Archiv für Juli 2012

Frausein lernen heißt zu lernen, sich scheiße zu finden

Dienstag, 3. Juli 2012

Dünne Frauen sind mehr wert als dicke.

Würden Sie dieser Aussage zustimmen? Denken Sie nach, bevor Sie antworten, suchen Sie für Ihre Antwort nach Belegen in der Gesellschaft. Zum Beispiel:
Wird ein Mann mehr um eine dünne Partnerin beneidet oder um eine dicke?
Werden eher dünne oder dicke Frauen als Vorbilder genutzt, sei es als erstrebenswerte Partnerinnen oder als Identifikationsangebot für Erfolg?
Auf wen wird beim ersten Blick herabgeschaut?
Wem werden automatisch negative Charaktereigenschaften zugeschrieben?
Wer würde schneller aus einem brennenden Bus gerettet?
Wem wird bei körperlichen Beschwerden die umfassendere ärztliche Versorgung zuteil?
Und jetzt nochmal: Wer wird als mehr wert erachtet?

Das nur als kleine Einstimmung, warum mein Bekämpfen der Dicken-Diskriminierung nicht oberflächlich und trivial ist. (Zur Erinnerung: Ob sie ihr Kind abtreiben würden, wenn es eine 50-prozentige Wahrscheinlichkeit hätte, dick zu werden, wurden junge amerikanische Paare gefragt. 75 Prozent antworteten mit ja.)

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Eine Journalistin des englischen Guardian, Eva Wiseman, recherchierte umfassend zum aktuellen Körperbild: Uncomfortable in our skin: the body-image report

Die Zusammenfassung:

More of us than ever hate the way that we look. It’s making us anxious, unhealthy and disempowered. A special report on the pressures distorting the way we think and feel

Das Bild, das ich umgehend vor Augen hatte: Kleine Mädchen lernen ihre Frauenrolle durch Imitation; ich stellte mir sofort kleine Mädchen vor, die „Erwachsen“ spielen, dazu Kleidung und Schuhe ihrer Mütter anziehen, Dinge vorgeben zu tun, die für sie zu dieser Rolle gehören – ein sicher typisches Spiel. Und ganz offensichtlich gehört es inzwischen definitorisch zum Frausein, sich als ungenügend und falsch anzusehen. Ich kann ich mir richtig vorstellen, wie diese kleinen Mädchen also flöten: „Mein Haar schaut ja wieder furchtbar aus.“ Oder beim Spielen eines Kaffeeklatschs sagen: „Nein danke, für mich nicht, ich mache Diät.“ Eben typische Erwachsenendinge. Sie lernen, dass es zum Frausein gehört, sich scheiße zu finden.

Susie Orbach wird in Wisemans Artikel zitiert: “We don’t even know we hate our bodies because we take that for granted.”

Und sie weist auf den Einfluss der medialen Körperbilder hin: Sie überdecken immer mehr das, was wir im Alltag an Körpern und Formen sehen: “The problem is that, in their ubiquity, Photoshopped images have changed our standards of comparison.”

An der University of the West of England gibt es das weltweit einzige Centre for Appearance Research. Dort sagt Dr Phillippa Diedrichs:

“We’re socialised to be negative about our bodies,” she says, and a slideshow of moments flashes through my head. Women standing in the ladies’ loos complaining about their boobs. Or comparing their limbs to their colleagues’ unfavourably. She introduces me to the idea of “fat talk”, everyday conversation that reinforces the “thin ideal” and contributes to our dissatisfaction. Like: “You look great – have you lost weight?” Or, on being offered a bun: “Ooh, I really shouldn’t.” “After three minutes of fat talk,” says Diedrichs, “there’s evidence that our body dissatisfaction increases significantly.”

via – äh – Internet (Fund ist zu lange her)

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Eine weitere Zusammenfassung der Ziele und Argumente von fat activism, fast nichts davon richtig neu, aber schön zusammengefasst: “A big fat fight: the case for fat activism”.

Was mich zunächst verdutzte, musste ich inzwischen als Konstante erkennen: Die Behauptung, fat activism und der HAES-Ansatz (Health At Every Size) verherrliche Dicksein und diskriminiere Dünne. Auch im verlinkten Aufsatz werden Sie nichts davon finden. Und doch wird es ihm vorgeworfen.
Wobei es allerdings menschlich nur zu verständlich ist, wenn so manche Dicke Agressionen gegenüber Dünnen entwickelt – weil sie in ihnen Symbole für ihre Diskriminierung sieht, selbst wenn diese individuell überhaupt nichts dafür können. (So wie so manche Aggression einer eisern disziplinierten Dünnen gegenüber der Dicken in Wirklichkeit dem Symbol für ein Leben außerhalb des Abnehmzwanges gilt.)

When I speak about thin privilege, I am talking about the advantages that thin people in Western culture experience, such as being assumed healthy and having a wide array of clothes available, as well as a body that aligns with dominant ideas of what is attractive. It’s time to acknowledge thin privilege the way the Left has acknowledged white privilege, class privilege or straight privilege.

Der Eindruck des Dünnen-Hasses entsteht vielleicht auch dadurch, dass fast ausschießlich Dicke den Kampf gegen Dicken-Diskriminierung führen. Wir Nicht-Dicken (there, I said it) sollten uns in diesem Kampf vielleicht häufiger zu Wort melden und sichtbarer machen.
Oder, wie Kommentatorin Deborah Lupton es formuliert:

I also think that having thin people speak out on these issues makes it seem more of a shared issue of concern, rather than simply fat people speaking from a position of marginalisation.

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Was auch dazu passt: Die stärkste Frau der USA (olympische Gewichtheberin) lebt am Existenzminimum, weil ihr Körper keine vermarktbare Formen hat: The strongest woman in America lives in poverty.

via @naekubi

Making memories by food

Montag, 2. Juli 2012

Umgehauen hat mich Nora Ephrons Büchlein Heartburn zwar nicht – anscheinend war sie als Drehbuchautorin und Regisseurin deutlich besser. Aber es stecken einige treffende Beobachtungen drin, vor allem über Essen – und mit Essen scheint sich die kürzlich und viel zu früh verstorbene Ephron ausgekannt zu haben: At the Table, Nora Ephron Knew Best.

In Heartburn erinnert sich die Erzählerin an verflossene Liebhaber anhand der Spuren, die sie in ihrer Ess- oder Kochweise hinterlassen haben. Und ich wusste sofort, was sie meinte. Da war W., von dem ich lernte, Käse mit Marmelade zu kombinieren, dessen Mutter mir Schwedenspeise nahebrachte. M. werde ich immer mit Aufläufen verbinden; kannte ich von Daheim gar nicht, waren sein Standardgericht. B. war Franke und brachte mir bei, ans Sauerkraut nicht nur Lorbeerblatt und Wacholderbeeren zu geben, sondern als Beilage zu fränkischen Bratwürsten immer auch eine Zehe Knoblauch. An Ex-Freunde, die nicht kochten oder wenig Interesse am Essen hatten, denke ich tatsächlich deutlich seltener.

Dass der Mitbewohner und ich über die vielen gemeinsamen Jahre auch eine gemeinsame Ess- und Trinkkultur entwickelt haben, versteht sich wahrscheinlich von selbst. Das begann mit dem gemeinsamen Erforschen von Cocktailrezepten zu Beginn unserer Zeit als Paar (es waren schließlich die frühen 90er), inklusive Aufbau einer brauchbaren Bar an Zutaten. Es setzte sich fort mit dem gegenseitigen Vorführen von Familienrezepten und von Reisen mitgebrachten Ideen, dazu kamen Kindheitsklassiker. Zusammen wiederum erkochten wir uns die verschiedenen Küchen des Vereinigten Königreichs, begeisterten uns an den Verwendungsmöglichkeiten von Nierentalg (suet), zogen die Gesichter lang nach Experimenten mit Lammnieren. Sollten wir uns je trennen, kann ich mir keinen Tag vorstellen, an dem ich nicht beim Kochen oder Essen an die gemeinsame Zeit denken müsste. (Oh mein Gott: Heißt das, dass wir uns nie trennen KÖNNEN?)

Dann wiederum hat dieser Mechanismus ja nicht zwingend mit einer Liebschaft zu tun; viele meiner Handgriffe in der Küche verbinde ich generell mit Erinnerungen an Menschen: Die Schwägerin, die eigentlich gar nicht gern kocht, mir aber ihren Familientrick weitergab, die Gurken für den Kartoffelsalat erst mal geschnitten zu salzen, um sie nach dem Wasserziehen auszuquetschen und dann erst zu den Kartoffeln zu geben. Freund M., der mir zeigte, dass man auch Frischhefe einfrieren kann (wird zwar nach dem Auftauen flüssig, behält aber alle Triebkraft). Und dann all die Kniffe, die mich Foodblogs lehrten!

So wird mit den Jahren das Hantieren mit Lebensmitteln eine einzige Assoziationskette aus Erinnerungen an Menschen und Erlebnisse – wie schön.