Vaterliebe und Missverständnisse
Mittwoch, 3. April 2013 um 14:09Ostermontag. Wir sitzen nebeneinander auf dem Sofa, das Schülerlexikon meiner Mutter von 1954 auf meinem Schoß. Aufgeschlagen ist die Landkarte Lateinamerikas. “Nur zwei Länder in Lateinamerika haben keinen Zugang zum Meer”, sagt mein Vater, “Paraguay und Bolivien.” Wir betrachten eingehend die seltsame Form Chiles, schlagen geografische Besonderheiten nach. “Hauptstadt von Chile ist Santiago de Chile”, verkündet er. “Weißt du noch, wie wir das geübt haben?” “Ja”, sage ich seufzend, “immer wieder hast du mich die Länder Lateinamerikas und ihre Hauptstädte abgefragt, ich hab’s gehasst.” Meine Erinnerung zeigt mir den Esstisch, an dem diese Übung stattfand, über den ich sitzend kaum hinwegsah, so klein war ich da noch. Die innere Verzweiflung, weil ich mir einfach nicht merken konnte, welche Hauptstadt zu welchem Land gehörte. Das sinkende Gefühl, wenn ich eigentlich gerade etwas Lustiges mit meinem Vater machte, mit dem ich ohnehin so wenig gemeinsame Zeit hatte, und dann begann er: “¿La capital de Brasil es …?” Und ich würde es nicht wissen, mein Vater ungeduldig und laut werden und mich schimpfen.
Mein Vater ist verblüfft: “Du warst doch immer engagiert dabei!” Ich wechsle das Thema.
Mit brennendem Herzen wird mir klar, dass das eine weitere Anforderung war, unter der ich als Kind litt, vor der ich mich fürchtete, gegen die sich innerlich alles sträubte – doch gegen die ich nie auf die Idee kam zu protestieren. Genauso wenig wie in all den Jahren gegen den verhassten Querflötenunterricht. Oder gegen die ständigen Diäten, denen meine Mutter mich unterzog. Offenbar und seltsamerweise war schlichter, ehrlicher Protest für mich als Kind keine Option im Umgang mit meinen Eltern. Dabei hätte es wahrscheinlich genützt, wenn ich explizit klar gemacht hätte: “Das möchte ich nicht.”
Doch ich kannte nur innerliches Blockieren, äußere Bockigkeit, widerwilliges Folgen. Was mein Vater bald als Faulheit und Schlampigkeit interpretierte.
Denn die Eltern hatten doch recht, davon war ich tief in meinem Inneren überzeugt:
Es war doch richtig, Sachen zu lernen.
Das teure Blasinstrument war eigens für mich gekauft worden, da konnte ich doch nicht einfach aus dem Querflötenunterricht aussteigen.
Ich war doch wirklich viel zu dick.
Naheliegende Folgerung: Falsch war mein innerer Widerstand. Und so haderte ich mit diesem statt mit den elterlichen Erwartungen.
Nein, nicht sehr schlimm. Aber sehr traurig.
die Kaltmamsell14 Kommentare zu „Vaterliebe und Missverständnisse“
Sie möchten gerne einen Kommentar hinterlassen, scheuen aber die Mühe einer Formulierung? Dann nutzen Sie doch den KOMMENTAROMAT! Ein Klick auf einen der Buttons unten trägt automatisch die gewählte Reaktion in das Kommentarfeld ein, Sternchen darüber und darunter kennzeichnen den Text als KOMMENTAROMAT-generiert. Sie müssen nur noch die Pflichtfelder "Name" und "E-Mail" ausfüllen und den Kommentar abschicken.
3. April 2013 um 17:37
Das ist wirklich traurig. Und fuer mich seltsam weil ich, voellig ohne Grund, in dem Alter die Hauptstaedte der Welt auswendig gelernt habe. Ich habe Karten abgepaust und mir Atlanten gewuenscht zu Weihnachten. Meine Eltern haben eigentlich selten was von mir gefordert (ausser: Musikunterreicht musste ich auch nehmen), ich hab mir haeufig selbst so Aufgaben gestellt.
3. April 2013 um 18:49
Komisch, dass man gar nicht auf die Idee kommt, zu protestieren. Man wehrt sich nonverbal, dann ist man “bockig”, “ungezogen”, “mürrisch”, “immer beleidigt”… auf die Art habe ich gelernt, dass ich nichts wert bin. Ich musste dreißig werden, bevor mir mal jemand gesagt hat, dass ich etwas gut mache oder schon ziemlich o.k. bin. (Natürlich niemand aus meiner Familie – lol).
Das Thema “Gewicht” kenne ich auch schon aus der Kindheit. Aber jetzt sind wir erwachsen und frei, und die Welt kann uns mal. Kreuzweise.
3. April 2013 um 19:03
Wahrscheinlich hat es auch mit der nie verlebten Vorstellung zu tun, dass man AUF GAR KEINEN FALL ein 0815-Kind haben möchte. Seit ich diesen Anspruch, etwas Besonders sein zu müssen, abgelegt habe (was ich ja enttäuschenderweise – wie mir gespiegelt wurde – zuhause nie war, schlimmer noch, ich war nie *recht*, so wie ich war) , seit ich diesen Anspruch auch an mich selbst abgelegt habe, lebe ich wie befreit.
Die Frage ist für mich außerdem an deinem Beispiel: Gings wirklich um die Hauptstädte, das Gewicht….? Weißt du, was ich meine? Und wärst du dünner gewesen (wobei ich *pyknisch* in deinem Fall mit vielen Fragezeichen versehe), wäre dann nicht dafür ein anderes Thema hochgeköchelt worden?
3. April 2013 um 19:55
Die Schwimmlehrerin, die uns Eltern gleich zum Kursbeginn so ähnlich beruhigt hat: “Und wenn der Opa ihnen sagt, sowas muss doch ein Vater beibringen – vergessen Sie es. Wenn schon mal der Papa mit ins Schwimmbad geht, dann wollen die Kinder spielen, planschen, tollen. Und es dauert ewig und wird zur Qual für die ganze Familie, bis Sie ihm da das Schwimmen beigebracht haben. Drum gehen Sie jetzt und kommen erst wieder, wenn die Stunde um ist.”
Und wenn Sie jetzt fragen, warum die nicht von der Mama… Die hatte mir das Schwimmen beigebracht. Indem sie einfach die Luft aus den Schwimmflügeln gelassen hat. Weil’s ihr zu blöd wurde mit dem Beibringen. Sie galt halt schon als Kind renitent.
3. April 2013 um 21:03
Das kommt mir so bekannt vor… Nicht unbedingt dieselben Situationen, aber doch das Gefühl, dass die Eltern eine grenzenlose Macht über einen haben. Und dass das, was sie sagen, Gesetz ist und richtig sein muss.
(On a sidenote: Ich habe meine Eltern angebettelt, dass sie mir eine Querflöte kaufen, weil ich unbedingt spielen wollte. Mein Vater hat für mich von seinem Fabrikarbeitergehalt eine gekauft, dazu Lehrbücher. Dann hat er sich das selbst erst mal beigebracht, um es dann mir zu zeigen. Geld für Unterricht war nämlich keins da. Danke, Papa!)
4. April 2013 um 9:17
Meine Eltern waren mit eventuellen Wünschen an mich recht zurückhaltend, dafür aber ganz einsame Spitze im Vorleben von tugendhaftem und produktivem Leben (jetzt mal ganz ironiefrei). Es heißt ja immer, dass Vorleben viel mehr bringen würde, und ich fürchte, da ist was dran. Bei mir hat es dazu geführt, dass ich ganz vieles aus innerem vorauseilendem Gehorsam gemacht oder auch unterlassen habe, ohne dass jemals jemand etwas sagen musste. Meine verpassten Chancen habe ich also alle meinem eigenen Mangel an Rebellion zuzuschreiben. Wenn ich heute etwas erwähne, was ich gerne gemacht hätte (in den Alpenzoo bei Innsbruck gehen, in Wackersdorf mitdemonstrieren), sind sie immer ganz erstaunt, weil sie das nicht mitbekommen haben. Klar, ich habe ja als braves Kind vorausgeahnt, dass das eh nie erlaubt würde. Zumindest der Alpenzoo wäre kein Problem gewesen.
Mit dem Klavier, da gab es schon Konflikte. Komischerweise war ich in Konflikten wesentlich mutiger, meinen eigenen Standpunkt zu vertreten.
Bei den eigenen Kindern sehe ich mit großem Vergnügen, dass sie sehr wohl ihre gegensätzlichen Wünsche artikulieren, aber was weiß ich denn, welche geheimen Wünsche sie vor uns verbergen?
Ein echtes Highlight war aber, zum anderen Thema, die 12-jährige Tochter, die nach drei Tagen Fieber ihren Bauch tätschelte und sagte: “Ich muss mir jetzt mal wieder einen ordentlichen Speck anfressen, ich bin ja ganz abgemagert.”
Geht doch! (Fist pump!)
4. April 2013 um 9:45
FIST PUMP!
4. April 2013 um 12:45
Offenbar und seltsamerweise war schlichter, ehrlicher Protest für mich als Kind keine Option im Umgang mit meinen Eltern. Dabei hätte es wahrscheinlich genützt, wenn ich explizit klar gemacht hätte: “Das möchte ich nicht.”
Ja, aus heutiger Sicht und mit genügend Lebenserfahrung. Als Kind kennt man nur jenes System, in dem man aufwächst, und es ist einem in dieser Situation nahezu unmöglich, die eigenen Eltern in deren Verhalten aus einer gewissen inneren Distanz heraus und somit objektiver zu beurteilen. Und gleich gar, wenn man (zu) oft das Gefühl hat, “nicht richtig” zu sein.
4. April 2013 um 12:56
“In dem Alter”, Feathers McGraw, war Kindergartenalter, und es handelte sich um reines Auswendiglernen. Für Landkarten interessierte ich mich später durchaus.
Das Argument der Schwimmlehrerin, Sebastian, verstehe ich allerdings nicht: Sollen Eltern für ihre Kinder nur Spielkameraden sein? Das finde ich nicht. Du bringst deinen Kindern ja hoffentlich auch ein wenig Kochen bei – oder nicht?
Schwimmen hat mir tatsächlich mein Vater beigebracht, und zwar so früh, dass ich keinerlei Erinnerung daran habe. Laut seinen Aussagen musste er das, weil ich, sobald ich laufen konnte, in jedes Gewässer oder Becken sprang, dem ich begegnete. Ungeduldig und enttäuscht war er lediglich, weil ich als Kind keinen Gefallen am Bahnenschwimmen hatte (klar, ist doch langweilig für ein Kind), sondern auch im tiefen Wasser rumpritscheln und spielen wollte.
Genau, Naekubi, das ist eine großartige Beobachtung: Es war das Gefühl völliger Machtlosigkeit. (Instrumentenunterricht konnten meine Eltern sich nur leisten, weil er in der wirklich segensreichen städtischen Sing- und Musikschule Ingolstadts sehr günstig war.)
4. April 2013 um 13:43
Doese Ohnmacht und Machtlosigkeit kannte ich auch: sie ging zwar nicht von meinen Eltern aus, sondern von Frl. Hoiß meiner Grundschullehrerin, die mich zwang mit der rechten Hand zu schreiben, was ich überhaupt nicht einsah, da es mit der linken Hand viel einfacher war, die Buchstaben zu erlernen. (100%ige Linkshänderin) Wenn sie mich linksschreibend erwischte, musste ich in der Ecke stehen. Das ging bis Weihnachten so; ein endgültiges Gespräch mit dem Direktor ergab, dass mir gestattet wurde links zu schreiben, allerdings mit grossen Ermahnungen an mich und meine Eltern, ich würde ein Leben lang Probleme haben. Frl.Hoiß hatte mich daraufhin drei Schuljahre auf dem Kieker und bei jedweder sich bietenden Situation wurden mir Strafen auferlegt. Die Macht der kleinen Frau…..
4. April 2013 um 14:06
Ich bin mit einem recht renitenten Teenager gesegnet – und bei uns geht es nicht um Luxusprobleme wie Querflötenunterricht – und kann Ihnen sagen, das Gefühl der Machtlosigkeit (und der daraus folgenden Frustration) residiert auch auf der Elternseite.
Ich habe auch keine Lösung, glaube aber, dass die Kinder, die weniger geistige und seelische Energie ins “Dagegen-Sein” stecken, einen unglaublichen Startvorteil haben. Die setzen sich selbst in eine Position, wo sie von den Erfahrungen, dem Wissen und den Angeboten ihrer Eltern (oder auch Lehrer) profitieren können – anders als die, die sich in erster Linie über ihr “Dagegen-sein” und “Anders-sein” definieren und die so gar keine Zeit und Energie haben, zu überlegen, wofür sie eigentlich sind und stehen. Und nochdazu jedes Rad noch mal selbst erfinden müssen, egal, wie viele Räder schon von ihren Eltern gebaut worden sind.
Unlängst stand der Zeit ein leicht larmoyanter Artikel über eine Art “neue Spießigkeit”, die sich u. a. durch Harmonie zwischen den Generationen auszeichnet – ich würde meinen linken Arm für ein bisschen Spießigkeit und Harmonie zwischen den Generationen geben.
P.S.: Eltern, die ihre Kinder auf Diäten setzen – natürlich klingt das furchtbar, weil’s dem Kind vielleicht das Bewußtsein vermittelt, irgendwie “nicht in Ordnung” zu sein. Aber was sollen die Eltern denn tun? Zusehen, wie das Kind sich in eine problematische Richtung entwickelt? Wie es sich gesundheitliche Probleme einfängt, unter denen es später leiden wird?
Eltern haben einfach die A*karte.
4. April 2013 um 19:00
“Unlängst stand der Zeit ein leicht larmoyanter Artikel…”
Wahre Worte, wahre Worte. Ich kauf sie ja ab und zu noch, aber das Abo war dem bildungsbürgerlichen Selbstmitleid einfach zu viel Öl ins Feuer. Wenn ich mal zu glücklich und zufrieden bin, lade ich mir einen Artikel von Susanne Gaschke aus dem Internet runter.
5. April 2013 um 1:48
Ich weiss leider nicht mehr wann das los ging mit meinen Hauptstaedten. Ich konnte im Kindergartenalter zwar schon lesen, aber das war wohl doch eher 2-3 Jahr spaeter. Im Kindergartenalter Hauptstaedte ausweniglernen muessen klingt wirklich hart. Sogar mein Floetenunterricht fing erst im Grundschulalter an (Ich kann mich allerdings noch an kindergaertliches Glockenspiel-spielen erinnern, aber ueben musste ich da nicht, das zaehlt also nicht)
@MeinGottFrühling: Kinder muessen nicht auf Diaeten. Kinder duerfen auch mal nicht rank und schlank sein. Aber die sind lange, lange nicht bereit an sich selbst und an ihrer Ernaehrung “bewusst” zu arbeiten, und dann sollte man es auch bleiben lassen, sie sich deswegen schuldig fuehlen zu lassen – damit macht man es naemlich nur schlimmer.
7. April 2013 um 22:11
Das Schöne und Wichtige am Erwachsenwerden ist, dass die Eltern ihre Macht verlieren. Sie sind dann nicht mehr das Gesetz, sondern man sieht sie als Menschen, die ihre eigen Probleme haben und Fehler machen. Dass sie ihre Fehler an uns begangen haben, ist nicht optimal, aber wir sind alle nur Menschen.
Wir können nur hoffen, es selbst besser oder anders zu machen, sollten wir selbst einmal Kinder haben. So viel Macht über andere Menschen werden wir selten haben wie als Eltern…