Journal Donnerstag, 20. Februar 2014 – Migränetag
Freitag, 21. Februar 2014 um 6:26Unruhige Nacht mit Kopfweh, das ich mir im Halbschlaf mit zu wenig Flüssigkeitszufuhr erklärte. Mitbewohner sieht mich überm Morgenkaffee, fragt: “Migräne?” Als ich “Weiß nicht so recht.” antworte, meint er: “Immer, wenn du das sagst, ist es Migräne.” Ich lege mich nochmal hin, aber da ist sie schon, mit Übelkeit, Kopfschmerz, Lichtempfindlichkeit. Triptan-Nasenspray, E-Mail an die Arbeit, zurück ins Bett.
Fünf Stunden später wache ich dann richtig auf, der Rachen kalt und rau vom Migränemediakament. Draußen scheint die Sonne aus bayerisch weiß-blauem Himmel, aus mir bricht der Enthusiasmus “Raus!” – doch in meiner post-migränalen gleichzeitigen Dünnhäutigkeit und Dumpfheit ist das ein lustig torkelnder und stolpernder Enthusiasmus, der gleichzeitig doch erst noch Zähne putzen und Arbeitsmails lesen will.
Kurzer Schreck beim Zähneputzen, weil die Pupillen sehr unterschiedlich groß sind.
Schwindel und Schwäche wollen bis zum Abend nicht verschwinden, ich schaffe es nicht mal zu einem kleinen Spaziergang in der Sonne. Zumindest die Pupillen kriegen sich wieder ein.
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Den Amseln Rosinen auf die Balkonbrüstung gelegt (das macht sonst der Mitbewohner mindestens einmal täglich). Inzwischen sind sie so zutraulich (gierig?), dass sie noch vor Zuklappen der Balkoktüre anfliegen und fressen.
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Abends das Grapefruitsaft-verklebte iphone ein wenig auseinandergenommen und ein wenig gereinigt. Home-Knopf ging dann immer noch nicht, doch durch den Neustart konnte ich die Funktion zumindest aufs Display verlegen. (Danke Kommentator gotti für den Tipp!)
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Was auch gerade ist: Ich weniger. Meine Kleidung sitzt deutlich lockerer, eine langsame Entwicklung der vergangenen drei Monate. Ich wollte das hier schon länger festhalten, um mich daran zu erinnern, wie wenig Grund zur Freude das sein kann. Denn sehr wahrscheinlich ist dieser Gewichtsverlust durch den unguten Appetitmangel verursacht, der aus einigen derzeitigen Lebensumständen resultiert. Es gibt hoffentlich noch genügend Menschen, die sich erinnern, dass Appetitmangel ein schlechtes Zeichen ist und nichts Erstrebenswertes. Wenn nicht: Denken Sie einfach mal an Ihre Haustiere – wenn die nichts mehr fressen mögen, sorgen Sie sich doch, oder?
Ich möge bitte daraus lernen: Dünner ist eben nicht immer besser. Und ich möge bitte, bitte daraus lernen, mich nicht automatisch wie der letzte Dreck zu fühlen (selbst nur auf einer der vielen Bewusstseinsebenen, die der Mensch so hat), wenn die Kleidung mal wieder enger sitzt. Das ist halt so.
(Dazu passt der Anfang dieses Artikels: “1200 calories”, vor allem der erste Cartoon.)
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Gelesen:
In erster Linie viele Tweets und die darin verlinkten Informationen über die Vorgänge in Kiev, immer im Hinterkopf, dass es sich um emotional aufgeladene Einzelsichten handelt, und dass es praktisch unmöglich ist, einen Überblick zu bekommen – auch für die traditionellen Medien. Sehr hilfreich fand ich einen Hintergrundartikel vom 30. Januar in der Washington Post:
“9 questions about Ukraine you were too embarrassed to ask”.
Vor allem das schnelle Medium Fernsehen vergisst in heißen “Breaking news”-Phasen, Hintergründe und Vorläuferereignisse zu erwähnen; die Berichterstatter mögen diese Informationen im Hinterkopf haben, doch bei den Nachrichtenempfängerinnen kommt nur die aktuelle Katastrophe an – was dann schnell nach reiner Sensationsberichterstattung aussieht.
Andrea Diener bloggt schreibt für die FAZ über die Verhältnismäßigkeit von Reiseunbillen:
“Unterwegs mit Poolsaugern”
“Geschrieben ist immer nur gefiltert.”
Das Leid der Wörtermenschen sucht Bilder, die sich in Wörtern formen lassen. Erzählen ist der Ausgang, zu dem wir immer streben. Auch wenn wir den Verdacht haben, dass das gar kein Ausgang ist, denn: Sind wir dadurch je dem Leid entkommen? Erzählen ist unser Mit-Teilen. Als gäbe es eine Vergleichbarkeit von Leid. Eine Relation von Leid. Ich kenne nicht nur das ständige Greifen nach Wörtern. Ich kenne auch das Verstummen. Immer öfter bricht er in mir ab, der Mechanismus des Greifens nach Wörtern. Nichts wird besser.
3 Kommentare zu „Journal Donnerstag, 20. Februar 2014 – Migränetag“
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21. Februar 2014 um 23:55
ich wünsche Ihnen einen sehr schönen “day after” – man kann sich versuchen zu trösten mit der Erkenntnis, dass man die Abwesenheit von Schmerz erst dann schätzen kann, wenn man auch den Schmerz kennengelernt hat.
gute Besserung.
22. Februar 2014 um 18:24
Ist bei mir genauso, wenn ich noch zweifele, ob es wirklich Migräne ist, redet mir der Mann gut zu, dass ich ein Triptan einwerfen soll. Und wenn ich nicht darauf höre, bereue ich es fast immer.
22. Februar 2014 um 22:22
Ohjeee, Sie Arme!
Das Tier Migräne hat scharfe Zähne und einen tiefen Biss.
Letzte Woche hatte ich sie wieder zu Gast, nach einem halben Jahr.
Und davor jede Woche ein Mal, fast mein Leben lang.
Ich schriebe ihr Fastverschwinden zwei Dingen zu: der Entschleunigung meines Lebens und dem täglichen Magnesium.
Ich habe aufgehört zu planen, lassen vieles auf mich zukommen, habe völlig freie Wochenenden ohne einen einzigen festen Termin. Kurzfristig und spontan. Ein Ja bekommt wer, wenn mir nach Ja ist, ein Nein wenn Nein gilt.
Aber vielleicht ist es auch nur das Magnesiumpülverchen.