon paddeln?

Und wo wird so höflich Graffiti ferngehalten?

Hier mischten sich gesellig Kandidaten, Jurymitglieder, ORF-Personal, Verlagswelt und Schlachtenbummler des Bachmannpreises, wie sonst nur nachmittags im Strandbad Maria Loretto.

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Am Sonntag nach der Preisverleihung meine erste und einzige richtige Mahlzeit dieser Klagenfurtrunde: ein schöner Ruccolasalat mit gebratenen Tomaten und Lammkottelets. Bis zur Abfahrt Schlendern durch die Innenstadt, Blicke in Schaufenster. Als ich mich gerade an der Konventionalität dieses Tortendekoausstatters ergötzen wollte, wies mich meine Begleitung auf durchaus unkonventionelle Details hin, die ich Klagenfurt nicht zugetraut hätte.

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Nach dem letztjährigen Heimfahrtsdesaster stattete ich mich vorsichtshalber gut mit Proviant aus. Und kurz nach der deutsch-österreichischen Grenze sah schon wieder alles nach Unwetter aus, dann hielt auch noch der Zug auf freier Strecke. Doch wir kamen nochmal davon: Das Hindernis war eine Signalstörung, wir trafen mit lediglich halbstündiger Verspätung in München ein.

Das Zugabteil teilte ich mit fünf jugendlichen Pfadfinderinnen. Nicht nur weiß ich jetzt, dass die Jugend heutzutage (TM) noch Stadt-Land-Fluss spielt, sondern auch, dass eine rätselhafte Ponywelt existiert, die so reich bevölkert ist, dass sie eine eigene Kategorie in diesem Spiel hergibt. Und ich lernte von den fünfen das Wort „Computergammeln“ („Hat der irgendwelche Hobbys?“ „Na ja, Computergammeln halt.“) – eine echte Bereicherung meines Vokabulars.

Nachtrag: Halt! Es gab ja einen weiteren Preis in Klagenfurt! 45 Minuten vor dem Preis im ORF-Theater erhielt Matthias Nawrat den Preis der Automatischen Literturkritik der Riesenmaschine.

Bachmannpreis 2012 – der Samstag

Samstag, 7. Juli 2012

Kindheitserinnerungen mit Tieren – das Themenspektrum der diesjährigen Bachmannpreistexte kippte 2012 schon fast lachhaft stark in diese Richtung.

Ein kindliches Ich erzählte auch in Matthias Nawrats (eigenständiger!) Geschichte „Unternehmer“. Nawrats Lesung, vorgeschlagen von Hildegard E. Keller, eröffnete den dritten und letzten Tag der deutschsprachigen Literatur in Klagenfurt.

Diesmal war die Handlung im südlichen Schwarzwald angesiedelt. Ein junges Mädchen an der Schwelle von Kindheit zu Jugend beschreibt ihr Familienleben, in dem der Vater alte Elektro- und Elektronikgeräte auf Rohstoffe auschlachtet, dabei seine beiden Kinder als Helfer einsetzt. Die alternative Lebensweise der Familie erinnert an gesellschaftliche Aussteiger, übrig geblieben aus der Anti-Atomkraft-Bewegung der 80er, die als Selbstversorger den Kapitalismus hinter sich lassen wollen. Das Ziel, das der Vater als Traum vorgibt, ist die Auswanderung nach Neuseeland. Das Unternehmertum, das bereits der Titel der Erzählung nennt, ist ein ziemlich abseitiges: Der Vater scheint zum Beispiel kein Problem damit zu haben, dass sein Sohn bei der Jagd nach alten Maschinenteilen einen Arm verliert: „Weil ein Unternehmen seine Opfer fordert.“ Auch die Sprache orientiert sich nicht am üblichen Gebrauch, macht sich durch künstliche Substantivierung sperrig. Und die Tiere? Diesmal hatten wir Frösche in einer Nebenrolle.

Daniela Strigl nannte die Erzählung, die ihr gefallen habe, eine „Parodie des Familienidylls“, die ein Kleinunternehmen der besonderen Art zeige. In einer ganz besonderen Sprache würden Menschen gezeigt, die ihre existenziellen Niederlagen in Triumphe uminterpretierten. Sie erwähnte auch die eingewobene Pubertätsgeschichte, äußerte ihre Dankbarkeit dafür, dass die Frösche nicht gequält wurden.

Ein postapokalyptisches Szenario hatte Paul Jandl gesehen, in der die kalte Industriewelt (für ihn war das Schlüsselwort „Anlassversprödung“) kontrastiert werde mit dem Traum des Mädchens von einer weichen Welt. Er nannte den Text originell und zu Herzen gehend. Dem stimmte Burkhard Spinnen zu – er war allerdings enttäuscht, keine Fortsetzung zu bekommen dieser „behüteten bundesrepublikanischen Welt“, in der jede Bäckerei noch ein Stühlchen bereit stellt. Er habe eine Exposition bekommen mit einer schlicht aufgemachten Pubertätsgeschichte, die dann einfach aus war.

Hubert Winkels gab Spinnen inhaltlich recht, sah das aber nicht als Problem. (Wie Strigl sprach auch Winkels von corporate identity – allerdings in einem für mich nicht fassbaren und irritierenden Sinn; da draußen in echten Unternehmen versteht man auf jeden Fall etwas anderes darunter.) Winkels lobte die sprachliche Konzentration auf technische Hybride, in der auch Metallspulen Herzen seien. Doch für ihn sei der Text „verrutscht“ mit zu vielen disparaten Elementen. Hildegard E. Keller meldete sich, sie „helfe meinen beiden Kollegen gerne auf die Sprünge“. Denn für sie zeige der Text exemplarisch, was Literatur vermag. Die Sprecherfunktion des Ich führe vor, wie ein Kinderbewusstsein gestaltet sei: Das Mädchen verteidige ihre Position als Assistentin mit Stolz, glaube sich im freiwilligen Konsens mit den Vorgaben des Vaters – und bemerke nicht, dass es sich um ein erzwungenes Einverständnis handle. Die Träume von Neuseeland seien im Grunde die der Kinder; der Vater halte sie lediglich im Gang. Unklar war Keller aber der Vater: Sei er ein Kleinkrimineller? Arbeitslos? Der Autor löse diese Schlüsselfigur nicht auf. Für sie zeigte die Geschichte ein Fenster aus der beschriebenen Trostlosigkeit: die Liebe.

Schwierigkeiten mit dem Text hatte Corina Caduff: Sie habe keine Orientierung darin gehabt, so wenig, dass sie begonnen habe, die zahlreichen Fachbegriffe aus der Chemie und der Elektrotechnik zu googlen. (Auch ich hatte einen starken Hang zu „Wikipedia-Literatur“ entdeckt, wie Kathrin Passig das nennt, zitiert nach Herrndorf: „Neues, sinnlos mit Realien überfrachtetes Genre, das sich der Einfachheit der Recherche verdankt.“) Dennoch fand sie toll, wie trotz unwirklicher Atmosphäre die Erzählperspektive der Tochter gestaltet sei. Die Pubertätsszene habe sie zwar überrascht, doch sie habe vor allem die Sprache gemocht.

Meike Feßmann nannte den Text eine „moderne und glückliche Variante von Hänsel und Gretel“ und war damit die einzige Leserin, die keine Düsternis und Trostlosigkeit gesehen hatte. Für sie war er eine realistische Geschichte aus dem Schwarzwald mit ganz gelöster Stimmung. (Ich weiß ja nicht, ob sie absichtlich gerne die abwegigste Sicht auf einen Text darlegt.) Daniela Strigl wandte ein, dass sie in diesem Realismus keinen Vater unterbringen könne, der seinen Sohn einen Arm verlieren lässt. Für Strigl handelte es sich um einen Kommentar zum Kapitalismus: Die Familienmitglieder würden ja als konkurrierende Arbeitskräfte geschildert.

Eine Aussteigergemeinschaft sind die Figuren der Geschichte für Paul Jandl: „Eine Familie erschafft sich einen privatökonomischen Kreislauf.“ Das war für Burkhard Spinnen sogar die Überblendung eines bundesrepublikanischen Szenarios zu einer Favela-Familie, die mit Abfall ihren Lebensunterhalt bestreitet. Er fand den Text „wunderbar“, aber nur „als erstes Kapitel – bitte weitermachen“.

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Dann wurde es richtig lustig. Matthias Senkel, vorgeschlagen von Jandl, las die Erzählung „Aufzeichnung aus der Kuranstalt“, wieder einen eigenständigen Text. Seine Kommödie um den Literaturbetrieb erntete beim Vorlesen viel Gelächter, das allerdings im Lauf der Geschichte deutlich abnahm. Mir gefiel sehr gut, wie er immer noch eine weitere Themen- und Metaebene einflocht, mit der Ebene des God Games als abschließende Kirsche auf der Sahne.1

Winkels sprach dann auch von einer „klugen und witzigen Geschichte“. Diese Satire auf den Literaturbetrieb mache durch die permanente Neu- und Umschreibung die Realität zur Möbiusschleife. Der Text bringe so viel auf so wenig Plaltz unter – das gehe nur mit der verwendeten Protokollsprache. Genau die warf Meike Feßmann dem Text vor: Es handle sich um die „typische Klagenfurtgeschichte über das Schreiben, die irgendwann kommt“, eine auf die Dauer ermüdende Idee ohne eigene Sprache.

Viel mehr davon wünschte sich Corina Caduff. Sie sah den Stil eines Exposés für einen Roman, den sie gerne lesen würde. In der Kürze fehle der Raum für eine literarische Gestalt. „Ganz viel Substanz“ habe der Text für sie, in der Idee liege viel Potenzial (diesmal entschuldigte sie sich für den Ausdruck – möglicherweise hatte Carduff mitbekommen, dass ihre bisherigen Anmerkungen, der Text oder die Autorin hätten Potenzial, als gönnerhaft empfunden wurden). Paul Jandl wandte ein, dass das Protokoll ein erprobtes Stilmittel für Satire sein, in diesem Fall für die Satire eines „paranormalen Literaturbetriebs“. Feßmann zählte auf, wer das alles besser geschrieben hätte, und schimpfte, „man sollte sprachliche Armut nicht auch noch als subtil verherrlichen“. Jandl blieb ruhig und verwies auf den wahrscheinlichen impliziten Erzähler des Textes: den ermittelnden Inspektor.

Strigl wunderte sich, dass von allen Autoren hier mehr gefordert werde. Sie nannte die Geschichte „sehr komplex, dicht gewoben“, lobte die vielen Einfälle, darunter den eines „literarischen Hypochonders“ (hm – meinte sie vielleicht eher Simulant?). Die Erzählung sei sehr intelligent gemacht, verliere allerdings an Fahrt. Aber es sei „absolut legitim, Satire mit Mitteln konzentrierter Schlichtheit zu erzählen“. Keller zählte einige der zahlreichen Elemente des Textes auf: Historischer Roman, Kulturbetrieb, Familiengeschichte, traumatisierter Pole, James Bond – die Leserin werde immer wieder in eine neue Richtung gerissen. Sie habe damit ein sprachliches Problem.

Das alles spreche der Text doch explizit an, argumentierte Jandl, allein schon mit der Nennung des fiktiven Buchtitels Fragments of the Masterplan. Während Keller nochmal haderte, worum es nun gehe, um den Literaturbetrieb oder Investment Banking, machte der Text für Jandl „die Künstlichkeit des Literaturbetriebs sichtbar“.

Es war dann Hubert Winkels, der die Klammer lieferte: Auch die Finanzwelt verlasse sich auf Legenden und Geschichten, aus denen Prognosen erstellt würden, „alles ist ein Effekt vom Erzählen“. Spinnen versuchte sich an einer Zusammenfassung, indem er allem Gesagten zustimmte, gab dann aber seine leidenschaftliche Abneigung gegenüber Texten zu, in denen es um Schaffenskrisen von Schriftstellern gehe. Er zeichnete das Bild des Textes als das eines Jongleurs mit vielen Elementen – von hoher Kunstfertigkeit. Es folgte ein kleineres Gehackel über Intelligenz in Texten, über das Ansinnen, sich von Texten etwas anderes zu wünschen als er tut – bis Winkels und Spinnen in einem klassischen „Nein!“, „Doch!“ „Nein!“, „Doch!“ endeten (verschiedene literaturtheoretische Schulen halt, erklärte Spinnen, Düsseldorf und Münster).

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Nach der Pause sah ich, wie sich die Frühstücksbedienung meines Hotels ins Publikum setzte – das hier scheint tatsächlich auch Klagenfurter zu interessieren.

Leopold Federmair, von Strigl vorgeschlagen, stellte sich im Film als Kosmopolit vor, der seine Wurzeln deutlich in Österreich sieht, aber zu seinen Heimaten auch Argentinien und Japan zählt. In Japan lebt er seit zehn Jahren. Der Titel seiner Geschichte lautete „Aki“.

Schon wieder Jugenderinnerungen, diesmal erinnert sich eine Frau mittleren Alters nach einer Begegnung in der Gegenwart an den jungen Burschen, mit dem sie vor etwa 25 Jahren ein wenig befreundet war: Er 16 und Sohn des Wirts, bei dem die zehn Jahre Ältere als Kellnerin arbeitete. Die Geschichte bedrückte mich, ich sah die schweren Eichenmöbel und den Linoleumboden der Räume unbeschrieben vor mir, das kleine Jugendzimmer, in dem der schmerzhaft picklige Bub sich in Bob-Dylan-Platten und staubige Bücher von Opas Dachboden vergräbt. (Schade, dachte ich mir, dass offensichtlich Rollenspiele an ihm vorbeigegangen waren – in dieser Zeit konnte das die Seelenrettung so manches pickligen Bubs mit abseitigem Lesegeschmack sein.)

Eine „schöne, in Rückblenden erzählte Coming-of-age-Geschichte“ nannte es Winkels, gut gemacht. Ein junger Mensch hoffe auf Erlösung durch Musik. Die Rückblendentechnik sei wichtig, um den Abstand zu zeigen: „Irgendwann ist es vorbei.“

Meike Feßmann hielt den Text für „nicht gelungen“, weil er von einer Frau erzählt werde. Männliches Körperwissen gefiltert durch eine weibliche Erzählerin – das funktioniere nicht. Keller hatte sich gefragt, wer da eigentlich erzähle. Eine ältere Kellnerin? Das glaube sie nicht, das sei nicht die Sprache einer Kellnerin, wobei sie viele Passagen sehr schön finde. Doch es blieben viele Punkte offen.

Für Spinnen war die Zeit, aus der erzählt wird, die 80er, die Zeit der „irren Typen“, wie sie Kerouac in On the Road beschrieben habe. Dieser Typ sei allerdings „erheblich runtergedimmt, was sein Irresein anbelangt“. Er sah in ihm „viel Wollen, wenig Können“, eine ganz traurige Existenz nach der großen Zeit der irren Typen. Keller widersprach später: Die interessante Figur sei doch eigentlich die Erzählerin.

„Geschichte einer verpatzten Erlösung“ war Strigls Zusammenfassung, einer verpatzten Reinigung, Katharsis. Erzählt werde über Räume. Sie traute die Sprache durchaus einer Kellnerin zu. Strigl meinte auch, die Frauenperspektive sei ein Wagnis, sie habe sich aber nicht irritiert gefühlt. „Vergiftete Nostalgie“ entdeckte sie in dieser „ausgesprochen unappetitichen Geschichte“. Feßmann beharrte darauf, dass ein Erzähler kein intimes Körperwissen einer anderen Person besitzen könne.

Jandl nannte den Text „Geschichte eines Spannungsabfalls“, alles löse sich im Halbtraurigen auf. Allerdings habe die Erzählung in ihrer subtilen Dramatik zu wenig Dramatik.

Caduff petzte, dass Federmair die Jury in der Diskussion fotografiert habe, der erste „performative Akt eines Autors“. Sie habe, verführt vom Videoportrait des Autors, die Geschichte die ganze Zeit in Japan spielen sehen und damit die einzige interkulturelle Geschichte des Wettbewerbs. Gelächter im Publikum für die verzweifelte Herbeiziehung an den Haaren, auch wenn Winkels meinte, der Text könnte durchaus global sein.

Zum Schluss fahre die Erzählung noch die richtig großen Geschütze auf, sagte Spinnen und wies auf sogar biblische Referenzen hin. Strigl sah darin einen weiteren Beleg für die Differenz zwischen revolutionärem Ansatz und kleiner Wirklichkeit in der Geschichte.

Feßmann maulte, nach der internationalen Biografie des Autors habe sie sich etwas Spannenderes erwartet. Die anderen Jurymitglieder murrten, Strigl warnte alle künftigen Autoren, ihren biografischen Hintergrund offenzulegen: Er könne offensichtlich jederzeit gegen sie verwendet werden.

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Schon das Autorinnenporträt von Isabella Feimer (Vorschlag von Caduff) brachte das Publikum ob seiner Grenzpeinlichkeit zum Glucksen: Mit Schwarz-Weiß-Bildern spielte Feimer zu dramatischer Musik die Begriffe Liebe, Leidenschaft, Angst, Hass und Stille. Ihr Text „Abgetrennt“ war dann auch das, was ich im Teenageralter als Kurzgeschichten in Frauenzeitschriften gelesen hatte. Es störte fast nicht, dass meine (junge) Sitznachbarin nebenher telefonierte (wtf?). Eine Liebes- und Trennungsgeschichte durchsetzt von Kindheitsgeschichten (in diesem Jahrgang eben ein Muss). Ich war fast froh, dass die Bachmannpreislesungen abschließend noch etwas richtig Grottiges boten – das Durchschnittsniveau wäre ja sonst nicht auszuhalten gewesen.

Überrascht war ich allerdings, wie milde die Jury den Text zunächst anging. Winkels meinte, er hätte sogar eine sehr gute Geschichte werden können, über die Unterwerfung einer Frau unter die Wahrnehmung des Mannes und ihr spätes Sich-Wehren. Doch leider sei sie zu stark instrumentalisiert, erzähle „mit Holzhammer“. Feßmann sprach von einer Geschichte eines Abschieds, eines unnötigen Abschieds aus Angst verlassen zu werden. Caduff erklärte die deutliche Motivation des Sprechers aus einer Verletzung heraus, nannte den Topos des Verlassenwerdens. Sie wies auf die Tiere in der Geschichte hin (ebenfalls dieses Jahr ein Muss), auf Hühner und Fische. Keller brachte sogar „konzeptuelle Klarheit“ zur Sprache (ja, wenn es es sich um das Konzept Frauengazettengeschichte handelt): Das Ich hole einen Mann ins Leben zurück, das es rausgeworfen hatte. Allerdings leuchte die Kindheitsevokation nicht ein. Sie habe die Geschichte „nicht besonders berührend“ gefunden.

Selbst Strigl wurde dann schon kritischer: „Ich bevorzuge es vielleicht, nicht ganz so fest bei der Hand genommen zu werden.“ Zwar fänden wir im Zuge der Verliebtheit an einer Person alles ungeheuer interessant, auch banale Kindheitserinnerungen, doch „das überträgt sich nicht unbedingt auf den Leser“. Sie habe ein Problem mit dem vielen Gefühl, das im Vortrag auch noch betont worden sei. Außerdem, jetzt ließ sie es raus, habe sie eine „Hühnerkopfabtrennungsallergie“. Und dass die verlassene Geliebte mit dem Huhn identisch werde, sei ein „Bauplanfehler“. (Spinnen schloss sich später Strigls Allergie an, obwohl es verboten sei, literarische Topoi zu verbieten.)

Erst Jandl wurde wirklich grob und nannte den Text „klebrig“ und „Schlagerpoesie“. Winkels sah es hingegen als Kunstgriff, die Allerweltsgeschichten zur Verdeutlichung der verschobenen Perspektive im Verliebtsein zu verwenden. Caduff wiederum identifizierte die Suche nach einer Erzählstimme, erst am Ende in der Lyrik habe werde es der Hauptfigur möglich, „Ich“ zu sagen. Woraufhin Jandl begann, genau diese Textpassagen vorzulesen: „Haben Sie gelesen, um welche ‚Poesie‘ es sich handelt?“ Caduff solle doch einen Schlager daraus machen. Winkels versuchte zurückzurudern mit „radikale Unterwerfung in einer poetisch verzierrateten Welt“.

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Am späten Nachmittag Bachmannpreiswettschwimmen im Wörthersee – mit Cornelia Travnicek als definitiv am besten frisierten Teilnehmerin. Näheres und Bilder bei Uwe Wittstock. Als Zuschauer dabei war Christoph Schröder, dessen Berichterstattung für die Zeit über den Bachmannpreis Sie lesen sollten. Für FAZ.net schreibt täglich Jan Wiele, ebenfalls lesenswert.

  1. Wir kamen gestern in Gesprächen darauf: Erzähltechniken von Computerspielen zeigen sich immer häufiger in der Literatur; der Mitbewohner arbeitete sie zum Beispiel letzthin schlüssig und bereichernd für Wolfgang Herrndorfs Sand heraus. In der Literaturkritik bin ich allerdings noch nie über deren Untersuchung gestolpert. Gibt es die? Dann bitte ich im Tipps. Allerdings sind Literaturwissenschaft und Literaturkritik weitestmöglich entfernt von Computerspielerfahrung – anders als Literaturproduzenten. Es ist möglich, dass sie entsprechende Referenzen und Techniken nicht erkennt. []

Bachmannpreis 2012, der Freitag

Freitag, 6. Juli 2012

1. Kindheit, Erinnerung an Kindheit, Verlassen der Kindheit – tatsächlich sind das die derzeit dominierenden Themen des Bachmannpreises 2012.

2. Die Veranstaltung Tage der deutschsprachigen Literatur scheint für manche Rentnerinnen die Alternative zur Kaffeefahrt zu sein. Nachdem gestern meine weißhaarige Nachbarin im ORF-Studio einen Apfel brotzeitete, während Sabine Hassinger las, packte heute eine alte Dame links neben mir gemütlich ein Stück Aprikosenblechkuchen aus der Klarsichtfolie, um ihn zum Text von Cornelia Travnicek zu verspeisen. Dann las sie Zeitung.

Am Vorabend wieder Idylle vorm Schloss Maria Loretto beim Bürgermeisterempfang. Näheres im Blog von Uwe Wittstock.

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Wenn man nach der Länge und Intensität des abschließenden Applauses geht, gibt es zumindest schon eine Publikumssiegerin: Inger-Maria Mahlke, vorgeschlagen von Burkhard Spinnen, die den heutigen Lesetag eröffnete. Ihr selbst erstellter Vorstellungsfilm kam ganz ohne Worte aus und zeigte die Erstellung eines Kunstwerks – ebenso unbetitelt wie ihre Erzählung (später wies Spinnen darauf hin, dass es sich um einen Auszug aus einem längeren Text handle). Mir gefiel ganz ausgezeichnet, wie durch reines showing charakterisiert wird, ein Leben gezeichnet, eine Welt. Wie sich Bild an Bild zu einer Handlung formt, reine Äußerlichkeit geschildert wird und so Abgründe öffnet. Und wie die Sprache durch eine Du-Erzählerin vorangetrieben wird (ist mir zum ersten Mal und dort meisterlich in Iain Banks’ Complicity begegnet).

Die Jury äußerte sich fast durchgehend positiv. (Wie in den Vorjahren stach auch heute Meike Feßmann mit Interpretationen und Sichten heraus, die ich nicht annähernd nachvollziehen konnte.) Hildegard E. Keller fasste die Geschichte als Schilderung der Karriere einer Frau zusammen (no na), das Verbleiben an der Oberfläche stoße an zum näheren Hinsehen. Für Keller war die Du-Perspektive Selbstansprache.

Hubert Winkels meinte zwar, ihm sei es zu viel Geschichte in der Geschichte, doch habe ihm sehr gut die verwobene Struktur der drei Welten gefallen: Lukas-Welt, Bäckerei-Welt, Domina-Welt. Er sah Filmtechniken: Halbtotale und Nahaufnahme, nie aber Totale – erreicht durch die Du-Erzählung. Der Text enthalte sich jeder Moral, überlasse diesen Part dem Leser.

Einen „ganz tollen Text über Auswegslosigkeit“ nannte Corina Caduff die Geschichte, „es geht nie ein Fenster auf“. Sie lobte die reine Oberflächenbeschreibung, durch die freudlose Existenz, Kargheit, Strenge, Unerbittlichkeit entstehe.

Und dann eben die Sicht von Meike Feßmann: Sie sah das Du als eine „sozialtherapeutische Ansprache“, als den kontrollierenden Blick von außen. Sie fand den Text in seiner Distanziertheit „öde“. Sie warf ihm vor, er sei gut gemeint, aber „erniedrigt die Figur, indem er ihr keinen Ausweg lässt“, keine Möglichkeit, aus der ihr zugeschriebenen Rolle herauszukommen. Auf diese dreifach gedrehte Sicht von Plottechnik muss man erst mal kommen (finde ich – wohl nicht als einzige, das Publikum im ORF-Theater murmelte unmutig).

Für Burkhard Spinnen war das Du wieder klare Selbstansprache, die Figur sage sich selbst etwas vor. Für ihn kann der ganze Text nur so funktionieren. Aus seiner Sicht spiegelt sich in ihm die „Zeit, die vom Ökonomischen bedrängt und bedroht wird“.

Dieses Ökonomische sah Daniela Strigl nicht im Vordergrund, eher den Aspekt der Kontrolle, der Gefühle, die die Hauptfigur überraschen. Es gehe dieser darum, das Gesicht zu wahren, wo sie doch überall aus dem Rahmen falle. Das sei nur durch die Du-Perspektive erreichbar.

Paul Jandl sah darin auch Selbstansprache, „nicht das IKEA-Du, sondern das Arbeiter-Du“. Er lobte, wie einfühlend sich die Geschichte auf die Person zubewege. Spinnen brachte noch die Entfremdung des Arbeiters mit ins Spiel, die Totalökonomisierung des Bewusstseins, Keller sah in diesem Du eher die Abwesenheit eines Innenlebens.

Feßmann wollte nun doch, dass die Klischees, die sie im Text entdeckt hatte, stören sollten, fand einige Aspekte unrealistisch (z.B. Verstecken der Tasche vor dem Sohn). Doch Strigl verwies wieder auf den Kern Verstörung und Ratlosigkeit.

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Ich bin ja dann doch einfach gestrickt: Als ich Cornelia Travniceks Nachnamen zum ersten Mal las, hatte ich ihn sofort von Qualtinger ausgesprochen im Ohr. Sie war von Hubert Winkels vorgeschlagen worden. Das Porträtfilmchen führte sie als frisch gebackene Wirtin eines Bubbletea-Ladens ein – ich bin immer noch nicht sicher, ob das nun ein Scherz war oder nicht. Sie las den Romanauszug „Junge Hunde“ vor – Haustieren begegneten wir auch heute reichlich.

Bei meinem ersten Zuhören kam mir der Text wie eine recht harmlose Erzählung von Jugenderinnerungen vor, in der zwei Zeitebenen miteinander verwoben waren. Die Jury, die sich länger mit der Geschichte hatte befassen können, machte mir den Reichtum dahinter klar.

Meike Feßmann freute sich erst mal, dass Tiere in dieser Geschichte endlich einfach Tiere sein dürften. Sie sah einen „warmen Pragmatismus“, nannte die Geschichte „unglaublich gebaut“. Der Anlass der Geschichte sei ja, dass der Vater ins Altersheim gebracht werde, in einem Auto, das sich nach und nach in ein Totenschiff verwandle. Da hatte sie mich dann wieder verloren, da ich selbst nach dem ersten Hören ziemlich sicher war, dass das Auto der Jugenderinnerung nicht identisch war mit dem Gegenwartsauto.

Daniela Strigl hatte viel Sympathie für die Geschichte – allein schon weil sie selbst mal einen Hund namens Mogli gehabt habe. Sie sei scheinbar naiv erzählt und überrasche dann immer aufs Neue mit Einfällen. Theoretisch würde man jedem Autor von dieser Schlichtheit abraten, doch in Travniceks Fall sei die Balance geglückt. Doch Jandl widersprach: Er habe die tiefen Geheimnisse des Textes nicht finden können. Ihm fehle eine zusätzliche Reflexionsebene zur Sicht der 14- bis 18jährigen.

Feßmann griff die Stoffkuh als Symbol auf. Doch wenn ich das richtig verstanden habe, hielt nicht nur sie in der Jury diese Kuh für identisch mit Spongebob. Auch in der Hochkultur sollte man eigentlich ein bisschen Popkulturbildung haben (ich erinnere mich an einen Amerikanistik-Professor, dem wir Studentinnen erklären mussten, dass das „BS“ in einem zeitgenössischen amerikanischen Gedicht, an dem er heruminterpretierte als sei es eine olympische Disziplin, sehr wahrscheinlich einfach die gebräuchliche Abkürzung von bullshit war).

Auch Hubert Winkels war sehr angetan von den immer neuen Wendungen des Texts. Corina Caduff hingegen hatte mal wieder „ein Problem mit der Sprache“: Es fehle ihr „die Eigenständigkeit im literarischen Ton“, sie empfahl eine Überarbeitung. Winkels ließ sich davon nicht bremsen und wies darauf hin, wie durch die Dschungelbuchanspielungen eine weitere Erzählebene mit Adoption und Suche nach Wurzeln eröffnet werde. Der Abschied vom Elternhaus sei „der Raum, in dem dieser Text steht“ (wir haben also auch 2012 noch Erzählräume).

Ein Lanze für Sprache als schlichtes Mittel zum Erzählen brach Meike Feßmann, sie müsse doch nicht immer auffällig sein. In diesem Fall sei sie schlicht und lasse sich dennoch mythologisch ikonografisch lesen. Es folgte ein kurzer Schlagabtausch, als Spinnen kritisch anmerkte, der Text habe ihn nicht beunruhigt, Winkels fragte, ob das Verstören und Beunruhigen denn die Aufgabe der literarischen Produktion sei, Spinnen das bejahte und Strigl für Gleichzeitigkeit verschiedener Aufgaben plädierte.

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Beim nächsten Text büßte ich erstmals massiv für mein Prinzip, mir alle Bachmannpreisgeschichten nur vorlesen zu lassen. Olga Martynowa, vorgeschlagen von Paul Jandl, las mit einem solch heftigen russischen Akzent („zerljegte dass Bihld“, „Charrsträhne“), dass ich viele Wörter nicht verstand, und sie tat sich mit dem Vorlesen so schwer, dass ich irgendwann doch in den Text auf dem Schoß des Nachbarn schielte, ob die Sprecher in ihrer Geschichte wirklich meist mehrfach ansetzten (nein, das war nur die Vorleserin).
Keine Schriftstellerin muss gut vorlesen können; sie muss gut schreiben können. Doch in dieser ganz besonderen Rezeptionssituation ergab sich für mich ein komischer Kontrast zwischen der Karikatur eines Russenakzents und der Geschichte über einen deutschen Buben in einer Kleinstadt: „Ich werde sagen: ‚Hi!‘“ Die mir trotz des Abgelenktseins gut gefiel und mit ihrer Vielfalt an Erzählebenen und Elementen zu einer anregenden Gesamthandlung, einem Gesamtbild wurde.

Carduff begeisterte sich erst mal darüber, dass eine Nicht-native-Speaker hier sei; das dürfe es ruhig öfter geben. Winkler sprach von einer weiteren Form der Leichtigkeit, die durch die verschiedenen historischen Zeiten mäandere. Dazu kämen eine erotisch aufgeladene Atmosphäre, Reflexion des Schreibens, Schreibgeräte vom Moleskine bis zum ipad.

Die Hauptperson Moritz dürfe halt in ihrer Jugend alle möglichen Schreibformen ausprobieren, meinte Strigl anerkennend – und wenn das die Form von 16 Mal „sagte“ auf einer Seite annehme. Meike Feßmann nannte ihn einen „souverän und duftig erzählten Text“, der wie ein Spion die Geschehnisse beobachte und dadurch viel Realität hineinbringe. Paul Jandl entdeckte „die Geburt eines Dichters im Geist der Erotik“, die Lust am Schreiben in verschiedenen Varianten. Carduff mochte vor allem die Sprache, sie „befreit das Literarische vom Pathos“, was Caduff mit der Fremdsprachigkeit der Autorin erklärte.

Strigl wollte die ausländischen Wurzeln der Autorin nicht so wichtig nehmen in der Sprache, fühlte sich beim Selberlesen der Geschichte aber an slawische Erzähltraditionen erinnert, vor allem im Humor.

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„Willste abhauen“ von Lisa Kränzler (vorgeschlagen von Winkels) war eine weitere Kindheitsgeschichte – diese verstörte mich. Die Geschichte scheint harmlos in eine Kindergartenkindheit einzutauchen, doch diese Harmlosgkeit zerbricht in immer dichterer erotischer Atmosphäre, die sich nicht mit Kindergartenniedlichkeit verträgt.

Spinnen ordnete die Geschichte in das Sujet Kindheit als Heimat ein, in die wir nicht zurückkehren können. Ein Schriftsteller stehe dabei vor dem Problem, dass man das kindliche Bewusstsein nunmal nicht mehr habe; jeder Versuch der Rückkehr führe ins Befremden. Kränzlers Text sei ein „hoch instrumentalisierter Versuch“, erwachende Sexualität zu zeigen, die Zuneigung zum Andersartigen. Das tue sie mit „großer Souveränität“. Dem zollte Spinnen Respekt, doch er habe diese Darstellung wie durch eine Panzerglasscheibe empfunden.

Feßmann sprach von einer „Böse-Mädchen-Geschichte“, in der verschiedene Arten von Missbrauch auftauchen. Sie wurde aber von der unkindlichen Darstellung an Doku-Soaps im Privatfernsehen erinnert. Kränzler zeige einen Spiegel der Gesellschaft, das aber „irrwitzig kokett“.

Lob für die Sprache des Texts gab es von Caduff, sie nannte sie „absolut durchgearbeitet“. Für sie stand das Thema Konstruktion und Entwicklung von Körperlichkeit im Zentrum – ein zwar diskursiv schon sehr besetztes Thema, durch Kränzlers Sprache aber erneuert.

Das kindliche Bewusststein in der Geschichte sah Keller „packend und abgründig“ dargestellt. Obwohl die Erzählerin die Handlung bestimme, die Spiele in der Hand habe und kippen lassen könne, scheine ihr die eigene Kindheit dann doch nicht zu gehören.

Daniela Strigl äußerte sich von einigen Schilderungen im Text sehr angetan, zum Beispiel von der Darstellung erotischer Verzückung, entdeckte daneben aber einige „sehr erwartbare“ Formulierungen. Dass offen gelassen werde, wie die Figuren heißen und wo sie wohnen, mache die Geschichte exemplarisch.

Von seiner ersten Begegnung mit dem Text berichtete Hubert Winkels: Ihn habe der Text beim ersten Lesen überraschend „angefasst“, die von Spinnen angeführte Trennwand zum Leseerlebnis könne er nicht nachvollziehen. „Mit großer Eleganz und Souveränität“ habe Kränzler die Zwitterhaftigkeit des Sprechens über Kindheit gemeistert, Winkels sprach von einer „Eindinglichkeit, die mich in den Stuhl wirft“.

Paul Jandl wiederum war vor allem begeistert von der Sprache, vom „hohen ästhetischen Reflexionsniveau“ des „sehr intensiv durchgearbeiteten“ Textes. Er erzähle keine große Geschichte, erzähle aber großartig vom Changieren zwischen Zärtlichkeit und Gewalt.

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Simon Froehling, vorgeschlagen von Caduff, beschloss den Lesetag mit einer Erwachsenengeschichte ohne Tiere – ein echter Ausreißer der diesjährigen Bachmannernte. Der Romanauszug hieß „Ich werde dich finden“. Froehling unterschied sich bislang in Echt am meisten von seinem Autorenfoto, aber das mochte vor allem an der anderen Brille liegen.

Die Erzählung beginnt mit der Vorstellung des Erzählers aus dem Jenseits – waghalsig. Dann war sie so zäh, dass meine Konzentration abschweifte. Sie schaltete rechtzeitig zurück, dass ich mehrere Ebenen einer Kranken- oder Krankenhauserzählung erkannte, es geht um eine Nierentransplantation. Das allerdings für mich als Erstrezipientin wieder reichlich oberflächlich und geradeaus. Gerade nach dem hohen Niveau des bisherigen Lesetages sah ich hier ein Absinken.

Keller versuchte sich an einer interpretierenden Zusammenfassung der Geschichte und erklärte die Erzählerin aus dem Jenseits zur Regisseurin der Handlung. Sie sei gefesselt gewesen und hätte gerne mehr gewusst. Strigl widersprach umgehend: Sie hätte lieber weniger gewusst, der Erzähler halte sich nicht an die selbst explizit auferlegte Struktur vom Anfang. Die transplantationsphilosophischen Fragen, die aufgeworfen würden (Was macht unser Ich aus?), würden nicht beantwortet: Eine „sehr biedere, hausbackene und vorhersehbare Philosophie“. Sie nannte als bessere literarische Bearbeitung des Themas Sabine Grubers Über Nacht.

Winkels sah Max als Erzähler, schließlich setze sich der am Ende hin und beginne zu schreiben. Es werde eine hochkomplexe Erzählsituation aufgesetzt – und dann nichts damit gemacht. Jandl machte eine „Seelenwanderung qua Niere“ aus, sah aber in dem Text keine Seele. Für Spinnen schaffte es die Geschichte aber, aus einer sachlichen Schilderung die metaphysische Herausforderung herauszuarbeiten.

Feßmann kritisierte, dass erst Spannung durch einen Erzähler aus dem Totenreich aufgebaut werde, dieser sich dann aber doch nur als „Teaser“ erweise, aus dem ein auktorialer Erzähler wird. Ihr fiel als besseres literarisches Beispiel zum Thema Leben spenden von Slavenka Drakulic ein. Winkels legte nach mit David Wagner Für neue Leben.

Verschiedene Referenzrahmen hatte Caduff ausgemacht und fragte wie schon gestern, ob es für ein so viel bearbeitetes Thema Literatur brauche, die darüber schreibt. Sie sprach von der „fantasmatischen Beziehung“ zwischen Organspender und -empfänger – was ich erst mal googlen musste: „von eigenen Vorstellungen geprägt“ – ja? Sie lobte, dass auf die Sprachwelt der Technik und Medizin zugegriffen werde, doch ihr war alles zu konstruiert. Die Jury schien sich einig, dass der Text viel anlege und verspreche, dann aber nichts damit mache.

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Wieder ein Lesetag, der mit einem Sommermorgen begann, nachmittags kurz stürmte und regnete, den Abend ruhig ausklingen zu lassen scheint.

Bachmannpreis 2012 – meine bisherige Lieblingsgeschichte

Freitag, 6. Juli 2012

Hier die ausführlichere Version.

Bachmannpreis 2012, der Donnerstag

Donnerstag, 5. Juli 2012

Über die Jahre hat es sich so ergeben, dass die Bachmannpreis-Jury in erster Linie dazu da ist, komplexe Bachmannpreiskandidatentexte für mich transparent zu machen, mir im Grunde zu erläutern, was ich da gerade gehört habe. Denn sehr oft kapiere ich beim ersten Zuhören sehr wenig. An dieser ihrer Hauptaufgabe ist die Jury heute zu einem entscheidenden Teil gescheitert.

Von vorne. Besser noch: Ganz von vorne, nämlich von der Eröffnung der 36. Tage der deutschsprachigen Literatur gestern Abend. Es war deutlich voller als in den vergangenen beiden Jahren, nicht nur im und vorm Studio. Ruth Klügers Klagenfurter Rede zur Literatur war klug und interessant – das größte Aufsehen erregte allerdings, dass die greise Wissenschaftlerin ihre Notizen dazu auf einem Kindle in der Hand hatte. Hier gibt es ihre Rede zum Nachlesen.

Der Tag war heiß gewesen, und bis ich zu Bett ging, kühlte die Nacht kaum ab. So erklärt sich der Regieeinfall, die Ansagerin von 3sat heute ihre Einführung zu den Lesungen mit Füßen in einem Plantschbecken ansagen zu lassen, inklusive der Behauptung, es habe um 10 Uhr bereits 30 Grad im Schatten – was eine glatte Lüge war: In den frühen Morgenstunden war die Temperatur deutlich gesunken, ich hatte im Bett nach der Decke gegriffen.

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Die Startnummer 1 hatte am Vorabend der Bachmannpreiskandidat Stefan Moster gezogen, vorgeschlagen von Burkhard Spinnen. Sein Text trug den Titel „Der Hund von Saloniki“. Im seinem Videoporträt sah man viel Meerwasser und Schiffe, Moster sprach vom Wasser als Projektionsfläche und schaute immer wieder mit weitem Blick auf ein solches, während der Off-Sprecher davon sprach, dass Mosters Figuren ihren Platz in der Welt suchen (yadda, yadda).

Der Text selbst war dann eine klassische Kurzgeschichte (endlich mal kein Romanausschnitt), ziemlich geradeaus geschrieben, mit angenehm vielen unerklärten Details (warum trägt die Tochter des Erzählers Kopftuch?) und einer Menge Zeitkolorit aus den 80ern – meine Güte, Svende Merians Der Tod des Märchenprinzen hatte ich ja schon völlig vergessen.

Hubert Winkels sprach dann auch von einer „schönen Eröffnung“, die „ruhig und intensiv“ erzählt werde, bewunderte den „inneren Bau“, sah in der Geschichte eine „im Erzählerischen gelöste Meditation über das Erinnern“.
Hildgard E. Keller war ebenfalls angetan, verwies auf die Tradition „der Hund in der Literaturgeschichte“, mochte, wie Moster die Zeitebenen verzahnt habe und wie er erzähltechnisch die Erinnerungs- und die Jetztebene an den Leser führe.
Jury-Neuling Corina Caduff (die ihre Wortmeldungen immer wieder für Grundsatzaussagen zu Kultur und Literatur zu nutzen versuchte) äußerte sich begeistert über die Eröffnungsszene, fand aber, dass die Geschichte im Fortlauf an Substanz verloren habe.
Daniela Strigl hatte sich an der Sprache und an schönen Sätzen gefreut, stolperte dann aber über faktische Unwahrscheinlichkeiten wie den Hund, der einen im Schlafsack schlafenden Menschen einfach ins Bein gebissen haben sollte.

Burkhard Sinnen verwies auf die eigentiche Geschichte: Dass jemand ein Erlebnis, das er für prägend und unauslöschlich gehalten hatte, gleich wieder vergessen habe, dass „die Gleichzeitigkeit der Reflexion der Bedeutung mit dem Erleben“ nur ins Vergessen führen könne.
Meike Feßmann und Paul Jandl waren eher skeptisch: Nach Feßmanns Meinung enthielt der Text „des Guten zu viel“, weil er alles erkläre. Und Jandl wünschte sich, dass ein Hund in einer Geschichte endlich mal „einfach nur ein Hund“ sein dürfe statt einer „motivischen Auslegware“. Als er das im Detail ausführte und dann auch noch kritisierte, dass die Reflexionsebene des 18-Jährigen fehlte, warf ihm Spinnen das übertrieben akribische Verhalten eines „stalinistischen Zollbeamten“ vor – großes Gelächter (und meine Prognose, dass das in irgendeiner Überschrift über den diesjährigen Bachmannpreis landen wird).

Im Weiteren dreht sich die Diskussion darum, ob dem Text eine Fortsetzung fehlt, ob es eine Entwicklung des Erzählers gibt. Als Caduff kritisierte, dass zu viel frei assoziiert würde, was der Text gar nicht selbst biete, hielt ihr Spinnen einen Kurzvortrag, was die Bachmannpreisjury eigentlich macht: In einer Motivverknüpfung von hoher Dichte nach Bedeutungsknoten suchen, die kein Zufall sind (fast wörtlich zitiert; Herr Spinnen sollte twittern).

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Hugo Ramnek war von Keller vorgeschlagen worden und las „Kettenkarussel“, wieder eine eigenständige Erzählung (hurra!).

Schon in seinem Videoporträt sprach er von der „Unmittelbarkeit“ jugendlichen Erlebens, die dann auch die Geschichte ausmachte. Sehr viel weniger geradlinig beschreibt sie einige Tage, in denen Schausteller mit Fahrgeschäften und Kuriositätenschauen in einer Provinzstadt gastieren. Ich hatte sofort Ray Bradburys Geschichten von Zirkussen und side shows im Kopf, mit einer ähnlich magischen Mischung aus Realismus und Surrealismus – die anschließend zu meiner Überraschung niemand ansprach. Nicht schlau wurde ich allerdings aus der ständig in vielen Synonymen auftauchenden „Echse“.

Doch genau dafür habe ich ja die Jury: Die Echse war also ein Phallussymbol und stand für alles Sexuelle – Hubert Winkels ging klar davon aus, dass sich das von selbst verstand (nein, ich will nicht wissen, was es über mich aussagt, dass mir das nicht in den Sinn kam). Auch diese Geschichte nannte Winkels intensiv erzählt, aber mit direkterer Sprache als die vorherige Geschichte. Er entdeckte allerdings in der bildereichen und blumigen Sprache die Tendenz zum Kitsch, sie sei „zu drastisch, zu massiv“.
Auch für Strigl war die Echserei zu dick aufgetragen, sie sah darin eine „Belastung des Textes“. Sie fand aber gut, wie „die Bewegung des Jahrmarkts in Bilder umgesetzt“ wurde, fand den „Motivrausch“ schön gestaltet. Feßmann wies später auf das Paradoxon hin, dass Symbole eigentlich eine Distanz zum symbolisierten Gegenstand schaffen – im Fall der Echse das Symbol aber alles sexualisiert.

Caduff hatte eine Geschichte über Heimat und Fremde gehört. Da diese „Diskursfelder“ überall präsent sei, frage sie sich, was die Literatur dazu überhaupt noch beitragen könne. Sie habe sich zudem gefragt, was das Anliegen des Textes sei – aus ihrer Sicht immer ein schlechtes Zeichen.
Jandl hatte ein Problem mit dem „literarischen Rummel“ an Wörtern, Bildern, Stilisierung, Tempowechseln. Spinnen äußert daraufhin den Verdacht, dass die Literaturkritik Vorbehalte gegen sprachliche Schönheit habe, Texte als Bedrohung empfinde, die „daherkommen wie eine Marching Brass Band“. Dabei passten das Barocke und die Lautstärke dieser Sprache doch sehr gut zu einer Geschichte, die einen Jahrmarkt um 1970 nachzuzeichnen versuche. Er habe sich geschworen, sagt er später, ästhetisch-poetische Anstrengung immer zu verteidigen.

Aus Kellers Sicht wird die Geschichte „von einem großen Atem“ getragen. In einer Nebenbemerkung berichtete sie, dass dieses Jahr sehr viele Texte um das Thema Kindheit und Jugend für den Wettbewerb angeboten worden seien. Sie wolte die Sprache des Textes nicht barock nennen wie Spinnen, sondern expressionistisch. Keller arbeitete auch einige der Elemente heraus, die der Geschichte etwas Märchenhaftes geben. (An dieser Stelle hätte nun wirklich Ray Bradbury genannt werden müssen.)

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Feßmann schickte Mirjam Richner ins Rennen. Richners Geschichte (wieder NICHT Teil eines Romans) hieß „Bettlägerige Geheimnisse“. Vorgeblich erzählt sie von zwei Lehrerinnen, die auf einem Skilager in einer Hütte von einer Lawine verschüttet werden, aus der Perspektive einer der beiden als Ich-Erzählerin. Eine Mischung verschiedener Sprach- und Themenebenen, der Inhalt irrlichtert zwischen realistischem und unrealistischem Erzählen, formal allein schon dadurch, dass immer wieder kurze Gedichte eingeschoben sind.

Strigl lobte zwar, dass der Text durch eine Aufzählung seine literarischen Referenzen ganz offen aufführt, sprach von den Motiven Vakuum und Luft, kam dann aber nicht über ihr „Glaubwürdigkeitsproblem“ hinweg: Der Tod der einen, die Selbstverletzung der anderen.

Während Winkels von der Selbstreflexion im Text als einer „Metaphorisierungsmaschine“ mit entsprechender Beliebigkeit sprach, sah Jandl einen „Text des Wahns“. In seinen Augen lag die Beliebigkeit des Textes in der Prämisse des Surrealen, das alles möglich macht. Caduff bestritt den Wahn, dafür gehe es um zu existenzielle Themen und der Tonfall sei zu salopp: „Hanny-und-Nanny-Style wird angewendet auf existenzielle Themen.“ Direkt an die Autorin appellierte sie, die Gedichte wegzulassen und deren Inhalt in die Prosa einzuarbeiten. (Nu – diesen Appell bin ich ja versucht an jeden Lyriker zu richten, aber das ist mein Problem.)

Für Keller stimmte schon mal etwas nicht mit dem Text, wenn sich die Leser nicht mal auf den Wahn als Grundlage einigen können. Sie verwies darauf, dass viele der angesprochenen Themen eine lange literarische Tradition haben (Wie steht ein Schriftsteller zu seinen Figuren? Zwei Figuren, die am Berg aneinander geraten) – die gar nicht aufscheine.

Feßmann war überrascht, dass überhaupt jemand den Text als realistisch gelesen habe: „Nichts ist offensichtlicher, als dass das ein surrealer Text ist.“ Und genau deshalb könne sich der Text auch alles erlauben, was eben an ihm kritisiert worden sei. Nun nannte Strigl endlich die Geschichte, die ein ähnliches Thema, nämlich existenzielle Verlorenheit im Schnee, bereits hervorragend präsentiert habe: Kathrin Passigs „Sie befinden sich hier“. Jandl protestierte gegen Surreales als Freibrief, Spinnen sah das Wahnhafte gar nicht durchgehend: Ihm habe das Girlyhafte gefallen, er komme allerdings nicht mit den Annahme zurecht, dass jemand in einer Katastrophensituation philosophische Fragen erörtere.

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Ebenfalls von Feßmann vorgeschlagen war Andreas Stichmann. Er las den Romanauszug (nun dann doch): „Der Einsteiger“ – nach einem selbst gebastelten und wackeligen Videoporträt, in dem süße kleine Kinder und La Paloma auf dem Akkordeon vorkamen.

Zunächst glaubte ich ein post-apokalyptisches Szenario zu hören, dann konnte das Ganze aber doch im Hier und Jetzt spielen. Mir gefiel, wie unsicher die Erzählebenen als Vorstellung und tatsächliche Ereignisse markiert wurden, fühlte mich sehr mitgenommen in das Innere eines psychisch Kranken.

Genau diese Unklarheit der Erzählebene lobte auch Winkels. Er hatte auch herausgefunden, wie Stichmann das schafft: mit Grammatik. Zumal er gleichzeitig an der Oberfläche Spannung und Thrill liefere.
Selbst Jandl mochte den Text („stimmig und stichhaltig erzählt“). Er freute sich an Passagen wie „alles ist gut, niemand ist tot oder pervers“.

Keller wiederum war nicht so recht warm geworden damit. Die Hauptperson, aus deren Sicht erzählt wurde, gewinne nicht wirklich Profil, „der Handlungsimpuls verflüssigt sich fortwährend“.

Caduff wiederum gefielen die Unsicherheiten, doch insgesamt war ihr die Erzählung zu schlicht. Strigl schlug die Brücke zu filmischen Mitteln, die Unsicherheit der Ebenen herzustellen, zwischen Realität und Tagtraum zu wechseln.

Feßmann sprach von einer „Einfachheit, die täuscht“: Für sie ging es um die Verlockung des Familiären, die Sehnsucht nach Normalität – die wir uns nur noch als schönen Schein vorstellen könnten. Winkels wandte ein, dass es heile Familien doch wirklich nur noch als „Phantasie eines depravierten Außenseiters“ gebe. Dann verlor sich die Diskussion irritierenderweise in dem Detail, ob die Beschreibung der Wohnung auf Harmonie, Spießigkeit, Abgründe oder einen „belebten Innenraum durch tägliche Praxis“ (Feßmann) hinweise.

Spinnen meldete sich mit der Interpretation, es handle sich um einen „klassischen vampirischen Text“, derer er schon viele gelesen habe – eine zeitgenössische Besonderheit könne er an dem vorliegenden nicht entdecken.

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Sabine Hassinger wurde von Strigl vorgeschlagen. Ihr Videoporträt (selbst gemacht) zeigte Bilder zu einem Off-Text, der in seiner poetischen und poetologischen Dichte bereits auf das Kommende vorbereitete: „Die Taten und Laute des Tages (Auszug aus einem längeren Text)“.

Und hier kapierte ich original nichts: Eine hochkomplexe Struktur, mäandernde Sprache, Absätze mitten im Satz, kursiv gesetzte Personalpronomen. Es wurde mir nicht mal klar, wie viele Personen überhaupt vorkamen, geschweige denn, in welcher Beziehung sie zueinander standen. Ein idealtypischer Klagenfurttext, dachte ich. Und wartete darauf, dass die Jury mir erklären würde, was ich da gerade gehört hatte – war ja letztes Jahr nach meinem kompletten Nichtbegreifen von Steffen Popps „Spur einer Dorfgeschichte“ auch so gewesen.

Aber: nix. Erst mal wollte kein Jurymitglied überhaupt etwas sagen. Dann gestand Winkels, er sei genervt gewesen, weil er nicht herausbekommen habe, wer überhaupt wer gewesen sei. Er habe schon mitbekommen, dass es sich um ein dichtes innerfamiliäres Geflecht gehandelt habe, aber das Rätseln sei ihm zu anstrengend gewesen.

Keller verwies auf Hassingers Beruf der Musiktherapetin und erklärte den Text zu einer „Sprechpartitur“, die als geschriebener Text sehr schwierig für sie gewesen sei.

Nun schaltete sich Vorschlägerin Strigl ein und warnte die Literaturkritik vor der Haltung „Ich habe was gegen komplizierte Texte“. Sie verwies auf die Schönheit und Genauigkeit des Texts, erkannte eine Helferin und Therapeutin, die selbst Hilfe brauche. Auch sie sprach von Partitur, allerdings „auch fürs stille Lesen“. „Die Verwunschene“ im Text war für sie eine Verrückte.

Feßmann hielt den Text für eher simpel, der „zerrupfte Ton“ sei die Stimme einer schimpfenden Mutter, mit der sich die Tochter ständig beschäftigen müsse.

Caduff begrüßte es, dass solch ein Text in dem Wettbewerb auftaucht, „kein Text zum Lesen, sondern ein Text zum Durcharbeiten“ – doch ihr fehle die Lust zu solch einem Durcharbeiten. Sie fragte, ob solch ein Text beim heutigen „Zeitmanagement“ überhaupt noch zeitgemäß sei – heute sei niemand mehr bereit, sich so sehr mit einem Text zu beschäftigen. Zu meinem Erstaunen brach keine Entrüstung aus über das Ansinnen, literarischen Texte müssten schnell zu rezipieren sein – mit Verlaub: Die Frau ist Literaturprofessorin. Doch es merkte lediglich Jandl an, er fände es „schwierig“, wenn man sich im Rahmen von Klagenfurt mit Zeitmanagement befassen müsse. Er fand den Text schön und poetisch, erklärte zudem, man müsse darin nicht alles verstehen. Die Sprache sei ästhetisch, der Text wie ein Rohrschachtest.
Spinnen plädierte durchaus dafür, den Text nicht „im Hinblick auf seine Konsumierbarkeit“ zu betrachten, doch es sei ihm unmöglich, sich in irgendeiner Weise dazu zu äußern.

Die Sendezeit war vorbei, ohne Übertragung im Fernsehen diskutierte die Jury weiter über experimentelle Texte und Avantgarde. Feßmann meinte zwar, es dürfe kein Kriterium sein, ob man heute die Zeit für solche Texte habe. Doch im Gegensatz zu früheren Zeiten müsse sich die Anstrengung heute rechtfertigen. Und Hassingers Text sei exprimentelle Schaumschlägerei, die das eben nicht tue. Strigl blieb dabei: Der Text sei ein Genuss; als sie ihn vor sich gehabt habe, habe sie wieder gewusst, warum sie Literaturwissenschaft betreibe. Jandl mochte „das Experimentelle in der Literatur unter Artenschutz stellen“, Spinnen warnte vor der „Gemütlichkeit des Experiments“ – heute müsse es sich seine Legitimation erarbeiten.

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Auf dem Heimweg holte ich mir ein spätes Mittagessen. Der Himmel hatte sich überzogen, später regnete es kräftig.

Ab nach Klagenfurt

Mittwoch, 4. Juli 2012

Morgen beginnen die Kandidatenlesungen für den Bachmannpreis in Klagenfurt, heute mache ich mich auf den Weg dorthin.

Wenn Sie public viewings der Lesungen und der Diskussionen veranstalten, finden Sie hier die Übertragungstermine.

Zur Vorbereitung finden Sie hier Informationen zu den Autoren und Autorinnen, hier zur Jury.

Hier werden sie allem hinterhergucken können, hier stehen dann im Anschluss ans Vorgelesenwerden die Texte zum Hinterherlesen.

Und wegen meiner können Sie am Sonntagmittag gerne hupend Autocorsos für die Gewinnerin / den Gewinner fahren – vielleicht wird ja auch in München die Leopoldstraße für Siegesfeiern gesperrt. Oléééééé, olé, olé, oléééééé.