Was Spechte mit Herzinfarkten zu tun haben
Mittwoch, 23. Januar 2013 um 14:54Nochmal was zu wissenschaftlicher Methodik, eigentlich zu Erkenntniswegen und den Fallen darin. (Bitte in Verbindung sehen mit meinen Gedanken zu Schlechte Medizin von Gunter Frank.)
Im neuen Lexikon des Unwissens von Passig, Scholz, Schreiber wird en passant darauf verwiesen, dass manchmal die Beboachtung von Spuren das Beobachten des eigentlichen Untersuchungsgegenstands ersetzt. Im Kapitel Ernährung geht es darum, wie verdammt schwer es ist herauszufinden, welche Ernährung nun wirklich gut für den Menschen ist. Deshalb messen
Forscher anstelle von Gesundheit oder Langlebigkeit häufig sogenannte Biomarker. Ein Biomarker für die Existenz von Spechten ist die Existenz von Löchern in Bäumen. Spechte sind schwer zu beobachten, Löcher in Bäumen dagegen relativ einfach. Aber Biomarker bringen gewisse Nachteile mit sich: Löcher in Bäumen können auch andere Ursachen haben, vielleicht ist der verursachende Specht bereits tot oder davongeflogen, und leicht verliert man über dieser ganzen Beschäftigung mit Löchern das Thema Spechte aus den Augen.
Daran musste ich sofort bei diesem aktuellen Artikel des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen IQWiG denken1: “Blutzucker, Cholesterinspiegel, Knochendichte: Können Messwerte zeigen, ob eine Behandlung hilft?“. In diesem Fall sind Messwerte die Biomarker. Und der Artikel führt einige Beispiele auf, wie sehr eine reine Betrachtung der Biomarker in die Irre führen kann: Herzrhythmusstörungen erhöhen die Wahrscheinlichkeit für einen plötzlichen Herztod? Das bedeutet noch lange nicht, dass Medikament gegen Herzrhythmusstörungen dieses Risiko senken. So wie eine durch Medikamente erhöhte Knochendichte bei älteren Frauen keineswegs das Risiko von Knochenbrüchen senkte.
Das IQWiG verweist deshalb auf den Unterschied zwischen Surrogatendpunkten und patientenrelevanten Endpunkten:
Die Werte aus dem EKG galten lange als Ersatzkriterium für das Sterblichkeitsrisiko. Kriterien, die in Studien als Ersatz für eine wichtige Zielgröße (Endpunkt) dienen, werden auch Surrogatendpunkte oder Surrogatparameter genannt (vom lateinischen surrogatum = der Ersatz).
Beispiele: Hoher Cholesterinspiegel, hoher Blutdruck.
Für Patientinnen und Patienten wichtige Zielgrößen wie Sterblichkeit, Herzinfarkte, Lebensqualität oder die Dauer von Krankenhausaufenthalten bezeichnet man hingegen als patientenrelevante Endpunkte. Der Begriff „patientenrelevant“ betont, dass es um Fragen geht, die für erkrankte Menschen entscheidend sind – zum Beispiel darum, ob eine Behandlung ihr Leben verlängert, ihnen Klinikaufenthalte erspart, ihre Beschwerden verringert, Komplikationen vorbeugt oder ihren Alltag und den Umgang mit der Erkrankung erleichtert.
Beispiele: Herzinfarkt, Schlaganfall.
Die medizinische Forschung arbeitet aus praktischen Gründen (siehe Spechte) mit Surrogatendpunkten, vor allem wenn es schnell gehen muss. Die Erfolgsgeschichte, die der Artikel nennt, sind die ersten Medikamente gegen HIV:
Aus Studien wusste man, dass diese Arzneimittel die Zahl der im Körper nachweisbaren HI-Viren deutlich reduzieren konnten. Es gab jedoch keine Studien, die zeigten, dass dadurch weniger Menschen AIDS entwickeln oder sich die Sterblichkeit verringert. Da es keine Behandlungsalternativen gab und HIV ohne Behandlung schnell fortschreitet, haben die Arzneimittelbehörden diese Mittel trotzdem zugelassen. Heute weiß man, dass dadurch Tausende von Menschen mit HIV vor einem frühen Tod bewahrt wurden.
Gute medizinische Forschung bleibt hier nicht stehen (ebensowenig gute Ärzte), sondern untersucht den Nutzen einer Therapie immer auch für patientenrelevante Endpunkte.
(Habe ich schon von meinem Bruder erzählt, sehr schlank und sehr sportlich, dessen Hausarzt besorgt war über dessen leicht erhöhten Cholesterinwert? Und der ihm deshalb riet, wait for it: Abzunehmen?)
- Bei diesen Erklärungen ist es wohl unwahrscheinlich, dass die Interessen von Krankenkassen-, Krankenhaus- und kassenärztliche Vereinigungsvertreter hinter dem Institut eine Verzerrung (bias) verursachen. [↩]
5 Kommentare zu „Was Spechte mit Herzinfarkten zu tun haben“
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23. Januar 2013 um 16:53
Ein weites Feld, diese Forschungen. Ich las letztens, ich glaube bei Joachim Bauer, dass ein ZU ausgeglichener Herzrhythmus gefährlicher sein kann, als ein nicht ganz regelmäßiger. Und in Sachen Cholesterin: Neuerdings soll das gute vom bösen Cholesterin abgezogen werden, um die eigentlichen Bösewichte, die Remnants, ermitteln zu können. Wahrscheinlich ist das wieder nur der Anfang, hoffentlich nicht wieder der Gleichmacherei von Patienten. Ob es irgendwann genau auf jeden Einzelnen zugeschnittene Therapien geben wird?
23. Januar 2013 um 17:00
wie gut dagegen meine Hausärztin: auf leicht erhöhte Cholesterinwerte war ihre Devise: abwarten. Nichts machen. Und siehe da, beim nächsten Mal waren die Werte wieder im normalen Bereich. Überhaupt ihre Aussage: “Als junge Ärztin war ich viel mehr auf die Laborwerte fixiert als heute.” Mir tut eine so entspannte Ärztin enorm gut, ich fühle mich bei ihr gut aufgehoben, gerade weil sie immer wieder erwähnt, “wir Ärzte wissen doch nichts, wir vermuten nur.”
24. Januar 2013 um 17:20
Einst war mein Cholesterinwert bei 299. Meine HA riet mir eindringlich, mit dem fetten Fleisch und der Wurst kürzer zu treten. Das fand ich doch merkwürdig, ich esse nämlich vegan/vegetarisch, ich hab da aber nix zu gesagt. Bei der nächsten Untersuchung war der Wert dann bei 210, sie hat mich sehr gelobt, wil ich meine Ernährung so umgestellt habe.
25. Januar 2013 um 9:29
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Gerne gelesen
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27. Januar 2013 um 21:30
keine guten noten von mir für diesen artikel. m.E. fehlt die gute basis etwas tieferen medizinischen grundlagenwissens. gehobenes stammtischniveau. tut mir leid. für eine sauberere datenbank als das unsägliche iqwik halte ich übrigens http://www.cochrane.org/