Brief an die 18-Jährige, die meinen Namen trug
Dienstag, 30. April 2013Mir fällt nicht viel ein, was ich Dir aus heutiger Perspektive mitgeben könnte – ich glaube nicht an Erkenntnis von außen, auch nicht daran, dass man jemanden vor Verletzungen bewahren kann oder auch nur sollte. Die wirklich wichtigen Dinge muss man erleben.
Ich kann Dir nicht nehmen, dass Du Dich allen Ernstes für dick hältst – auch nicht mit dem Hinweis, dass Du in 20 Jahren Fotos von Dir mit 18 siehst und Dich fragst, ob man Dir diese Selbstsicht unter Hypnose eingeredet hat. Ich kann Dir nicht nehmen, dass Du am allerliebsten nicht da wärst.
Soll ich Dir empfehlen, Dich sofort unabhängiger von den Ansichten Deiner Mutter zu machen? Doch das würde nicht ankommen: Genau das hat Dir bereits Dein Freund empfohlen, der innerhalb kürzester Zeit die ungute Nähe zwischen Deiner Mutter und Dir diagnostizierte. (Du erinnerst Dich an die Geschichte mit Deinem Bett? Es war tatsächlich erst sein lapidares “Dann stell’s halt da hin”, das Dich auf die Idee brachte, Dein Bett im elterlichen Haus von der dekorativsten Stelle im Zimmer zu entfernen, das Deine Mutter eingerichtet hatte, und dorthin zu stellen, von wo aus Du den Himmel sehen kannst – was Du Dir immer gewünscht hattest.)
Vielleicht noch: Leg Dir sofort einen Hund zu, scheiß drauf, was Deine Eltern dazu sagen (brüllen); in einem halben Jahr wirst Du eh von dort ausziehen. Jetzt bist Du noch enthusiastisch (und ahnungslos) genug, Dich auf solch eine rein emotionale Lebensentscheidung einzulassen. Schon in wenigen Jahren wirst Du dazu zu vernünftig sein und nie einen Hund haben.
Vielleicht auch: Bewirb Dich nicht nur beim Donaukurier. Es gibt in München eine Journalistenschule (steht im Telefonbuch), die wahrscheinlich viel spannender ist und Dir mehr Türen öffnet. Probier’s wenigstens. Du sollst nicht erst während Deines Volontariats (ja, Du würdest die Stelle kriegen) von der Existenz von Journalistenschulen erfahren.
Auch: Frag vor dem Abitur noch alle Lehrer, die Du schätzt, nach Lesetipps. Zwar schreibst Du alles mit, was Dein Griechisch-Leistungskurs-Leiter empfiehlt. Doch andere wissen sicher auch Gutes.
Wenn Du studieren willst, und studieren ist großartig und wird Dir sehr gefallen, erkundige Dich nach einem Stipendium, sobald die ersten guten Noten kommen. Nein, das hat nichts mit Bedürftigkeit zu tun, ich weiß wie stolz Du darauf sein wirst, auch jetzt finanziell fast unabhängig zu sein. Ein Studienstipendium ist der Eintritt in ein System, das Dir ungeahnte Möglichkeiten und Kontakte erschließt. Gib Dir einen Tritt, recherchier zum Beispiel mal “Studienstiftung des deutschen Volkes”. Wenn Du im englischsprachigen Ausland studieren willst: Auch die Studierparadiese Oxford und Cambridge stehen Dir offen, Du musst Dich nur dort bewerben.
Das wahrscheinlich schwerste: Freunde Dich mit Deinem Vater an. Von ihm ist Rettung erheblich wahrscheinlicher als von Deiner Mutter, vertrau mir. Und hab Geduld mit ihm.
Allein das Befolgen dieser Ratschläge wird Dein Leben bereits sehr wahrscheinlich völlig anders verlaufen lassen. Und heute, 27 Jahre später, erfordert es völlig andere Ratschläge an die 18-Jährige.