Die kranke Krähe
Montag, 28. Juli 2014 um 6:31Aufmerksam wurde ich auf sie vor gut drei Wochen: In einer der beiden riesigen Kastanien vor unserem Balkon sah ich aus dem Augenwinkel eine Krähe von Ast zu Ast hochhüpfen, ohne richtig zu fliegen, schwankend auf den dünnen Ästlein, die sie kaum trugen. Bei genauerem Blick stellte sie sich als eine reichlich zerrupfte Krähe heraus: Von ihren Schwanzfedern waren nur zwei seltsam verdrehte übrig, ihr Gefieder sah fleckig und löchrig aus. Ich nahm an, dass sie aus einem Krähenkampf als Verliererin hervorgegangen war, oder einen Autounfall gehabt hatte, vielleicht sogar mit einem der hier ansässigen Sperber aneinandergeraten war. Fast flugunfähig und ohne Schwarm gab ich ihr kaum Überlebenschancen, schließlich laufen hier Katzen und Ratten herum. Die zerrupfte Krähe rührte mich, doch ich hielt mir vor Augen, dass der Kreislauf da draußen nun mal so funktioniert.
Doch seither sehe ich sie immer wieder, mal auf der Wiese vorm Haus, immer wieder in der Kastanie auf einem ganz bestimmten Ast sitzend, mit dem Rückteil zu unserem Balkon. Immer schweigt sie, immer ist sie allein. Am Wochenende habe ich begonnen, ihr Erdnüsse in Schale auf die Mauer zu legen, die das Grundstück mit der Kastanie umgibt. Vielleicht erkennt sie mich von meinen Balkonaufenthalten wieder. Beim ersten Mal sah ich beim Hinlegen immer wieder zu ihr hin, und sobald ich weg war, kam sie angehüpft und holt sich die ersten. Die zweite Hand voll Erdnüsse am nächsten Tag bewegte sie nicht.
Gestern Nachmittag hörte ich die Rufe einer Krähengruppe und beobachtete, wie drei auf der Wiese unter der Kastanie herumhüpften. Die zerrupfte Krähe versuchte, zu ihnen zu fliegen, doch dazu hat sie zu wenige Federn. Sie landete unsanft auf der Wiese. Als die drei davonflogen, sah sie ihnen nach.
die Kaltmamsell11 Kommentare zu „Die kranke Krähe“
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28. Juli 2014 um 10:13
Rufen Sie doch bitte bei der Tierrettung an. Die kümmern sich und bringen sie zu einer Pflegestation.
28. Juli 2014 um 11:05
Was Patricia sagt. Denn wir sind nun mal mit drinnen im Draußen, samt Telefon und Tierrettung. Das würde die Krähe selbst nutzen, wenn sie es hätte, glaube ich. Ois is a Kreis is ois.
28. Juli 2014 um 13:39
Ja, auch ich stimme für die Tierrettung.
Habe ich in diesem Frühjahr auch gerufen (erst unsicher bei der Polizei angefragt, diese riet zur Feuerwehr und die Kollegen der Tierrettung brachten sie zur Vogeschutz-Warte), als ein Krähen-Rabe in einer idyllischen Einkaufs-Passage mit aufgehackter Brust hilflos auf dem Rücken in einem Rabatten-Meer von Krokussen lag.
Die Menschen flanierten vorbei, sahen erschrocken hin, Hunde schnüffelten an ihr, Kinder rannten darauf zu, doch als ich aktiv wurde und einen beruhigenden “Bann-Kreis” zog (sie war sehr verängstigt und drehte hilflos ihren Kopf mit den intensiven Äuglein) gabe es durchweg positive Resonanz.
Vielleicht hätte ich sie in einem Elb-Gebüsch am Radweg dem natürlichen Kreislauf überlassen, doch nun lebt sie wohlauf in der Vogelschutz-Station und ich hatte bis vor Kurzem ein Gast-Paar im Baum vor dem Fenster und zum Füttern in friedlicher Ko-Existenz mit anderen 14 Vogelarten meiner Umgebung.
Es wäre zwar eine freie Einzel-Haltung möglich, doch vielleicht findet sie durch den Vogel-Schutz wieder zu ihren (anderverletzten) Art-Verwandten…
28. Juli 2014 um 21:59
Der letzte Abschnitt hätte mich fast zum Weinen gebracht. Danke.
28. Juli 2014 um 22:05
Ja, das ist der Kreislauf. Na und? Seid wann lassen wir Menschen uns alles von der Natur diktieren. Warum sollte man nicht helfen? Vor allem, wenn es nur ein Anruf ist und es eine Tierrettung gibt, die sich dann kümmert.
Neulich habe ich beim Tierarzt eine Frau getroffen, mit 2 jungen Krähen, die sie am Rand der Autobahn neben einem bereits toten Geschwisterchen eingesammelt hatte.
Als ich über das Risiko für ihr eigenes Leben sprach, meinte sie nur, sie hätte aber doch gar keine Wahl gehabt, sie hätte die da doch nicht sitzen lassen können. Fand ich sehr bewundernswert. (Und ich weiß nicht, ob ich nicht zu viel Schiss gehabt hätte.)
30. Juli 2014 um 15:53
Als hier die vom Biodiversity installierte Eagle Cam, die rund um die Uhr ein Adlernest streamt, zeigte, wie eins der Nestlinge allmählich verhungerte, gab es einen öffentlichen Aufschrei der Empörung, dass es nicht in eine Vogelschutzstation gebracht und gerettet wurde.
Ich bin da auch etwas zwiespältig, auf der einen Seite es der natürliche Ablauf, wenn ein geschwächtes Tier stirbt, auf der anderen Seite beeinflussen wir mit unserer Zivilisation ständig die Natur in negativer Weise, da können wir auch mal vereinzelt etwas Positives zur Rettung eines Lebewesens tun.
31. Juli 2014 um 13:50
Hmmm… wer ruft eigentlich die Rettung im Gazastreifen, der Ukraine oder in den Kinder-Steinbrüchen Indiens? Und Tibet ist immer noch nicht befreit – habt Ihr noch alle Eure “Free Tibet”-Flaggen von 2008 am Fenster hängen?
Gebt den Menschen ein kleines, krankes Tierchen und sie sind zu Tränen gerührt. Sterben hunderte Menschen täglich, in Farbe, im TV ist’s wurscht. Gibt ja genügend.
Ja, ich bin Misanthrop, was sonst?
31. Juli 2014 um 14:09
@newnumber2
Woher weißt Du, dass in Gaza, Ukraine keiner nach Rettung (die handfeste wie auch politische) ruft bzw. keine kommt und das hier allen wurscht ist? Ich sehe, lese, erlebe das anders. Und verstehe auch den Zusammenhang mit dieser Geschichte hier nicht.
31. Juli 2014 um 14:23
Könnten Sie Ihr Argument genauer formulieren, New Number 2? Im Moment sieht es in meinen Augen aus wie: Solange es größere Probleme gibt, müssen alle Probleme ignoriert werden, die kleiner sind als das größte. Aber da missverstehe ich Sie sehr wahrscheinlich.
31. Juli 2014 um 14:57
Danke, verehrte Kaltmamsell, dass Sie mir noch einmal die Möglichkeit geben meine Ansichten hier klar zu präsentieren. Wie Sie schon schrieben, ist das halt der Lauf der Dinge (Kreislauf des Lebens). So erleben wir es auf dem Lande täglich.
Ich habe natürlich nichts gegen eine Tierrettung, wenn mein Hund angefahren, meine Katze sich vergiftet, oder mein Fisch eine Krankheit hat. Aber ein Tier aus der Natur zur Rettung zu schleppen, weil es ein paar Federn eingebüßt hat und es keinen Anschluß mehr an seine Artgenossen findet und viele in ihren Kommentaren dann noch den Tränen nah sind, kann ich nicht nachvollziehen. Deshalb der Vergleich mit den angeführten menschlichen Problemen und dem Kurzzeitgedächtnis der Menschen. Auch meine Schlußfolgerungen sind nicht der Weisheit letzter Schluß, aber man sollte schon die Verhältnisse wahren. Aber auch mein Kommentar wird in ein paar Wochen vergessen sein und dann ist es wieder gut…
Es grüßt Sie Ihre New Number 2
31. Juli 2014 um 17:58
Oh ha, Haustieren darf man helfen, aber Krähen nicht? Selbst wenn die (vermutet) angefahren wurde, was ja mit “natürlicher Kreislauf” nix zu tun hat? Das finde ich jetzt eine seltsame Teilung. So hat jeder seine eigenen seltsamen Regeln. Respektiere ich, New Number 2, aber teile ich nicht.
(Wobei ich davon ausgehe, dass die Krähe ein echtes Problem hat und ihr nicht nur ein paar Federn fehlen.)