Als ich etwa 16 war, stieß ich beim Wühlen in den Remittenden vor der Buchhandlung Schönhuber auf ein Buch über Handlesen. Es war einfach geschrieben und mit vielen Zeichnungen illustriert. Für die Mark fuchzig, die es kostete, nahm ich es mit.
Die Systematik, mit der das Buch die Bedeutung der Handlinien erklärte, war einfach und leicht zu merken:
Die linke Hand, so hieß es darin, zeige die Anlagen des Menschen, mit denen er geboren worden sei, welches Leben für ihn vorgesehen sei. Aus der rechten hingegen sei sein momentaner Stand im Leben zu erkennen, was er aus diesen Anlagen bislang gemacht habe. (Bei Linkshänderinnen andersrum.)
Die Linien selbst wurden ganz klassisch so bezeichnet:
An Länge, Dicke, Verlauf und Verzweigtheit der Lebenslinie, so ging die Geschichte, könne man das Auf und Ab der Biografie ablesen, mit den erwartbaren Gleichungen: lang = langes Leben, dick und klar = wenige Turbulenzen, zerrissen und von Seitenlinien gekreuzt = unruhiges Leben. Stärke und Klarheit der Kopflinie sollte Aussagen über Größe und Einfluss des Intellekts zulassen, bei der Herzlinie wiederum war der Grad der Biegung wichtig: Je krummer, desto größer der Anteil von Bauchentscheidungen. Auch die Stellung von Kopf- und Herzlinie zueinander trug Bedeutung: Je paralleler, desto sturer. Ein großer Unterschied zwischen den Linien der linken und der rechten Hand wies auf ein sehr selbstbestimmtes Leben hin, das sich kaum von Dritten und äußeren Umständen beeinflussen ließ. Das Buch betonte, die Handlesekunst Chirologie sei keineswegs Hellsehertum auf die Zukunft, sondern gebe lediglich Aufschluss über Veranlagung und Charakter eines Menschen. (Alles aus dem Gedächtnis, das Buch habe ich schon lange nicht mehr.)
Mit diesem oberflächlichen Wissen machte ich mich an das Lesen von Händen. Und wurde ein Partystar: Sobald ich einer die Hand las, standen die anderen schon Schlange und wollten auch. Selbst auf Festen meiner Eltern wurde diese Leserei vorübergehend ein Programmpunkt: Meine Mutter ließ fallen, dass ich übrigens Handlesen gelernt hätte, und der Abend war gelaufen.
Ich stellte schnell fest, wie einfach die Menschen dabei zu beeindrucken waren: Ein paar anfängliche Erklärungen wie oben notiert, und dann musste ich lediglich auf die Reaktionen meines Gegenübers eingehen und mein Wissen über diese Person nutzen: “Oh, ich sehe einen ganz schwierigen Lebensanfang”, war bei einer Nachkriegsgeborenen ein ziemlich sicherer Treffer. Den von Überstunden geplagten Büroarbeiter auf die gebogene Herzlinie hinzuweisen und eine Zerrissenheit zwischen Pflichten und inneren Bedürfnissen herauszulesen, war auch nicht schwierig. Und irgendwo in der Hand fand ich dann schon noch etwas, mit dem ich ihn trösten konnte, dass das alles bald besser würde.
Gleichzeitig erschrak ich, wie begierig die Leute meine Interpretationen aufsogen und glauben wollten. Ich stand hilflos und befremdet vor dieser ungeheuren Sehnsucht, eine tiefe Wahrheit über sich zu erfahren, das wahre Selbst (die Fragebögen in Frauenzeitschriften leben davon). “Ja! Genau!”, riefen sie und sahen mich fassungslos begeistert an – auch wenn es zum Glück immer jemanden in dritter Reihe gab, der “Pah. Humbug.” schnaubte. Auf einer Party meiner Eltern wich mir ein Gast nicht mehr von der Seite, nachdem ich ihm aus der Hand gelesen hatte. Er folgte mir kuhäugig und schien überzeugt, ausgerechnet in diesem gschaftigen Teenager den einen Menschen gefunden zu haben, der ihn wirklich verstand.
Für mich war es ein Spiel, das umso besser funktionierte, je öfter ich es betrieb. Chirologie ließ sich halt, wie jedes ausgedachte System, das sich nicht an Naturgesetze halten muss, sehr flexibel und individuell einsetzen.
Zum letzten Mal griff ich darauf mit 18 zurück, als mir vor der Kathedrale in Sevilla eine gitana ihre Handlesekünste anbot. “Danke, kann ich selbst”, wandte ich mich ab – da hielt sie mir ihre Hand hin und bat mich, ich solle ihr daraus lesen. Den Gefallen tat ich ihr gerne, woraufhin eine weitere gitana mitdiskutierte, dann noch eine (ich glaube es ging in erster Linie darum, ob und wie man die Zahl der künftigen Kinder erschließen kann). Meine Reisegefährtin Veronika machte die denkwürdige Aufnahme: Kaltmamsell liest vor der Kathedrale von Sevilla einer gitana aus der Hand.
Doch schon mit 16 betrachtete ich natürlich als erste meine eigenen Handlinien, als naheliegendes Beispiel und zum Lernen der Systematik aus dem Buch. Und war ein wenig verwirrt: Die Lebenslinien beider Hände wollten nicht recht zu den Zeichnungen passen. Ich musste sie entweder als nach zwei Dritteln endend interpretieren, oder ich hatte je zwei, von denen eine die andere ablöste. Nun gut, nach dem Muster, mit dem ich beim Handlesen andere beeindruckte, lautete die Prophezeiung, dass es im dritten Viertel meines Lebens wohl eine existenzielle Veränderung geben würde – einen Unfall vielleicht, der meine körperlichen Fertigkeiten beeinflussen würde. Oder einen großen Umzug in eine andere Gegend der Welt.
Und nach dem Muster, mit dem meine Gegenüber ihre realen Erfahrungen in meine Aussagen einsortierten, könnte ich im Moment darauf hinweisen, dass das das ja wohl alles stimmt: Ich habe im dritten Lebensviertel mein bis dahin geführtes Leben (na ja, Berufsleben) abgebrochen, führe ein anderes Leben weiter. Nun wird lediglich spannend, ob ich mich schon in diesem neuen Leben befinde (das wäre unangenehm) oder noch in der Lücke zwischen den beiden Lebenslinien und erst zu diesem neuen Leben finde.