Vanessa Giese, Da gewöhnze dich dran. Wie ich mein Herz an den Pott verlor
Freitag, 11. Oktober 2013 um 13:38Sollen doch die Hater nölen, ob wohl inzwischen jeder Blogger ein Buch schreibt, der sich auch nur halbwegs im Alphabet zurecht findet. Das kann ja schon deshalb nicht stimmen, weil es unter anderem weder ein Buch von Bosch gibt noch eines von Frau Diener. Und zudem ist es ganz herrlich und eine große Bereicherung, dass Menschen, aus deren Blogs man seit Jahren weiß, dass sie ausgezeichnet schreiben, dieses auch in Buchform beweisen. Jüngstes Beispiel: Nessys Da gewöhnze dich dran.
Dass die Dame schreiben kann, macht ihr Blog seit Jahren zum Publikumsrenner: Frau Draußen nur Kännchen hat nicht nur Sensoren für Geschichten, sondern auch für deren Vermittlung inklusive exzellentem Timing von Pointen. Dieses Gespür für Erzähl- und Sprachrhythmus ist es unter anderem, was ihr Buch so lesenswert macht. Als Leserin ihres Blogs kannte ich die eine oder andere Begebenheit schon, doch spannt das Buch einen schönen Bogen vom Eintreffen der Sauerländerin Vanessa im Ruhrpott über die Begegnung mit den Einheimischen (und zu den Einheimischen wird man dort offensichtlich in dem Moment gezählt, in dem man sich dazu bekennt – ungemein löblich und im meisten Bayern unvorstellbar), ihren Anschluss an eine örtliche Handballmannschaft bis zu den vorsichtigen Anfängen des Wurzelschlagens in einer Beziehung. Ich gewann all diese Menschen aus den Geschichten beim Lesen sehr lieb; dass ich selbst bei so viel menschlicher Nähe und Distanzlosigkeit innerhalb weniger Wochen in eine pyrenäische Einsiedelei geflohen wäre, störte dabei keineswegs. Wenn Nessy sie beschreibt, lese ich sogar Junggesellinnenabschiede, die ich in Echt weiträumig meide.
Vanessa Giese vermittelt mit immer wieder neuen Mitteln Stimmungen und Charaktere, mal in nackten Dialogen (wie heißt untagged dialogue auf Deutsch?), mal in nur scheinbar rein äußerlichen Beschreibungen. Ebenso unaufdringlich und indirekt erzählt sie sich selbst und wie sie all die Geschehnisse aufnimmt. Da ich mitbekommen habe, dass Rowohlt für die Taschenbuchreihen kein echtes Lektorat springen lässt, habe ich umso größeren Respekt vor Nessys Schriftstellertum – und sollte sie so schlau gewesen sein, selbst eine gute Lektorin zu bezahlen, sollte sie die behalten. Wie ich mir ohnehin wünsche, sie würde sich als Nächstes (allein oder eben mit dieser Lektorin) in ausgedachte Kurzgeschichten oder einen Roman stürzen.
§
Meiner Beobachtung nach hat sich ohnehin in den vergangenen etwa zehn Jahren ein neues klares Genre der erzählenden Literatur herauskristallisiert: Lebensliteratur, also spannende Geschichten, die in autobiografischem Hintergrund wurzeln, aber mehr oder weniger weit fiktionalisiert erzählt werden. Als Beispiele fallen mir ein Reading Lolita in Tehran von Azar Nafisi und The Tender Bar von J.R. Moehringer. Gerade in Deutschland beschreibt das eines der dominanten Blog-Profile (und sind es genau die Blogs, die ich am liebsten lese), deswegen liegt es nahe, aus dem einen das andere zu machen. Mittlerweile hat meine Bibliothek bereits ein eigenes Eck für Bücher von Bloggern und Bloggerinnen (Kochbücher stehen extra):
Jetzt freue ich mich schon auf Raúl Krauthausens Dachdecker wollte ich eh nicht werden.1
- Ich hoffe, es hört irgendwann auf, dass ich mir bei jedem Lesen seines Namens wider besseres Wissen denke, dass der doch wohl ein Künstlername sein MUSS. [↩]
10 Kommentare zu „Vanessa Giese, Da gewöhnze dich dran. Wie ich mein Herz an den Pott verlor“
Sie möchten gerne einen Kommentar hinterlassen, scheuen aber die Mühe einer Formulierung? Dann nutzen Sie doch den KOMMENTAROMAT! Ein Klick auf einen der Buttons unten trägt automatisch die gewählte Reaktion in das Kommentarfeld ein, Sternchen darüber und darunter kennzeichnen den Text als KOMMENTAROMAT-generiert. Sie müssen nur noch die Pflichtfelder "Name" und "E-Mail" ausfüllen und den Kommentar abschicken.
11. Oktober 2013 um 14:07
Und woher haben Sie diese launige Information über das fehlende Lektorat bei Rowohlt-Taschenbüchern, liebe Frau Kaltmamsell? Ich wundere mich gerade ein wenig …
11. Oktober 2013 um 14:15
Ausnahmsweise nicht launig, Susanne: “kein echtes Lektorat”, also keine Mitarbeit / gemeinsame Arbeit an Struktur und Sprache. Autoren und Autorinnen berichten, dass wenig mehr als Korrektorat stattfindet. Das unterscheidet sich zum Beispiel deutlich von dem, was ich von der Arbeit des Ullstein Verlags höre. Scheint aber bei reinen Taschenbuchveröffentlichungen üblich: Heyne und Ullstein Taschenbuch verfahren laut Autorinnen auch so, ich nahm immer an, dass sich der Aufwand einfach finanziell nicht lohnt.
11. Oktober 2013 um 15:28
Da muss ich heftig widersprechen; genau diese Zusammenarbeit findet bei meinen und den Projekten der Kollegen immer statt und macht ja auch gerade den Reiz unserer Arbeit aus. Aber sicherlich ist da auch die Wahrnehmung unterschiedlich; manchem Autor ist schon das behutsame Streichen eines Satzzeichens zuviel, andere erwarten die selbständige Vervollständigung eines Manuskript-Fragments durch das Lektorat.
11. Oktober 2013 um 15:31
hachwieschön, noch ein Nessy-Fan. Nach der Lektüre schwebte ich ein wenig über dem Boden, ich Luftkissenboot.
11. Oktober 2013 um 15:31
Vanessa Giese ist übrigens von der Kollegin im Haus mit Herzblut redigiert worden.
11. Oktober 2013 um 18:05
Es gibt Bücher und es gibt Bücher, bei denen ich traurig bin, wenn sie zu Ende sind, also weil sie zu Ende sind. Da gewöhnze dich dran gehört eindeutig zu den Letztgenannten.
12. Oktober 2013 um 12:07
Schönes Bücherbrett! Sie sortieren Ihre Bücher nach Lesedatum, Frau Kaltmamsell?
12. Oktober 2013 um 12:20
Nur diese Sektion, not quite, der Hauptbestand ist alphabetisch nach Schreiber/Schreibe sortiert. Sollte diese Abteilung stark wachsen, wird sie wohl ebenfalls alphabetisiert.
12. Oktober 2013 um 13:22
Das wäre im Bereich Münchner Blogger/innen Autor/innen noch ausbaufähig. Meine Blogger-Buch-Ecke ist wesentlich kleiner, aber anders, was zeigt, wie viele es mittlerweile dann doch gibt.
14. Oktober 2013 um 23:28
Vielen Dank für die tolle Rezension! Ich bin ganz gerührt.
Ein Lektorat hat durchaus stattgefunden. Ob es umfangreich war oder nicht, kann ich letztendlich nicht beurteilen, schließlich ist es mein erstes Buch; ich weiß nicht, wie intensiv so ein Lektorat üblicherweise ist oder sein sollte. Für mich jedenfalls war es, so wie es war, hilfreich und hat dem Buch viel gebracht.