Fortsetzung zu #Aufschrei –
Nur im Web geht’s voran

Donnerstag, 31. Januar 2013 um 8:46

Es bleibt weiter ein Thema: Dass fast alle Frauen in unserer Gesellschaft mit der konstanten Bedrohung durch sexuelle Belästigung verschiedenen Ausmaßes leben müssen. Sich damit auseinandersetzen müssen, Prävention planen, sich schützen müssen, sich wehren müssen. Und in einem konstanten double bind leben: Aussehen, Kleidung und Auftreten, die nicht dem gesellschaftlichen Weiblichkeitsideal entsprechen, können dazu führen, dass ihnen unterstellt wird, “ihre Weiblichkeit zu verleugnen” oder ihnen das Frausein gleich ganz abgesprochen wird. Aussehen, Kleidung und Auftreten, die diesem Ideal entsprechen, können als Einladung zu sexuellen Übergriffen interpretiert werden. Wenn sie einschreiten, werden sie als humorlos und erotikfeindlich beschimpft, wenn sie nicht einschreiten, sind sie selbst schuld.

Die traditionellen Medien konzentrieren sich weiter auf den Fall Brüderle (um den es in der #Aufschrei-Welle im Internet nie ging) und auf den Umgang von Journalistinnen mit Männern. Fernsehrunden versuchen weiter, möglichst zugespitzte Meinungen aufeinanderprallen zu lassen und eine möglichst aufregende Show zu erzeugen. Die konstruktivsten Gedanken zum Thema finden sich in Texten im Internet. Hier einige Leseempfehlungen, diese Artikel sind mir besonders lange nachgegangen:

A. Stefanowitsch: Sagt ihnen nicht, dass sie sich hätten wehren sollen

Wer sagt, dass Frauen lernen müssen, sich zu wehren, erwartet von Frauen nicht nur, dass sie in einer Situation, in der die meisten Menschen (Männer und Frauen) mit lähmender Angst zu kämpfen hätten, ruhig genug bleiben, um wegzulaufen und/oder körperliche Gegenwehr zu leisten, sondern auch, dass sie geistesgegenwärtig genug bleiben, um korrekt einzuschätzen, ob Gegenwehr oder Kooperation die bessere Strategie sind.
Wer sagt, dass sie Situationen meiden sollen, die zu sexuellen Übergriffen einladen, erwartet, dass sie sich aus dem öffentlichen Leben zurückziehen, denn Situationen, in denen es nicht zu sexualisierten körperlichen Übergriffen kommen kann, sind äußerst selten.
Und bei allem Verständnis für vereinfachtes und weltfremdes Denken, diese Erwartungen an Frauen sind tief gestört. Sie sind ein Symptom für eine Einstellung zu sexualisierter Gewalt, die alle Verantwortung weg von den Tätern, weg von möglichen Zeugen, weg von der Gesellschaft schiebt und sie allein den Betroffenen auferlegt.
(…)
Und wehren können Frauen sich auch hier oft selbst dann nicht, wenn sie geistesgegenwärtig und ruhig genug bleiben, um nicht nur rechtzeitig zu erkennen, dass, sondern auch wie zu reagieren wäre. Denn in „schweren“ Fällen (grobe sexistische Beleidigungen oder verbale Nötigungen) besteht auch hier die sehr reale Gefahr, dass die Situation von einem verbalen zu einem körperlichen Übergriff eskaliert (auch das haben Frauen beim #Aufschrei zur Genüge beschrieben). Und in „leichten“ Fällen („dummen Sprüchen“, „Herrenwitzchen“) führt die Gegenwehr dazu, dass die Frau als diejenige dasteht, die sich sozial falsch verhalten hat, indem sie aus einer „Nichtigkeit“ oder einem „harmlosen Scherz“ eine „große Sache“ macht, indem sie einen doch völlig harmlosen Mann als üblen Sexisten hinstellt, indem sie für alle die doch bis eben so lockere Stimmung verdirbt.

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Malte Welding: Männer, gebt die Herrschaft auf!

Wenn in einer Beziehung der eine Partner sagt, etwas verletze ihn, und der andere erwidert, es sei doch gar nichts passiert, dann ist es für eine Paartherapie meistens schon zu spät.
Wenn eine Frau sagt, wenn hundert, wenn tausend, hunderttausend Frauen sagen, dass sie belästigt, bedrängt, geschlagen, bespuckt, vergewaltigt und weggeworfen wurden, dass sie sich nicht allein im Dunklen auf die Straße trauen und sich in Aufzügen, Parkhäusern, Innenhöfen fürchten, dann ist die richtige Reaktion nicht: Aber als Mann kann einem ja auch was passieren. Und nicht: Ich mache doch nichts. Und auch nicht: Dann muss man halt aufpassen. Sondern man muss Antworten auf die Frage finden: Wie bringt man Männern bei, Frauen keine Angst zu machen? Man kann kleinen Jungs sagen, dass man Mädchen nicht schlägt. Warum sagt ihnen keiner, dass man sie nicht bedrängen soll?

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Antje Schrupp: Wibke Bruhns und die Veränderung, die sie verpasst

Ich fand das eigentlich ganz interessant, weil Wibke Bruhns mit dieser Position gewissermaßen wie “aus der Zeit gefallen” schien, sie war sozusagen die leibhaftige Verkörperung eines “Common Sense”, wie er vor der Frauenbewegung üblich und normal war. Aber gerade dass sie so antiquiert wirkte, zeigt doch, wie sehr sich das Selbstbewusstsein von Frauen und ihr Wille, das nicht mehr hinzunehmen, bis heute weiterentwickelt hat.
Man muss nämlich sehen, dass eine Haltung wie die von Bruhns nicht einfach ein ausgedachter sexistischer Quatsch ist, sondern ideengeschichtlich sehr genau in einen Kontext einzuordnen ist: Nämlich in den der Kämpfe, die Frauen vor der Frauenbewegung, also in den 1950er und 1960er Jahren auszufechten hatten.

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engl: aufschrei(b)en (2)

ich wußte nur: ein mädchen darf im dunkeln nicht mehr draußen sein. ein mädchen muß angst haben, immerzu, daß ihm etwas getan wird. (aber was nur?) und ein mädchen muß aufpassen, daß alles das nicht passiert. (was auch immer!) wenn es das nicht tut, dann ist es bald selbst ein böses mädchen. denn da draußen gibt es etwas böses, das sich die mädchen holt. alle, unwiederbringlich.

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Sibylle Hamann: Zwitscherfeminismus, yeah!

… viele Frauen fürchten, als prüde, verklemmt und unsouverän dazustehen. Wer cool ist, lässt sowas abtropfen. Man will kein Opfer sein. Man will nicht als hysterisch gelten. Und will man sich wirklich über eine Berührung, eine blöde Bemerkung aufregen, solange anderswo Frauen vergewaltigt, gesteinigt, ermordet werden? Nein. Der antifeministische Diskurs der vergangenen Jahre hat eines geschafft: Dass Frauen sich zu Dank verpflichtet fühlen, nicht unter den Taliban zu leben. Denn, klar: Männer könnten auch noch ganz anders. Und daran erinnern sie einen gern.

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jawl: #aufschrei – Es sind die anderen. (Ja?)

Dann entwickelte so ca. zehn Minuten später der #aufschrei diese ungeheure Wucht und ich erschrak. Zwischen dem Wissen über nackte Zahlen inklusive ihrer Dunkelziffern und dem Erschrecken darüber, dass quasi jede Frau, die ich so in meiner Timeline kenne, etwas eigenes zu berichten hatte – da ist es ein großer Schritt. Ein Schritt mit viel Erschrecken, kein schöner Schritt (…). So Zahlen und Statistiken, das sind ja irgendwie immer die anderen und der #aufschrei brachte den Alltagssexismus viel näher an mich heran. »Lernerfolg eins: Deswegen heisst er ja auch Alltagssexismus, stupid«, dachte ich mir.

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Nachtrag: In diesen Tagen geht mir auch ein Hollywoodfilm von 2006 wieder sehr durch den Kopf, der das Thema bedrückend eindringlich verarbeitet: North Country

die Kaltmamsell

8 Kommentare zu „Fortsetzung zu #Aufschrei –
Nur im Web geht’s voran“

  1. Connie meint:

    Liebe Kaltmamsell,

    dieses Zitat liegt aber doch sehr falsch und zeigt das fehlende geschichtliche Bewußtsein unserer Generation (und der nachfolgenden):

    “Nämlich in den der Kämpfe, die Frauen vor der Frauenbewegung, also in den 1950er und 1960er Jahren auszufechten hatten.”

    Ich erinnere nur an die FRAUENBEWEGUNG Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts.

    Wenn wir Frauen unsere eigene Geschichte vergessen, wer soll denn dann weiterkämpfen?

  2. Malte meint:

    Ein Hinweis: In meinem ursprünglichen Artikel kam Brüderle nur ganz nebenbei in einem Satz vor. Da der Text zunächst im Magazin erscheinen sollte, wäre das vermutlich auch kein Problem gewesen, da er aber in der Zeitung erschien, wurde es wichtig, dass eine aktuelle Debatte deutlicher im Text erschien.
    Zusätzlich steht online jetzt im Teaser “Sexismus-Debatte um Rainer Brüderle”.
    Es ist eine professionelle Entscheidung der Redaktion, die ich zu respektieren habe, aber ich glaube, Zeitungen tun sich keinen Gefallen damit, nur eine Momentaufnahmenaktualität abbilden zu wollen.
    Man kann der Redaktion da überhaupt keinen Vorwurf machen, nach journalistischen Aspekten sind sie da die Profis und ich der Dilettant. Aber ich glaube, dass man sich damit Gefallen tut und letztlich hinter der eigentlichen Debatte zurückbleibt.

  3. Indica meint:

    Mir fallen die Wahrnehmungs- und Denkbeschränkungen der Journalisten in den “klassischen” Medien doch sehr auf. Was im Internet so zahlreich passiert, ist also nur so eine Art Abweichung von der Norm? Peinlich, peinlich, was da gerade oft in Fernsehen und Print läuft. Brüderle ist nur der Auslöser und ein kleiner Aspekt dessen, was unter #Aufschrei aufgepöppt ist und nun diskutiert wird.

  4. Montez meint:

    Sicher hat sich Antje Schrupp etwas unsauber ausgedrückt. Aber sollten wir uns dauernd damit aufhalten, andere zu korrigieren?

    Mein Unbehagen zum #aufschrei wächst in dem Maße, wie m. E. zunehmend auch im Internet festgelegt wird, um WAS es eigentlich zu gehen hat. Sind das nicht alle Gradationen von Unbehagen bis hin zur Angst, quer durch alle Schichten und Ausbildungen? Darum, sich befreit zu fühlen, sich erst mal überhaupt zu äußern? Und dabei vielleicht nicht alle Daten und Details der Frauenbewegung seit ihrer Existenz en Detail zu kennen oder richtig aufzuzählen?

    Lasst uns doch endlich dafür sorgen, dass sich alle trauen, in ihrer eigenen Sprache. Ich hab schon genug zu tun, Männliches Unverständnis resp. beleidigte Beleidigungen abzuwehren (das Wort Emanze erlebt gerade eine fulminante Renaissance).

  5. walküre meint:

    Mir ist vorhin ein Schulkollege eingefallen, der mir per Mail ein Weile lang Herrenwitze (per se vulgär) zukommen hat lassen. Was er geglaubt hat, damit zu bezwecken, kann ich mir bis heute nicht erklären, allerdings wollte ich mich damals mit ihm auch nicht auf Diskussionen einlassen, sondern war einfach eines Tages nicht mehr für ihn erreichbar, wobei mir auch die relativ große räumliche Distanz Sicherheit gab. Das kann es aber auch nicht sein, oder ?

  6. Preißndirndl meint:

    Meine Hoffnung ist, dass der #Aufschrei zum Aufbruch wird, zum Aufbrechen einer Normalität, die nicht normal ist, die wir aber bisher einfach so hingenommen, in vielen Fällen ertragen haben. Ich wünsche mir, dass weder Männer Frauen zum Objekt machen, noch umgekehrt, dass gegenseitiger Respekt selbstverständlich ist, Frauen ihre Wahrnehmung nicht in Frage stellen oder wegdrücken müssen, weil es für sie gefährlich werden könnte. Sehr empfehlen kann ich zu dem Thema das Buch “Weibliche Wirklichkeit” von Anne Wilson Schaef, von 1981. Es hat, glaube ich, nichts an Aktualität verloren.

  7. Die Küchenschabe meint:

    und ich empfehle noch (für den Fall dass es jemand noch nicht kennt) “Frauen” von Marilyn French aus dem Jahr 1977.

  8. kid37 meint:

    Mit Herrn Stefanowitschs Ansichten stimme ich so gut wie nie überein. Auch hier fällt es mir schwer. Man mag sich eine bessere Welt wünschen, in der auch instant Weltfrieden qua Appellation eintritt. Dagegen: “Wer sich nicht wehrt, lebt verkehrt” hieß es mal. Man lernt auch als Mann, daß es häufig pragmatischer ist, dies tatsächlich zu tun. Mit fünf, im Kindergarten, wenn da eine/r die mühsam errichteten Bauklotztürme immer und immer wieder umstößt. Aus Boshaftigkeit, z.B. Hab ich auch nie verstanden und mir gewünscht, es wäre anders.

    Das Problem, ließ sich dennoch blitzschnell lösen. Und, ich gebe mal einen Tipp, es geschah nicht durch Diskussion und Zureden. Wäre es nicht also sinnvoller, Menschen gleich welchen Geschlechts zu ermutigen, Machtdemonstrationen mutig und entschlossen entgegenzutreten als darauf zu hoffen, daß “der andere” sich hoffentlich ändert?

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