Gelesen, gedacht, gesehen
Mittwoch, 12. September 2012 um 8:03“Scripted reality” ist eine sehr gute Bezeichnung dafür, wie ich recherchierende und anfragende Journalisten in den letzten Jahren erlebt habe: Ihr zu verkaufendes Produkt, also ihre Geschichte, steht von Anfang an fest, Recherche ist nur noch dazu da, sie mit ein paar Fakten und Zitaten glaubwürdig zu machen. Fakten und Aussagen, die nicht dazu passen, werden ignoriert. Das wird sogar bei Berichterstattung über Pressekonferenzen oder Veranstaltungen so gehandhabt. (Mir fällt sofort eine auffallende Ausnahme ein. Diese Ausnahme arbeitet bei einer namhaften Tageszeitung und beweist: Es geht auch anders.)
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Antje Schrupp hat mir jetzt doch eine Perspektive geliefert, aus der mir #609060 wieder Spaß macht:
… ich glaube, dass diese merkwürdige Praxis, sich morgens vor dem Spiegel zu vergewissern, wie man aussieht, auf welche Weise man den eigenen Körper in die Öffentlichkeit bewegt, eine wichtige Kulturpraxis ist.
Genau diesen Augenblick hält die Instagram-Aktion von Journelle fest und präsentiert damit die Vielfalt des menschlichen Aussehens, den die Modeindustrie samt Modemedien ignorieren. Damit kann ich auch erklären, warum für mich mein Kopf nie dazu gehörte: Haare und Gesicht checke ich bei dieser Gelegenheit nämlich nie, beides ist für mich nach dem Schminken abgeschlossen.
Sollten Sie sich also bei Instagram herumtreiben, sehen sie künftig wieder fast täglich ein Foto von Kaltmamsell vor Verlassen des Hauses.
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Frau Schrupp hat mir auch den Kicherer des Tages geliefert: Chinesen fliegen auf deutsches China-Öl.
Mir fallen sofort all die Reisenden aus Japan ein, die bei Deutschlandaufenthalten die verehrten deutschen Messer aus Solinger Stahl einkaufen – während wir uns damit wichtig machen, dass ein Kenner nur Messer aus Japan beim Kochen verwendet (die dazugehörige Geschichte von Stevan Paul finde ich leider nicht mehr im Web).
Zurück nach Taiwan. Ich hatte ja schon mehrfach gehört und gelesen hatte, dass traditionelle chinesische Medizin (TCM) im Ursprungsland etwa so ernst genommen wird wie bei uns Hausmittel, zum Beispiel Honigmilch bei Halsweh. Nun sehe ich enorme Karrierechancen für deutsche TCM-Heilpraktiker: Wer eine Praxis in Taipeh eröffnet und in Dirndl / Lederhosen praktiziert, müsste sich vor Kunden eigentlich nicht retten können.
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Die Radlerin, die gestern (spanisch) fluchend neben der Abbruchbaustelle des Art Babel stand, weil sie der Befeuchtungswasserstrahl unter der Abrissbirne getroffen hatte, ihre Brille dadurch erblindet war und sie diese erst mal mit einem aus der Handtasche auf dem Gepäckträger gefummelten Taschentuch sauber putzen musste – das war ich. Nachtrag: Genau hier, die Fotografin muss direkt neben mir gestanden haben.
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Gestern Abend den Ferienabschied des Mitbewohners mit Cocktails begossen. Es wären mehr Cocktails geworden und ein längerer Aufenthalt, wenn wir nicht in den Livemusikabend der Bar geraten wären: Es war für Geplauder zu laut.
Auf dem Heimweg hatte es wie wettervorhergesagt zu regnen begonnen. Hatte ich morgens beim Isarlaufen den leichten Herbstgeruch noch auf die treulosen Pappeln zurückführen können, die noch bei Hitze mit ihren Blättern um sich werfen, muss ich mich jetzt wohl endgültig mit dem Abschied des Sommers abfinden.
5 Kommentare zu „Gelesen, gedacht, gesehen“
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12. September 2012 um 8:31
achwas, münchen hat auch eine umbaubar?
12. September 2012 um 8:33
Aber ja, adelhaid, und ich lese ihr immer hinterher: Oh toll, da muss ich hin. Oh Mist, jetzt ist schon wieder zu.
12. September 2012 um 9:51
Nachgedacht: Auch interessant zu lesen, wie hier Tina-Turner-Abschiedstournee-like der Sommer immer wieder wiederkommt. Ich erinnere mich, im letzten Jahr zum langem Nationalfeiertagswochenende noch im Kochelsee geschwommen und in der Sonne getrocknet zu haben. Ok, trainiert, aber: Kochelsee!
Nachdem ich das mit den Spiegelbildern hier verstanden habe, habe ich es auch gleich wieder vergessen – weil ich die ganz ohne theoretischen Über- und Unterbau interessant find, hier sowieso wegen der alltäglichen Ausgefallenheit, bei 2,3 anderen in meinem Internet wegen des Baukastens-Effekts – ah, dieses Basic kenne ich, aber jetzt ist es ganz anders. Daher sag ich mal: Nicht von SZ-Artikeln oder andrerer Blogeinträge sagen lassen, ob man es nun macht oder nicht, sondern lieber nach dem Motto dieser Seite “Die Kaltmamsell zeigt sich was”?
Als Japanfan mag ich trotzdem lieber Solinger Stahl als diese weichen rostenden kostspieligen Messer. Und freue mich immer, wenn dem Asiatischen hier das Weihevolle genommen wird (in einigen von Tokios besten Sushibars gibt es keinen Lack und Halogen, dafür Leute, die hinter Deinem Stuhl stehen und warten, dass Du Deinen letzten Happen hast, um Platz zu machen).
Aber ich finde schon eine Welt schön, in der Honigmilch und Schlangentee zum Alltag gehören, also in der jeder erstmal das Naheliegende praktiziert. Sich hier seine Ruhe tagsüber in einer der meist offenen katholischen Kirchen oder draußen im Feld zu suchen statt morgens um 5 auf der Yogamatte. Weswegen das mit dem Dirndl nicht zu ende gedacht ist: Nicht TCM, sondern TBM (Traditional Bavarian Medicine) muss es sein, also Warmbier mit Honig, Topfenwickel, Schmalzmassage, Kronkorkenpfropfen, in Lederhosen verordnet und von Arzthelferinnen im Dirndl Geisha-like ausgeführt – sorry, wegen der Gender-Stereotypen, aber so sans, die Asiaten. Wenn man doch nicht immer so ehrlich wäre…
Self Scripted Journalism? Alter Hut. Mantra des Chefredakteurs zu Volontariatszeiten vor 20 Jahren: “Ich recherchier mir doch meine Geschichte nicht kaputt!”
(Pardon wegen der vielen Ichs)
12. September 2012 um 12:34
Scripted reality: Dann mangelt es den Journalisten offenbar an der vielbeschworenen Flexibilität, denn die Geschichten würden sich doch sicher wunderbar umdichten lassen. Der letzte Satz des verlinkten Artikels aber unterstreicht seine Aussage auf originelle Weise: “‘Diese Entwicklung wirkt sich auch auf die Qualität aus’, so Cornelia Haß. Dies sei aber nicht die Schuld der Reporter: ‘Das ist aber nicht in der Verantwortung der Kolleginnen und Kollegen, sondern der Verlage, die immer mehr wollen, aber nicht bereit sind, in Qualitätssicherung und Recherche investieren wollen.'” ;-)
Wenn ich jetzt hier schon mal kommentiere: Ich lese hier schon seit geraumer Zeit mit – mit höchstem Genuss.
12. September 2012 um 13:36
Hmmm, interessant, diese Theorie mit dem Spiegel. Ich selbst habe gar keinen Spiegel, in dem ich mich komplett sehen kann, weshalb ich mich morgens vor Verlassen des Hauses auch nicht nochmal ansehe (was, wenn ich ehrlich bin, schon das eine oder andere mal erheiternde oder peinliche Folgen hat)