Beifang aus dem Internet

Sonntag, 4. Mai 2014 um 9:03

(Sammlung der vergangenen zwei Wochen.)

Die Kommentare in den Online-Ausgaben von Publikationen können einen innerhalb kürzester Zeit an der Menschheit zweifeln lassen. Kein Wunder, dass Journalistinnen, die auf diesem Weg erste Bekanntschaft mit dem Mitmach-Web machten, das Internet tendenziell für die Ausgeburt der Hölle hielten. Wer sich in diesem Web schon lange bewegt, hat wiederum meist gelernt, Kommentare in den Online-Ausgaben von Publikationen nie zu lesen, nienienie.

Zeit online hat nun weder das eine noch das andere gemacht. Die Redaktion ließ es in einem ganz speziellen Fall nicht auf sich beruhen, dass sie in Kommentaren beschimpft wird. Sie wollte wissen, wer diese Menschen sind und welche Perspektive sie haben:
“Ein Besuch bei den Verteidigern des Krawallautors Akif Pirinçci.”

Manche Ergebnisse sind erwartbar (haben das Buch, das sie leidenschaftlich verteidigen, nicht gelesen), andere nicht.

Die Reise zu Pirinçcis Anhängern ist eine Reise zu Menschen, die sein Buch kaum kennen – noch nicht oder gar nicht. Die Reise führt 1738 Autokilometer durch Deutschland, von Hamburg nach Berlin, von Berlin nach Hessen, von Hessen in die Eifel, von der Eifel ins Rheinland. Sie führt zu gebildeten Menschen, die sich auszudrücken wissen, viel gewählter als Pirinçci.

Die Geschichte kommt angenehmerweise zu keinem Endergebnis, reflektiert aber:

Sind wir, die Journalisten der großen Zeitungen, unehrlich? Man muss über uns keine Studien anfertigen, um zu erkennen, dass wir stärker zum rot-grünen Milieu tendieren als die meisten Wähler. Natürlich stammt kaum jemand von uns aus einer Hartz-IV-Familie. Natürlich leben wir viel zu oft in denselben bürgerlichen Stadtteilen derselben Großstädte, in Berlin-Prenzlauer Berg oder in Hamburg-Eppendorf. Altbau, hohe Decken, Fischgrätparkett. Natürlich leidet unser Blick auf die Welt unter dem Eppendorf-Syndrom. Aber nur, weil wir selbst in einer Homogenitätsfalle der urbanen Mittelschicht stecken, wird nicht der Umkehrschluss zulässig, Pirinçci leiste aufrichtige Basisarbeit.

§

Das biologische Geschlecht definiert nicht immer die Persönlichkeit, manchmal sogar überhaupt nicht. Fotografin Kathrin Stahl schildert auf ihre Weise einen Fall von überhaupt nicht:
“Sören ist Sophie oder mein Sohn ist meine Tochter ist mein Kind. Ein Fotoprojekt.”

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Zu den vielen Dingen, die ich aus der Bloggeria gelernt habe, gehört die Vorsicht vor Projektionen auf anderer Leute Lebenswirklichkeit. Wie sich jemand in seiner ganz speziellen Situation, in seinem Leben fühlt, kann sehr von meinen Vorstellungen abweichen. Erst mal nachfragen, erst mal zuhören. (Weswegen ich übrigens den Erziehungssatz “Was du nicht willst, dass man dir tu, das füg auch keinem andern zu” inzwischen skeptisch sehe.) Vielleicht liest Matthias Schweighöfer einfach keine Blogs. Deswegen muss ihm Christiane Link das explizit erklären:
“Matthias Schweighöfers Meniskus und meine Lebensqualität”

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Nachfragen, zuhören:
“What is life like for an unattractive woman?”

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Sehr gerührt war ich über Modestes Schilderung, wie sie mit ihrem kleinen Sohn Musik hört: “Wenn die Geigen klingen”

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Als sonntäglicher Rausschmeißer noch was zum Angucken (wenn jemand eine klare Handschrift hat, ist er halt auch leicht zu parodieren):
“Opening credits to the movie Forrest Gump if Wes Anderson had directed it.”

die Kaltmamsell

1 Kommentar zu „Beifang aus dem Internet“

  1. Trulla meint:

    Weder habe ich Akif Pirinccis noch Thilo Sarrazins Buch gelesen, allerdings die Diskussionen in den Medien mitverfolgt. Ob diese Bücher geschrieben wurden, um eine notwendige Diskussion in Gang zu setzen oder nur billig polemisieren und verdienen zu wollen? Ich weiß es nicht. Die Diskussion selbst schadet jedenfalls unserer Gesellschaft nicht. Schließlich sind in der Vergangenheit und auch heute viele Versäumnisse zu verzeichnen, die vielen unserer aus anderen Kulturkreisen stammenden Mitbürgern hätten helfen können, sich erfolgreich zu integrieren.

    Das ist in erster Linie unserem Staat, aber auch den Zuwanderern selbst anzulasten. Ohne Verständigungsmöglichkeit durch Sprache (was entsprechende Lernangebote voraussetzt) klappt es nun mal nicht – eine Binsenweisheit.

    Wobei selbstverständlich festgehalten und anerkannt werden muss die enorme Leistung der Migranten, die es geschafft haben und die Gesellschaft in vielerlei Hinschicht bereichern. Von denen aber kaum jemals die Rede ist.

    Gut finde ich, dass die ZEIT den Dialog suchte mit ihren Kritikern und sich durchaus selbstkritisch betrachtet.

    Ich selbst stelle auch bei mir, als grundsätzlich toleranzbereite Person, fest, dass ich Grenzen pflege, die ich keinesfalls überschritten sehen möchte.

    Das Beispiel des Homosexuellen, der zu Recht nach Jahrzehnten des Kampfes um Anerkennung sich nicht mehr beschimpfen lassen möchte leuchtet mir ein.

    Als Frau finde ich es sinnvoller, mich für die größtmögliche Freiheit aller Frauen einzusetzen statt Verständnis für die unterdrückende Kultur ihrer Herkunft zu fordern.

    In der BRD lebende Frauen in Burka zu sehen, davor locker stolzierend der Mann in Jeans und Holzfällerhemd, verursacht mir Übelkeit. Jedoch: besser im Burkini schwimmen lernen als gar nicht.

    Ansonsten sehe ich als nicht religiöser Mensch über persönliche Zeichen der Religiosität wie Kippa, Kreuz oder das umstrittene Kopftuch hinweg. Störe mich aber sehr an den Kruzifixen in staatlichen Einrichtungen.

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