Archiv für Mai 2014

Berlin im Frühling 2014 – 6, re:publica

Freitag, 9. Mai 2014

Auch wenn ich befürchtete, dass ich frieren würde, trat ich den letzten Konferenztag in kurzen Ärmeln und ohne Strümpfe an – ich hatte mich doch so darauf gefreut, dieses Kleid erstmals auszuführen (dass die Maßeinheit für Schmutz auf der Fotoapparatlinse Hamilton heißt, wussten Sie?)

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Zwischen Blogwelt und Unternehmswelt zu vermitteln ist bereits ein eigenes Berufsbild geworden. Mich interessierte, was diejenigen zu berichten haben, die das seit Jahren tun: “How do You Buy a Blogger? – Blogger Relations from a Global Perspective“. Zunächst wurde ich immer zuversichtlicher: Die Grundregeln und Standards, auf deren Basis Unternehmen heute idealerweise mit Bloggerinnen verhandeln, klangen wunderbar: Distanz, Transparenz, Wertschätzung, Professionalität, Fairness. (Auch wenn die Menschen auf dem Podium zugaben, dass sie das ihren Kunden immer wieder neu erklären und beibringen müssen.) Sehr interessant auch das aufgezeichnete Filmstatement der russischen Bloggerflüsterin: Am 5. Mai hat Putin ihr zufolge ein neues Gesetz unterzeichnet, nach dem Blogger mit einer Reichweite über 3.000 Leserinnen und Lesern sich als Medienvertreter unter Klarnamen registrieren lassen müssen.

Doch dann wurden Beispiele für erfolgreiche Blogger Relations genannt. Und dummerweise gehörte ich zu den Angeschriebenen von einer – die ich verheerend gefunden hatte. Leise verabschiedete sich meine knospende Zuversicht in die Zukunft der Blogger Relations: Es werden vermutlich doch schlicht diejenigen eingefangen, die gerne alles schreiben und veröffentlichen, um nur weiter bemustert und eingeladen zu werden. Andererseits ist das möglicherweise genau die richtige Zielgruppe für Unternehmensaktionen: Diese Blogs werden sehr wahrscheinlich von Menschen gelesen, die das völlig in Ordnung finden und deren Bild des Unternehmen dadurch positiv beeinflusst wird.

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Im Programm hatte ich einige Veranstaltungen gefunden, die sich mit dem Verhältnis von Science Fiction und technischen Entwicklungen befassten – sehr interessant. Ich entschied mich für “Science fiction as a laboratory for big ideas” von Uri Aviv, dem Gründer und Leiter des Tel Aviver Science-Fiction-Filmfestivals Utopia. Ihm war es wichtig, uns Zuhörerinnen zu Botschafterinnen für Science Fiction zu machen, die in seiner Wahrnehmung nach immer noch zu wenig geschätzt wird. Hm, da sprach er natürlich auf der re:publica zu den seit Langem Bekehrten (wenn auch in meinem Fall erst mit Mitte 20 durch den Mitbewohner).

Uri erzählte als Beweis für die Relevanz von Science Fiction, wie es zu dem Brief gekommen war, den Albert Einstein 1939 an den US-Präsident F.D. Roosevelt schrieb.

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Weil die Juniorkunsthistorikerin Anke Gröner am Vorabend darauf hingewiesen hatte, besuchte ich Harald Klinke und sein “Bildmedien der Zukunft und wie sie unser Bild der Welt verändern“. Leider war nicht wirklich drin, was drauf stand. Klinke berichtete zwar vom Wandel der Bilder und der bildgebenden Techniken über die Jahrhunderte, erzählte auch von den allerneuesten, zum Teil noch nicht marktreifen Techniken. Er führte auch die Erscheinung ein, die seiner Meinung nach künftig den größten Einfluss haben wird: Big data / big image data (er meinte damit die iCloud). Doch genau an diesem Punkt blieb er stehen und verriet uns nicht, wie dieser Einfluss seiner Meinung nach aussehen wird.

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In “Todessternsünden” tapste ich einfach Frau … äh … Mutti und Frau Brüllen hinterher.

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Die Referentin gab zu, dass die Veranstalter den Vortrag lediglich wegen des schönen Titels ins Programm genommen hatten, und arbeitete dann die klassischen katholischen Todsünden auf ihre Anwendbarkeit im digitalen Leben durch, in guter christlicher Selbstbezichtigung immer wieder mit sich selbst als schlechtem Beispiel.
Sehr rührend war es, als ihre Schwester der abschließenden Aufforderung zur Beichte nachkam. Sie war im Vortrag immer wieder als Opfer der Sünden erwähnt worden und nutzte die Gelegenheit zu Widerspruch und einer wunderschönen, entwaffnenden Liebeserklärung an ihre Schwester.

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Hauptsächlich als Fangirl besuchte ich das Interview mit Gabriele Fischer, Gründerin und Leiter von brandeins: Ich wollte sie einfach mal persönlich erleben.

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Als Dreingabe bekam ich interessante Informationen wie diejenige, dass brandeins sich nur zu 45 Prozent aus Anzeigen finanziert (sonst für Magazine üblich: 80 Prozent): “Wir haben von Anfang an ein Magazin für Leser gemacht.” Und dass die Online-Ausgabe überhaupt keine Anzeigen schaltet: Die Redaktion suche immer noch nach einer “intelligenten, kreativen Anzeige, die nicht stört”. Mit dieser Suche und dem Versprechen, diese sogar kostenlos zu schalten, seien zahlreiche Hamburger Werbeagenturen angeschrieben worden. Nur eine habe überhaupt geantwortet.

Zitierbares zu den Anfängen von und vor brandeins (an die ich mich lebhaft erinnere): “Wir hatten keine Ahnung, worauf wir uns einließen – was ein ganz wichtiger Gründungsimpuls ist.”

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Der Vortrag von Felix gehört zur re:publica wie der von Sascha Lobo – mit dem Vorteil, dass er sich wegen späterer Terminierung auf den von Sascha beziehen kann.

Diesmal hieß er “Wie ich lernte, die Überwachung zu lieben“.

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Felix legte den Finger auf die Wunde unseres Gegenüberwachungsaktionismus’: Wir können nicht einmal konkret den Feind benennen oder unser Ziel. “Die Überwacher” reicht nicht (Staat? Behörde? Unternehmen?), genauso wenig “Datenschutz” als Ziel.

Die dramatischste Auswirkung der ganzen Sache stand auf der abschließenden Folie.

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Mein Vortragsrausschmeißer aus der re:publica war Eva Horns “Über das Entlieben in Zeiten des Internets“. (Ich kenne die Dame vor allem über instagram und wechselte abends auf dem Hof endlich auch in Person ein paar Worte mit ihr.)

Eva beleuchtete die mannigfaltigen Aspekte, die ein Partnerschaftsende in der digitalen Welt hat: “Kann man sich heutzutage noch trennen, ohne sich vorher eine Social Media Strategie ausgedacht zu haben?” Dabei sortierte sie typisches Trennungsverhalten und baute die Ergebnisse einer gründlich unrepräsentativen Fragebogenaktion im Freundeskreis ein. Eine Verifizierung durch das Publikum mit Handheben kam entsprechend auch zu gründlich anderen Ergebnissen.

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Bei allem Schmunzeln nehme ich an, dass in dem Thema noch mindestens zwei Dutzend ungeschriebene Frauenzeitschriftsbücher, wenn nicht sogar die Drehbücher für drei Vorabendserien stecken. (Eva, deine Chance!)

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Dann war’s aus.

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Foto: CC BY SA 2.0 Gregor Fischer

Johnny Häusler fasste die Veranstaltung in Zahlen zusammen. In zu 80 Prozent ordentlich albernen Zahlen (verbrauchte Meter Armbändel, von den Organisatoren gegangene Schritte zwischen Orgabüro und Stage 1 etc.) – bezeichnend für den Geist der re:publica, denn das kann ich mir auf keiner Veranstaltung vorstellen, die ich jemals beruflich besucht habe.

Der Dank an Team und Helfer war lang und ausführlich – vom Publikum bis zum Letzten mit Applaus gewürdigt. (Ausnahme: Die beiden Herrschaften vor mir. Was geht wohl in diesen Nicht-Applaudierern vor? Hat es ihnen nicht gefallen? Fühlen sie sich nicht gemeint?)

Und ganz zum Schluss haben wir alle gesungen.

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Zusammengefasst:

Diesmal bekam ich kaum Einblicke in völlig Neues, hatte keine so großen Aha-Erlebnisse wie die vergangenen Jahre. Was selbstverständlich nicht am Programm, sondern an meiner Auswahl lag: Zum ersten Mal hatte ich immer wieder das Gefühl, dass die anderen Veranstaltungen spannender waren als meine Wahl. Ein Glück, dass ich die meisten als Aufzeichnungen nachholen kann.

Aber wieder fühlte ich mich sehr unter my people (was in mir kein schlechtes Gewissen erzeugt, denn dies ist nicht der passende Ort, mal ganz andere Welten kennenzulernen). Der Kreis von Menschen, die ich auf der re:publica wiedersehe, wird immer größer, und auch diesmal kamen neue Gesichter zu Namen hinzu. Wieder bin ich überwältigt von der Größe und Qualität dieses Monsterprojekts, das die Macherinnen und Macher mit Spaß und Spinnerei gestemmt haben. Danke.

(Weil ich’s sonst nirgends unterbringe: Eine neue Erscheinung waren die zahlreichen animierten gifs in den Präsentationen. Und meinen Lieblingsaufkleber trug @riedelwerk)

Berlin im Frühling 2014 – 5, re:publica

Donnerstag, 8. Mai 2014

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So ein Leben mit Nachtleben bin ich nicht gewöhnt, nach dem vierten ausgegangenen Abend in Folge brauchte ich dann doch Schlaf. Ich ließ die erste Veranstaltungsschiene ausfallen und trat erst zu einer weiteren Session an, in der die re:publica-Teilnehmerinnen und -Teilnehmer beschimpft wurden, zu Yasmina Banaszczuks “Get real, Netzgemeinde”. (Saal überfüllt, ich begann den Kongresstag mit kaltem Hintern auf dem Boden.)

Im Gegensatz zu Sascha Lobo am Vorabend sieht Yasmina, die ich als stern.de-Kolumnistin Frau Dingens schätze, die Handlungsnot des Internetaktivismus in der Integration größerer Bevölkerungsgruppen ins Internetleben. Wenn sie den Begriff schon verwendete, fragte sie allerdings auch, ob es sowas wie die Netzgemeinde überhaupt gebe oder ob auch nur die Besucherinnen der re:publica genug verbinde, um sie als Gemeinde bezeichnen zu können. Ich nehme Letzteres auf jeden Fall an, und sei es nur die Zustimmung, dass das Internet etwas Gutes ist. Der Titel des Vortrags aber und Yasminas Ausführungen wiesen darauf hin, wie klein und ausgrenzend diese Gemeinde ist; eine Elite, die auch die ausgrenze, die etwas bewegen könnten, komme aber naturgemäß zu nichts. Ich gebe ihr Recht (auch wenn ich in einer Wortmeldung das Gegenteil vorschlug: Eine schlagkräftige, charismatische Lobbygruppe für uns Interessensverband). Allerdings bin ich schon seit Jahren zu ungeduldig, Menschen das Internet zu erklären oder gar nahezubringen, die massive Resentiments haben. Die Welt ist groß genug für uns alle, dann lasst das mit dem Web halt bleiben (solange ihr mir nicht immer wieder aufs Neue unter die Nase reiben müsst, wie sehr und konsequent ihr das tut). Auf sachlicher Ebene erkläre ich das Internet aber immer wieder gerne.

Mitgenommen aus dem Vortrag habe ich mir unter anderem, dass es in der YouTube-Welt (wo DIE jungen Leute sind) eine Ecke gibt, in der wirkungsvoll gegen hate speech vorgegangen wird. Und aus einer Reaktion auf meinen provokanten Gegenvorschlag, dass wir gemäß Vorbild ADAC richtig schlagkräftig werden könnten, wenn wir einen verlässlichen, wohl organisierten Gadget-Reparaturservice anböten.

Als ich im gedruckten Tagesprogramm entdeckte, dass Katharina Borchert als Diskussionsteilnehmerin zum Thema “Lohnt sich Onlinejournalismus überhaupt noch? Das Problem der Monetarisierung” angekündigt war, plante ich spontan um und ging dorthin. Doch da war keine Lyssa auf der Bühne. Auf mein getwittertes Bedauern verwies sie mich auf das Podium, auf dem sie tatsächlich mitdiskutieren würde.

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Eine Bereicherung war dieses Panel aber auch ohne sie. Ich erfuhr Zahlen, wie weit die traditionellen Medien inzwischen neue journalistische Formen wie Blogs und Bewegtbild integriert haben, und wie viel stärker inzwischen reine Onlinepublikationen um ihre Einkünfte kämpfen müssen. Richard Gutjahr, der ja schon in den vergangenen Jahren eine Reihe von Einkunftssysteme für seinen Onlinejournalismus ausprobiert hatte, berichtete von seinem aktuellen Einsatz von LaterPay. Denn einerseits schilderte er genau das Dilemma, in dem wir wertschätzende Leserinnen täglich stecken: Wir lesen etwas Großartiges und würden gerne dafür zahlen (oder lesen einen Teaser, würden gerne gegen Geld den ganzen Artikel lesen), 20 Cent vielleicht – doch man lässt uns nicht! Wir sollen statt dessen Abos für 60 Euro kaufen, die uns nicht nur auf einen langen Zeitraum verpflichten, sondern auf ein Medium festnageln – wo wir doch im Internet meist gar nicht mitbekommen, ob wir gerade bei der FAZ oder bei der Welt gelesen haben. Andererseits kenne ich das Problem der Mikro-Payments: Die Zahlungsabwickler beharren darauf, dass ihr Aufwand für die Abwicklung so groß sei, dass sie sich nur für enorme Gebühren lohne; von 50 Cent Zahlung über PayPal bleiben laut Gutjahr 14 Cent Einnahme. LaterPay scheint eine Alternative zu sein. Zumal Gutjahr sich von Systemen wie flattr auch deshalb verabschiedet hat, weil er “keine Almosen, sondern echte Bezahlung” beansprucht. Kann ich nachvollziehen.
Nachtrag: Hier die Diskussion zum Anschauen.

Journelle, Bloggerinnenurgestein, das praktisch schon immer da war, erzählte uns was über “Beyond Porn oder Die digitale sexuelle Revolution”.

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Denn einerseits fällt ihr immer wieder auf, wie verdrängt, verzerrt und sprachlos die Themen Sexualität und Porno in der Mainstream-Öffentlichkeit sind, andererseits hat sie miterlebt, wie lebendig und nahbar sie im Internet sind. Mit Präsentationsfolien, die mich immer wieder an den Stil ihres Bruders erinnerten (die Elisabethaner hätten sie begeistert für ihr Konzept des conceit verwendet), zeigte sie auch, wie sich die gesamte Sexindustrie im Web endlich auch aus eigener Perspektive darstellen kann und nicht mehr ausschließlich unter Ausschluss der Beteiligten diskutiert wird. Der große Saal war knallvoll, es wurde viel gelacht und am Ende begeistert applaudiert.
Nachtrag: Hier der Vortrag zum Anschauen.

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Lyssa erwischte ich dann doch noch auf der Bühne in den letzten Minuten von “Kapuzen auf! – Über Hoodiejournalismus, Blätterrauschen und andere Neuheiten im Pixelwald” (leider ohne den Aufhänger-gebenden Stefan Plöchinger). Ich bekam gerade noch mit, dass der größte und dominierende Traffic-Zuwachs bei allen drei vertretenen Medien über Facebook kommt, dass also immer mehr Menschen die Artikel auf oder über Links auf Facebook lesen. Jochen Wegner berichtete auch, dass Facebook Medien ganz gezielt und auffallend umwerbe. Mehr über diese Session bei kress.de.

Nach einer Runde Damenkaffeekränzchen auf dem Affenfelsen (von Frau wortschnittchen mit Deckchen, Kaffee und schönem Geschirr ausgestattet) hörte ich mir Brigite Zypries’ Aussagen zu “Die digitale Agenda” an. Ich begrüße es sehr, dass Spitzenbundespolitikerinnen persönlich rüberkommen (bildete mir ein, Frau Zypries auch schon am Vortag auf dem Hof gesehen zu haben), und auch wenn Frau Zypries nichts sehr Neues erzählte, wurde schnell ihre tiefe inhaltliche Kenntnis klar. Vor dem Publikum der re:publica musste sie halt nicht so viel vereinfachen wie sonst. Gelernt habe ich von ihr die diplomatische Korrektur: “Da war eine gewisse Unschärfe drin”, nachdem die ihr gestellte Frage massive sachliche Fehler enthalten hatte.
Nachtrag: Hier das Interview zum Anschauen.

Am späten Nachmittag endlich die Session, auf die ich mich seit Wochen gefreut hatte: “Irgendwo muss man halt anfangen – Programmieren für Nullcheckerbunnys” von Anne Schüßler und Kathrin Passig. Ich war ja vergangenes Jahr dabei gewesen, als die beiden auf das “Man müsste mal” dazu kamen, das zu diesem Workshop führte. Kurz hatte ich befürchtet, meine Kenntnis von dreieinhalb HTML-Tags könnte mich bereits vom Nullcheckertum ausschließen, doch des Mitbewohners schallendes Gelächter als Antwort beruhigte mich. Er kann nämlich programmieren.

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Es war eine hochunterhaltsame Stunde. Zum einen wirkten die großen Bilder von süßen Tieren auf jeder Folie, die für uns Nullcheckerinnen das Programmieren positiv besetzen sollten. Zum anderen vermittelten Kathrin und Anne wirklich die Zuversicht, dass der Einstieg ins Programmieren machbar ist – und nur darum ging es. Immer wieder betonten sie es, wenn Empfehlungen ausschließlich für den Einstieg galten (zum Beispiel Code kopieren, den man nicht versteht). Und nun bilde ich mir nicht nur ein, dass auch ich es einfach mal versuchen könnte, sondern weiß auch, mit welchem Projekt ich anfange (was fürs Blog).
Sobald ich weiß, wo die Präsentation steht, verlinke ich sie hier.
Nachtrag: Hier ist sie.

Den Abend nahm ich mir menschenfrei – und traute mich sogar, nicht einfach wortlos zu verschwinden, sondern mich mit dieser Erklärung zu verabschieden. Denn mein Rudel, diese Leute auf der re:publica, die verstehen sowas.

(Gerührt bin ich übrigens auch davon, dass die re:publica mittlerweile zumindest von ein paar Menschen in traditionellen Medien verstanden wird: “Hier können alle für eine freie Gesellschaft kämpfen”.)

Berlin im Frühling 2014 – 4, re:publica

Mittwoch, 7. Mai 2014

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Die re:publica bereits von den Vortagen durchfeiert anzutreten, war für mich neu. Doch ich stellte überrascht fest, dass die Menschen und die Verabredungen an den Tagen davor meine soziale Energie nicht aufgebraucht haben, sondern mich möglicherweise sogar entspannt.

Das Registrierungsprozedere war dieses Jahr aufs Nebengebäude ausgelagert, gut durchdacht und flüssig. Unter anderem druckten die Helferlein (einer freundlicher und hilfsbereiter als die nächste) die Namensschilder erst bei der Registrierung aus: Die Teilnehmer konnten die Aufschrift also noch beeinflussen. So laufe ich dieses Jahr sowohl als die Kaltmamsell als auch unter bürgerlichem Namen durch die Station.

Erste bekannte Gesichter und Haarfarben traf ich bereits auf dem Weg zur Begrüßung in der riesigen Halle 1; schon hier wurde klar, dass die Teilnehmerinnenzahl im Vergleich zum Vorjahr deutlich gestiegen war. Das führte auch dazu, dass ich im Lauf des Tages mehrfach an meine erste re:publica denken musste, 2011 noch in Kalkscheune/Friedrichstadtpalast: Zwei meiner Wunschvorträge bekam ich nicht mit, weil der Saal überfüllt war und ich nicht mehr reinkam. Genau das war vor drei Jahren durch den Umzug in die Station behoben worden, hielt aber gerade mal zwei Jahre.

Doch schon nach der Begrüßung saß ich auf dem Affenfelsen innerhalb kürzester Zeit in einem kleinen Rudel von Internetbekanntschaften; dort wurde ich von weiteren solchen erkannt und angesprochen, griff mir Passantinnen, die wiederum ich erkannte.

Vor der ersten Session Frühstück im re:staurant: Mozzarellasalat (reife Avocado, Papayastückchen, Mangodressing mit einem Hauch Ingwer – köstlich).

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Das erste Panel sah ich mir auf dem Boden sitzend an (und auf einer wattierten Anorakhälfte sitzend, die mir eine neue Bekanntschaft netterweise anbot; später stellten wir fest, dass wir natürlich eine Menge gemeinsamer Internetbekannter hatten): “Stone age minds in a digital world – Evolutionspsychologische Perspektive auf die digitale Welt“. Dass ausgerechnet Psychologen Verhalten in “logisch” und “nicht logisch” unterteilen, wunderte mich schon sehr (der Vortrag begann mit der Feststellung, Nutzung von und Verhalten vor Computern sei nicht logisch). Bereits an diesem Punkt wäre ich gerne eingeschritten und hätte Prämissen erfragt und hinterfragt. Als dann Astrid Carolus auch noch die Gaming-Szene mit “also die Jungs” definierte, hatte ich Mühe, sie richtig ernst zu nehmen. Doch ich lernte, dass Evolutionspsychologie sich auf Fortpflanzungserfolg von Verhalten konzentriert (dass also das Überleben des Individuums und sein individuelles Zurechtfinden in der Welt sie nicht wirklich interessiert). Möglicherweise saß ich hier genau den Menschen gegenüber, die für die Zeitungsartikel über “Frauen müssen sich von Natur aus für Schuhe interessieren, sonst hätten sie in der Steinzeit keinen Partner bekommen” verantwortlich sind.

Die nächste Wunschveranstaltung verpasste ich, weil ich zu doof war, den Tagesplan zu lesen (ZACK! hätte mich in der Steinzeit der Säbelzahntiger gehabt und Schluss wäre es gewesen mit der Fortpflanzung). Nachdem mir aber am Helpdesk ein Helfer erklärt hatte, dass die Buchstaben unter den Veranstaltungen keineswegs die Veranstaltungsorte bezeichneten, schaffte ich es ins Panel “Sind bloggende Väter eine Nischenerscheinung?”. Das wollte ich vor allem wegen der Teilnehmerin dasnuf sehen, und sie sah ich auch.

Mein Highlight des Tages war der Vortrag “Geschichte twittern: Wie, was, wann?”. Ein Historiker und eine Historikerin hinter @9Nov38 erzählten, welche Gedanken und welche Arbeit hinter ihrem Projekt standen, die Ereignisse der Reichsprogromnacht in Echtzeit zu twittern. Ich lernte das Forschungsgebiet public history und Geschichtsvermittlung kennen und war sehr beeindruckt von der Gründlichkeit und Umsicht, mit denen die Historikergruppe vorging.
Nachtrag: Hier der Vortrag zum Anschauen.

Spaßig war es bei Johnny Häuslers “Sie werden nicht glauben, was Sie hier sehen!”. (Johnny von Spreeblick klingt wie ein ernst zu nehmender Adelstitel.)

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In erster Linie machte er mit dem Publikum live Online-Umfragen, die in keinem Fall überraschende Ergebnisse erbrachte (über die Antwortverteilung auf die Frage zum Pinkeln unter der Dusche will ich jetzt einfach nicht nachdenken).

Sascha Lobo hielt in der riesigen und dennoch berstenden Halle 1 (hier traf ich gleich nochmal einen ganzen Schwung meiner kleinen Internetfreundinnen und -freunde) seine Rede zur Lage der Nation.

Aktivieren Sie JavaScript um das Video zu sehen.
http://youtu.be/3hbEWOTI5MI

Darin enthalten viel leidenschaftliche Empörung über die Totalüberwachung mittels Internet, die Snowdens Enthüllungen offengelegt haben, nachvollziehbare Wut auf die Trägheit seiner Interessensgenossinen und -genossen (also auf uns), viel brauchbare Argumentationshilfe – aber möglicherweise ein kontraproduktiver Ansatz, die Missstände zu ändern. Patricia Cammarata erklärt diese Kritik genauer, und ich stimme ihr in ihrer Argumentation zu.

Nach weiterem Geplausch auf dem Hof der Station (und Lesen von Nachrichten, denen ich entnahm, mit wem ich gerade nicht plauschte) völliger Szenenwechsel: Ich war mit einer nicht-re:publica-Bloggerin zum Nachtmahl im wunderschönen Paulysaal verabredet.

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Glasierte dicke Rippe vom Pommerschen Ochsen – löffelweiches Fleisch. Außerdem lernte ich bei dieser Gelegenheit Bröselbohnen kennen: Die grünen Bohnen waren in gerösteten Semmelbröseln gewendet, sehr schöne Idee. Das Grüne links unten sind Grie-Soss-Kräuter, die sich ganz hervorragend zum durchwachsenen Fleisch machten.

Das Tischgespräch war mindestens so reichhaltig wie die Speisen; meine Tischdame schenkte mir sogar eine konkrete Idee für die Zukunft.

Berlin im Frühling 2014 – 3, Halle (Saale)

Dienstag, 6. Mai 2014

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Die am längsten vorher getroffene Verabredung war die mit Frau Indica für gestern: Die Archäologin, die uns vergangenes Jahr ihre Ausgrabung am Jüdenhof in Berlin gezeigt hatte, Anja Grothe, ist nun für zwei Jahre am Museum für Vorgeschichte in Halle (Saale) angestellt, um dort eine Ausstellung zu kuratieren. Und hatte angeboten, uns am geschlossenen Montag durch dieses Museum zu führen. Nu, es ist ausgesprochen unwahrscheinlich, dass sich für mich in diesem Leben nochmal ein Anlass für eine Reise nach Halle bieten wird. Und auch wenn ich mit Vorgeschichte nur mittelinteressante Pfeilspitzen und Höhlenmalerei verbinde: Die Führung einer Archäologin durch ein Museum würde ich mir niemals entgehen lassen. Schon gleich gar nicht, wenn sie Anja Grothe ist.

Das Museum für Vorgeschichte ist offensichtlich die zentrale Attraktion Halles: Der Weg dorthin ist ab Autobahn genau ausgeschildert.

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Und selbstverständlich enthält es eine Menge Pfeilspitzen:

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Einige hundert davon sind im Atrium an Pfeilen befestigt, die wie im Flug hängen – eine atemberaubende Idee der Präsentation. Und das in einem Eingangsraum zur Sonderausstellung “3300 BC – Mysteriöse Steinzeittote und ihre Welt”, der ohnehin schon mal gehörig beeindruckt.

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Die nächsten Stunden waren ungeheuer spannend: Nicht nur die Ausstellung und ihre Exponate, sondern auch ihre Präsentation. Anja wies uns immer wieder darauf hin, wie viel Raum hier nicht nur das Ergebnis der Grabungen einnimmt und welche Aufschlüsse sie über die Geschichte geben. Heute ist auch der Prozess der Grabungen und Untersuchungen Teil der Präsentation. Im Fall des Museums für Vorgeschichte kommt laut Anja dazu, dass es auf Blockbergungen spezialisiert ist: Der Fund wird nicht vor Ort völlig ausgegraben und dann abtransportiert; statt dessen nehmen die Ausgräber den gesamten Fundort mit. In Halle sind die Restauratoren daraufhin ausgestattet, dass sie auch richtig große solche Blockbergungen analysieren und konservieren können.

Ein Ergebnis hatten wir bereits in der Eingangshalle gesehen: Die Pferdegräber an der Wand. Einem anderen so geborgenen Fund war ein zentraler Abschnitt der Ausstellung gewidmet: Der Neunfachbestattung von Salzmünde.

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Mein Banausinnenblick wurde sofort von einem Detail in der linken unteren Ecke des Exponats gefangen: Ein Hamster!

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Mein Banausentum drückte mich allerdings weniger als ich sah, dass diesem Hamster eine eigene Erklärungstafel gewidmet war. (Und gar nicht mehr, als ich im Büro der Archäologin die Spaßkarte “Hamster des Grauens” entdeckte.)

Glauben Sie mir: Wenn Sie in der Nähe sind, sollte Sie sich Museum und Ausstellung ansehen – auch wenn für Sie Vorgeschichte nur Pfeilspitzen und Höhlenmalerei sind, hüstel.

Die Ausstellung, die Anja kuratiert, wird sich um die Schlacht von Lützen 1632 drehen (die Epoche, auf die Anja eigentlich spezialisiert ist). Und so konnte ich eine Frage, die mich seit vielen Jahren umtreibt, endlich einer Expertin stellten: Woher wussten die Schlachtbeteiligten in dieser und der davorliegenden Zeit, wer gewonnen hatte? Anjas Antwort: “Wer zuerst kneift und vom Schlachtfeld wegrennt, hat verloren.” Aber das habe doch sicher ganz schön lang gedauert, bis sich dieses Wegrennen rumgesprochen hatte, wandte ich skeptisch ein. Worauf Anja mich warnte, die damaligen Kommunikationsmittel zu unterschätzen: Hornsignale, Trommeln, Boten und alle möglichen Läufer hätten in Schlachten für eine erstaunlich schnelle Verbreitung von Informationen gesorgt.

In Halle selbst sahen wir uns auch ein wenig um. Zu Mittag aßen wir Kürbissuppe mit Huhn im Waschhaus, was auch ein solches ist.

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Und in der Nachmittagssonne spazierten wir durch die Innenstadt und ihrem charmanten Mix von Renaissance und Platte (ohne Abbildung).

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Auf den herausragenden Stützen im untersten Bild standen übrigens früher die Aborte.

Abends erstes größeres Bloggerinnentreffen über Tapas. Ich weiß nicht mehr, welcher Impuls mich zur Bestellung von Croquetas trieb: Eigentlich mag ich diese frittierten Bechamelklumpen nicht. Diese hier waren aus Fisch und ausgesprochen trocken. Vielleicht musste ich mich einfach versichern, dass ich Croquetas nicht besonders mag.

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Berlin im Frühling 2014 – 2

Montag, 5. Mai 2014

Urlaub setzte gleich beim sonntäglichen Aufwachen ein: Auf den Einsatz des Schwimmzeugs, dass bereits gepackt war, im Prinzenbad hatte ich überhaupt keine Lust, und das bevor ich auch nur den bewölkten Himmel mit kühlem Wind bemerkt hatte. Ich verbrachte den Vormittag gemütlich über Milchkaffee am Rechner und schrieb, wie Sie gemerkt haben. (Geständnis: Ich habe diesmal meine kleine Cafetera und Espressopulver dabei, um nicht gleich für den Morgenkaffee das Haus verlassen zu müssen.) Bis mich meine Verabredung um eins abholte, war auch noch Zeit für gemütliches Lesen. Da ich zum Flanieren verabredet war, trotzte ich der Kälte – wenigstens ein schwingender Rock sollte es für den Kudamm sein.

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Zunächst aber flanierten wir über den alten Kreuzberger Friedhof.

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Ein Grabsteinfriedhof – war mir neu.

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(Die Pointe des unteren Bilds wäre natürlich im Eimer gewesen, hätte ich die Emailschildchen darüber mitfotografiert: Schade lautet der Name der hier Bestatteten.)

Die Flanage auf dem Kurfürstendamm war im bitteren Wind nicht allzu ausführlich. Wir ließen uns im wunderschönen Café Grosz nieder, ich aß zum zweiten Frühstück ein Stück köstliche Herrentorte und probierte die hausgemachte Limonade (sehr erfrischend, wenig süß). Am gestrigen Sonntag war auch das neue Kaufhaus Bikinihaus geöffnet, ein weiterer angenehmer Schutz vor Kälte.

Für das Abendessen hatte meine Begleitung eine wunderbare Idee: Das Florian beim Savignyplatz, eine Legende, zu der sie mir viele Geschichten erzählen konnte. Wir aßen sehr gut (ich hatte eine Artischocke mit zweierlei Dips als Vorspeise – Gescherze mit der Bedienung über die Handhabung des Gerichts, knusprige Ente mit Kloß als Hauptgang, spät noch Mascarponecreme mit Erdbeerrhabarber als Dessert), genossen Umgebung und ungemein freundliche Atmosphäre. Ich durfte Zeugin werden, wie meine Begleiterin eine servierende Dame (die Wirtin, wie ich mir später erklären ließ) mit “Sie kenne ich doch auch aus der Domina-Bar!” ansprach. Die Dame bestätigte lachend, es folgten weitere Berlin-Geschichten aus den 80ern, in denen meine Begleitung zumindest auf dem Papier als Kaltmamsell arbeitete.

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Nachtrag 6. Mai 2014: Gaga Nielsen hat unseren Ausflug mit mehr Details und Bildern beschrieben.

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Sonntag, 4. Mai 2014

Der Schreibimpuls, der dieses Blog seit fast elf Jahren füllt, macht sich immer noch rar. Doch ich möchte meinem zukünftigen Selbst etwas Gutes tun: Noch freue ich mich zuverlässig daran, meine eigenen Berichte nachzuschlagen und meine Erinnerung an Erlebnisse durch sie aufzufrischen.

Es war nicht einfach gewesen, am Tag vor dem Abflug nach Berlin online einzuschecken: Die Website von Air Berlin fand erst nicht mal meinen Flug (ich hatte ein O in der Buchungsnummer als 0 gelesen, Klassiker), dann hing bis zum Nachmittag die Sitzauswahl. Dass meine letztendliche Wahl eines Fensterplatzes doch nicht geklappt hatte, stellte ich allerdings erst fest, als ich das Flugzeug betrat.

Am Reisetag schreckten mich morgens die Nachrichten mit “Schnee in Berlin” – ich hatte überwiegend Frühlingskleidung eingepackt. Doch die Berliner Twitteria beruhigte mich mit Berichten von blauem Himmel mit Sonne, das mit den Temperaturen würde man bis zur re:publica schon noch hinkriegen.

So war es dann auch bei meiner Ankunft in Tegel: Sonniges Berlin in kaltem Wind. Die Airbnb-Unterkunft in Kreuzberg fand ich problemlos und schnell, amüsierte mich aber wieder über meine Orientierungsverwirrung nach U-Bahn-Fahrt: Eigentlich kenne ich die Gegend aus den vergangenen Jahren recht gut, doch ohne die Kalibrierung einer oberirdischen Fahrt funktioniert mein innerer Kompass nicht. Ich musste mehrfach lange auf den Stadtplan schauen, um ihn einzunorden. (Oder hätte ich, wie beim iphone, einfach eine Weile in kleinen Achten laufen sollen?)

Eine nette kleine Wohnung im 4. Stock eines Kreuzberger Hinterhofs. Mit etwas Anstrengung kann ich mir einbilden, dass so meine Altersgenossinnen unterkamen, die Ende der 80er der Provinzenge nach Berlin entflohen (und die in meiner inneren Geschichtsschreibung ALLE in Kreuzberg wohnten). Vielleicht minus Zentralheizung.

Eine Stunde Aufruhr ergab sich allerdings, nachdem sich meine Vermieterin verabschiedet hatte und ich auspacken wollte: Der Koffer ließ sich nicht öffnen. Das Samsonite-Stück, das ich vor vier Jahren erwarb, ist mit einem Zahlenschloss versperrt, dessen drei Ziffern ich zweifelsfrei kenne. Sonst teste ich eigentlich nach dem Griff vom Gepäckband des Flughafens immer anhand dieses Schlosses, ob ich auch wirklich meinen Koffer erwischt habe, doch seit dem Israel-Urlaub trägt der Koffer ein paar unverwechselbare Aufkleberreste. Und nun ging er nicht auf. Der Zweiwegereißverschluss ließ sich gerade den halben Zentimeter öffnen, der mir einen Blick auf einen meiner Röcke ermöglichte. Es war also wirklich, wirklich mein Koffer. Der nicht aufging.

Per Telefon ließ ich mir vom Mitbewohner die Servicenummer von der Samsonite-Website durchgeben (Anruf ergab: Ist für Händler gedacht, nicht für Kunden), dann einige Händler in Kreuzberg. Mir war nämlich eingefallen, dass die Verkäuferin mir seinerzeit versichert hatte: Wenn irgendwas mit dem Koffer sei, würde mir jeder Samsonite-Händler auf der Welt weiterhelfen. Die dritte Telefonnummer gab es tatsächlich, und ja, der Herr am Telefon würde den Koffer öffnen können. Nur dass sein Laden in 25 Minuten schließen würde. Ich wuchtete den Koffer also aus dem vierten Stock wieder hinunter und schaffte ihn per Schweinsgalopp, U-Bahn (was war ich um meine Tageskarte froh), Schweinsgalopp zum Kofferladen beim Kleistpark. Die zwei Minuten bis Ladenschluss genügten für die Feststellung, dass die Nummer des Schlosses um eine Stelle in der Mitte verändert worden war. Koffer offen, Nummer korrigiert, allgemeine Verwunderung, wie das wohl passiert war – zum Verstellen der Nummer ist Werkzeug nötig.

Nach Rückweg und Hochwuchten des Koffers zurück in den 4. Stock war ich ordentlich durchgeschwitzt. Auspacken, Rechner online bringen, einkaufen, brotzeiten, den Weg zur Abendverabredung recherchieren, Verabredungen für die nächsten Tage konkretisieren – dann war ich endlich an einem Punkt, an dem mir ein wenig Entspannung möglich war.

Am Abend ließ ich mich von der Tram zu einem Lokal fahren, das meine Verabredung als Ort ausgezeichneter Dumplings angekündigt hatte. Und so traf ich einen ehemaligen Arbeitskollegen, von dem ich viel über Typographie gelernt habe, über tatsächlich ungewöhnlich guten gedämpften Teigtaschen im Lecker Song. Ich genoss die feine Würzung der farbigen Täschchen (Farbe von Kakao, Spinatsaft, roter Bete) – laut Köchin nach Familienrezepten – und dass mein Tischherr, der demselben Provinznest entflohen ist wie ich, seinen Weg auf beeindruckende Weise weitergeht.

Beifang aus dem Internet

Sonntag, 4. Mai 2014

(Sammlung der vergangenen zwei Wochen.)

Die Kommentare in den Online-Ausgaben von Publikationen können einen innerhalb kürzester Zeit an der Menschheit zweifeln lassen. Kein Wunder, dass Journalistinnen, die auf diesem Weg erste Bekanntschaft mit dem Mitmach-Web machten, das Internet tendenziell für die Ausgeburt der Hölle hielten. Wer sich in diesem Web schon lange bewegt, hat wiederum meist gelernt, Kommentare in den Online-Ausgaben von Publikationen nie zu lesen, nienienie.

Zeit online hat nun weder das eine noch das andere gemacht. Die Redaktion ließ es in einem ganz speziellen Fall nicht auf sich beruhen, dass sie in Kommentaren beschimpft wird. Sie wollte wissen, wer diese Menschen sind und welche Perspektive sie haben:
“Ein Besuch bei den Verteidigern des Krawallautors Akif Pirinçci.”

Manche Ergebnisse sind erwartbar (haben das Buch, das sie leidenschaftlich verteidigen, nicht gelesen), andere nicht.

Die Reise zu Pirinçcis Anhängern ist eine Reise zu Menschen, die sein Buch kaum kennen – noch nicht oder gar nicht. Die Reise führt 1738 Autokilometer durch Deutschland, von Hamburg nach Berlin, von Berlin nach Hessen, von Hessen in die Eifel, von der Eifel ins Rheinland. Sie führt zu gebildeten Menschen, die sich auszudrücken wissen, viel gewählter als Pirinçci.

Die Geschichte kommt angenehmerweise zu keinem Endergebnis, reflektiert aber:

Sind wir, die Journalisten der großen Zeitungen, unehrlich? Man muss über uns keine Studien anfertigen, um zu erkennen, dass wir stärker zum rot-grünen Milieu tendieren als die meisten Wähler. Natürlich stammt kaum jemand von uns aus einer Hartz-IV-Familie. Natürlich leben wir viel zu oft in denselben bürgerlichen Stadtteilen derselben Großstädte, in Berlin-Prenzlauer Berg oder in Hamburg-Eppendorf. Altbau, hohe Decken, Fischgrätparkett. Natürlich leidet unser Blick auf die Welt unter dem Eppendorf-Syndrom. Aber nur, weil wir selbst in einer Homogenitätsfalle der urbanen Mittelschicht stecken, wird nicht der Umkehrschluss zulässig, Pirinçci leiste aufrichtige Basisarbeit.

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Das biologische Geschlecht definiert nicht immer die Persönlichkeit, manchmal sogar überhaupt nicht. Fotografin Kathrin Stahl schildert auf ihre Weise einen Fall von überhaupt nicht:
“Sören ist Sophie oder mein Sohn ist meine Tochter ist mein Kind. Ein Fotoprojekt.”

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Zu den vielen Dingen, die ich aus der Bloggeria gelernt habe, gehört die Vorsicht vor Projektionen auf anderer Leute Lebenswirklichkeit. Wie sich jemand in seiner ganz speziellen Situation, in seinem Leben fühlt, kann sehr von meinen Vorstellungen abweichen. Erst mal nachfragen, erst mal zuhören. (Weswegen ich übrigens den Erziehungssatz “Was du nicht willst, dass man dir tu, das füg auch keinem andern zu” inzwischen skeptisch sehe.) Vielleicht liest Matthias Schweighöfer einfach keine Blogs. Deswegen muss ihm Christiane Link das explizit erklären:
“Matthias Schweighöfers Meniskus und meine Lebensqualität”

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Nachfragen, zuhören:
“What is life like for an unattractive woman?”

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Sehr gerührt war ich über Modestes Schilderung, wie sie mit ihrem kleinen Sohn Musik hört: “Wenn die Geigen klingen”

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Als sonntäglicher Rausschmeißer noch was zum Angucken (wenn jemand eine klare Handschrift hat, ist er halt auch leicht zu parodieren):
“Opening credits to the movie Forrest Gump if Wes Anderson had directed it.”