13.12.2013 – Der Schraubendreher für den Kunstzahn
Samstag, 12. Juli 2014Zur Technik, die mich immer wieder begeistert, gehört Medizintechnik. Im Techniktagebuch habe ich über mein Zahnimplantat geschrieben.
Zur Technik, die mich immer wieder begeistert, gehört Medizintechnik. Im Techniktagebuch habe ich über mein Zahnimplantat geschrieben.
Ein Gespräch mit einer früheren Arbeitskollegin über dem einen oder anderen Bier legte eine lange verschüttete Erinnerung frei: Frauen meiner Generation bekamen als Kinder und Jugendliche noch eine Aussteuer geschenkt. Wir kamen drauf, weil die Dame (ein paar Jahre jünger als ich) sich zum Geburtstag Rotweingläser wünschte. Die Gläser ihrer Aussteuer seien zwar schön und sehr kostbar, aber halt eindeutig im Stil der 1970er, als man sich noch nicht um die genussfördernde Funktionalität von Weingläsern scherte.
Ich war verblüfft und fragte nach: Ja, sie hatte tatsächlich als kleines Mädchen und Jugendliche zu jedem Anlass von der Verwandtschaft und von Paten Bestandteile ihrer Aussteuer geschenkt bekommen, mit der sie dereinst in den Ehe gehen würde. Also Hausstand in Form von Handtüchern, Bettwäsche, Porzellan, Silberbesteck, Tischwäsche, edlem Kristall. Nach und nach fallen mir Details dieses Brauchs ein, zum Beispiel, dass die Textilien im allerklassischsten Fall mit Monogramm bestickt wurde. Dafür war ja das Verlobungsjahr da: Wenn durch die Verlobung der Ehename feststand, nämlich der Nachname des Bräutigams, machte sich die Braut an das Besticken ihrer Aussteuer. Geldige Leute beauftragten damit Profis. Wahrscheinlich wurzelt darin auch der bis heute gültige Schadensersatzanspruch aus der Lösung einer Verlobung.
Und ich erinnerte mich, dass eigentlich auch ich in die Aussteuermühle geraten wäre. Wäre meine Mutter nicht auch hier die Revoluzzerin in ihrem Freundinnen- und Familienkreis gewesen: Sie stellte sich dagegen – was sie sehr deutlich und immer wieder musste, da die schrittweise Komplettierung der Aussteuer in den 1970ern anscheinend tatsächlich noch der Standard war. Hier argumentierte meine Mutter allerdings nicht wie sonst sehr oft feministisch (warum sollte nur eine Hälfte eines Paars für die Ausstattung des gemeinsamen Haushalts zuständig sein?). Als Liebhaberin schöner Dinge wiegelte sie solche Ansinnen mit dem Hinweis ab, mir würden doch sehr wahrscheinlich als erwachsener Frau andere Designs gefallen denn jetzt als Teenager, außerdem solle mein Verlobter Mitspracherecht bei der Auswahl haben (also doch ein bisschen feministisch).
Da zu konventionellen Hochzeiten junger Menschen seit Jahrzehnten der Hochzeitstisch im lokalen Geschirrladen gehört (gravy boat!), hatte ich die Sache mit der Aussteuer völlig vergessen. Ist das vielleicht in ländlichen Gegenden sogar heute noch Brauch? Wird dort am End noch vor der Hochzeit über weitere materielle Mitgift verhandelt? Nachdem sich in den vergangenen Jahren wieder begeistert höchst offiziell “verlobt” wird und ich mich immer fragte, welche Funktion das heute wohl hat: Vielleicht beugen sich ja Abend für Abend Verlobte monogrammisierend über ihren DIY-Stickrahmen und ich habe lediglich mal wieder einen ganzen tumblr-Themenbereich übersehen!
Jetzt wundert mich allerdings, dass sich die CSU Aussteuer bislang als Argument gegen die Eheschließung gleichgeschlechtlicher Paare entgehen hat lassen: Weil dann doch aber in der Ehe zweier Frauen zwei Aussteuern kollidieren würden, in der Ehe zweier Männer der gemeinsame Haushalt öd und leer wäre und die Herren in unbezogenen Betten schlafen müssten.
Eigentlich eine schöne Idee, die Bitte im Kommentar von Sanne: Ich zeige Ihnen alle meine Brillen, im Gesicht und einzeln – zur Beurteilung der Bügelkrümmung.
Das ist die Brille, die ich in den vergangenen sieben Jahren fast ausschließlich getragen habe (superbequem, als würde ich gar keine Brille tragen):
Diese hier sollte sie ersetzen, doch auch nach zahlreichen Ausbiegungen der Bügel drücken sie nach einem halben Tag.
Dann habe ich da noch die alte Brille meines Vaters (Menrad!), in die ich mir Gläser für meine Sehrstärke einbauen ließ – bei denen drücken mich die Bügelenden bis zum Kopfschmerz bereits nach einer bis zwei Stunden:
Hier dann noch ein Billigmodell, das ich mir vor über 20 Jahren bei einem Billiganbieter kaufte – mit schmerzfreien Bügeln.
Die Brille, die ich fast ausschließlich trage, hat sieben Jahre auf den Bügeln. Vor zweieinhalb Jahren kaufte ich mir zwar schon mal in Schwabing Ersatz, doch dieses wunderschöne (und scheißteure) Exemplar drückt mich auch nach gezählten zehn Korrekturen durch den Optiker (oder die Optikerin, je nach dem, wen ich gerade antraf) immer noch hinterm Ohr und verursacht Kopfschmerzen – obwohl die Bügel mittlerweile so locker gebogen sind, dass die Brille ständig rutscht. Die alte Brille wiederum ist so runtergeschraddelt (Metallteile haben teilweise die Beschichtung verloren, Gläser sind zerkratzt), dass ich wirklich eine neue brauchte.
Ich ging zum friendly neighbourhood-Brillengeschäft ums Eck und ließ mir zeigen, was gerade der neueste heiße Scheiß ist. Da mir praktisch alle Brillen in irgendeiner Weise stehen (ist ja kein Verdienst), probierte ich vor allem diejenigen, die ganz weit weg von allem waren, was ich bislang auf der Nase hatte.
Bei den Gläsern sagte ich wie immer, dass sich seit der überraschenden Erkrankung an Kurzsichtigkeit vor 28 Jahren nichts geändert habe. Die Optikerin begann mir zu erklären, was sich schon sehr bald unweigerlich durchs Altern verändern würde, da dachte ich mir: Ach, warum eigentlich nicht mal einen Sehtest. Während diesem erklärte mir der Optiker, wie Auge und Hirn zusammenarbeiten, wie das Gehirn kontinuierlich Fehlsichtigkeit ausgleicht, bis es bei zu groß gewordener Anstrengung einfach damit aufhört. Das erkläre, so sagte er, warum so viele Menschen Altersweitsicht als schlagartig einsetzend empfänden – dabei sei sie langsam gekommen und lediglich lange ausgeglichen worden.
Eine Gleitsichtbrille stehe bei mir weiterhin nicht an, meinte der Optiker nach dem Sehtest (lediglich die Hornhautverkrümmung hatte sich geändert). Um ihre Notwendigkeit möglichst lange hinauszuzögern, empfahl er mir allerdings Wellnessgläser. Doch, genau so nannte er sie: “Wellnessgläser”. Als er erklärte, diese Gläser seien im unteren Bereich ein wenig stärker, um zum Beispiel das Lesen auf dem Smartphone zu erleichtern, schlug ich “Digitalgläser” als alternativen Namen vor (Onlinegläser? Untengläser?). Doch auch diese Brancheninfo schreibt von “Wohlfühlfaktor”. Wenn ich das richtig verstanden habe, haben meine Gläser also anders als Gleitsichtgläser nichts mit Altersweitsicht zu tun, sondern verbessern lediglich gezielt das Sehen im unteren Nahbereich – ansonsten hat die Brille meine bisherige Kurzsichtstärke (optimiert für die jetzige Hornhautkrümmung).
Und so sieht das aus:
Drei Stunden nach Abholung war ich auch schon wieder zurück im Brillenladen: Die Bügel drückten mich hinterm Ohr. Es wird sich doch nicht die Geschichte der vorherigen neuen Brille wiederholen!
Ein völlig undifferenziertes “Wow!” war meine Reaktion auf den Umstand, dass der Bachmannpreis 2014 an Tex Rubinowitzsch ging. WOW! Thema und Textsorte ein krasser Unterschied zu den Preisträgern der Jahre davor. Ich freue mich sehr für ihn. Einige Stimmen sprachen davon, dass die Gratulation Christian Ankowitschs an Tex zum Bachmannpreis (die beiden haben zusammen das Forum Höfliche Paparazzi gegründet) vor laufenden Kameras dieses Forum einen Schritt näher zur Weltherrschaft gebracht habe. Und auf Twitter hieß es, Tex müsse jetzt zur Vervollkommnung seines Lebenswerks nur noch den European Song Contest gewinnen (für den er mindestens so leidenschaftlich schlachtenbummelt wie für den Bachmannpreis).1
Den Federwelt Preis der Automatischen Literaturkritik (für den die angestrebten 5000 Euro tatsächlich zusammenkamen!) gewann Michael Fehr – der sich erst am Vortag hatte erklären lassen, was das überhaupt war. Hier mit den Initiatorinnen Angela Leinen (links) und Kathrin Passig (rechts). Die restlichen Preisträger und Preisträgerinnen finden Sie hier.
Wolfgang Tischer hat eine Videozusammenfassung für sein Literaturcafé gemacht (ich sitze 20 Meter rechts davon unter einer Kastanie – nicht im Bild), darin auch die Abstimmung über das beste Jurymitglied und ein Interview mit Gewinnerin Daniela Strigl. (Interessante Information: “Wir reden ja nicht über die Texte außer öffentlich.” Das war mir neu.)
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Am Samstag hatte die zentrale Veranstaltung dieser ganze Klagenfurtgeschichte stattgefunden: Das Bachmannschwimmen. Vom Strandbad Maria Loretto aus schwammen Menschen in zwei Kategorien (Forelle und Stein, letztere nur mit Schwimmtier) hinaus zu einer kurzfristig zur Kehre erklärten Boje und wieder zurück. Angela Leinen hat fotografiert, den harten Wettkampf sowie die Sieger festgehalten (erkennen Sie die zahlreichen Literaten und Literatinnen im Wettkampffeld?) In dieser flickr-Gruppe finden Sie auch weitere Impressionen aus Klagenfurt.
Andere wiederum behaupten, die zentrale Veranstaltung Anfang Juli in Klagenfurt sei das brutale Musikquiz am abendlichen Lendhafen.
Das Team mit den meisten mobilen Internetzugängen und den besten Recherchekünsten gewann.
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Von wegen Impressionen:
Bürgermeisterempfang am Schloss Maria Loretto
Und ein bisschen Klagenfurt
Heute muss ich schnell bloggen, um rechtzeitig um 16 Uhr zum Bachmannschwimmen am Wörthersee zu sein. Es hilft, dass heute wegen Ausfalls Karen Köhlers nur drei statt vier Texte gelesen und diskutiert wurden.
Das Mitschreiben war sehr anstrengend: Deutlich mehr Menschen als an den vergangenen beiden Morgen wollten ins ORF-Studio, erheblich mehr Sitze waren offiziell (also mit Aufklebern) reserviert. Ich hatte genug Erfahrung, mich umgehend auf eine Treppenstufe zu setzen, doch kurz vor Beginn der Sendung presste sich eine Frau zum Sitzen zwischen mich und die Stuhlreihe. Das war mir deutlich zu viel Körperkontakt mit einer Fremden, doch weil mir diese Überforderung peinlich war, floh ich und stellte mich an die Wand. Im Stehen ist Mitschreiben anstrengend. Und jetzt hadere ich damit, dass meine Aufzeichnungen entsprechend schwer lesbar sind. So sehen meine Protokolle übrigens aus:
Christian Ankowitsch eröffnete mit einem Zitat aus einen Sonett von Robert Gernhardt und schlug stilvorbildlich die Brücke zwischen den derzeitigen beiden Großereignissen: Fußball und Bachmannpreis.
Katharina Gericke las ihren Text „Down Down Down To the Queen of Chinatown“ vor. Ich mochte die Geschichte von Greta und Herrn Malou, mündlich geschrieben, gleichzeitig homerisch formelhaft, sehr lustig. Erstmals lachte das Publikum richtig. Irritiert war ich ein wenig von der theatralischen Vortragsweise – in diesem Jahr muss man da wohl durch.
Daniela Strigl hatte den Vortrag im Gegensatz zu mir genossen. Sie gestand, dass sie beim Erstlesen befürchtet hatte, „schon wieder eine Geschichte über eine einsame Frau“ vor sich zu haben, die der Text dann gar nicht war. Sie sprach vom Bezaubernden und Bewegenden, von dem „menschenfreundlichen Blick auf Menschen – und Hunde“. Strigl wies auf den Blankvers hin, mit dem durch Berlin gegangen werde. Ähnlich positiv äußerte sich Winkels. Er fragte nach dem Inhalt und seine Erheblichkeit. Da man Liebe nicht sprechen, nicht erzählen könne, sei diese Aufgabe auf die Oper verschoben worden. Um über Liebe zu sprechen, „muss ich permanent Allegorien entwerfen.“ Die Jurykollegen und -kolleginnen halfen ihm, den Titel der Erzählung als ein Lied von Amanda Lear zu identifizieren.
„Nicht große Oper, sondern klitzekleine Operette“ sah Meike Feßmann in dem Text. Doch sie mochte das Schräge, in dem sie die Herkunft der Autorin Moabit sah. Auch sie fand den Blankvers schön gemacht. Hildegard Keller äußerte eine „mittlere Lage des Vergnügens“. Sie habe sich bezaubern lassen. Könne es sich um eine „spätmoderne Ballade“ handeln, „zusammengehalten durch Refrain“? Ihr fiel auf, dass derselbe Satz in Wiederholungen ganz verschiedene Facetten herausarbeite.
Juri Steiner fühlte sich auf eine „phantasievolle Reise“ mitgenommen: „Man spürt, dass die gespielte Bühne des Lebens viel reicher ist als Aida.“ Auch Arno Dusini fand die Verschachtelung mit Oper „leitmotivisch schön gebaut“, bemerkte aber, der Text behaupte sehr große Bedeutung. Er rufe sogar Dantes Divina Commedia auf, das funktioniere aber nicht. Die Jambisierung nannte er „überzogen“: „Der Rhythmus ist etwas, was den Gegenstand klein macht.“ Strigl widersprach: Die jambische Konstruktion müsse man nicht verstehen, sondern spüren. Die Spannweite zwischen Popmusik, Aida und Göttlicher Kommödie mache die Kunst des Textes.
„Romantische Ironie“ war eine Haltung, die Burkhard Spinnen als Basis des Texts sah. Opern möge er gar nicht, es peinige ihn, dass er darin alles, was mit den Figuren geschehe, so wichtig nehmen müsse. In Gerickes Text sei die Unsagbarkeit der Liebe sehr kunstfertig dargestellt. Keller warnte die Jury davor, einzelne Wörter zu identifizieren auf ihre „Vorexistenzen“. Hier habe man es mit einem Spiel mit Versatzstücken zu tun. Auch Steinen verwies auf die Assoziationen, die durch den Rückgriff auf verschiedene Ebenen ausgelöst würden. Doch Dusini blieb dabei: Man könne nicht so tun, als könnte man das Gedächtnis an die Literatur wegschneiden. (Diese Debatte hörte sich für mich ungeheuer 80er an.)
Irgendwann stoppte Feßmann: Man habe durch die Diskussion „den Text in zu hohe Höhen geschraubt“, das werde ihm nicht gerecht.
Auf Tex Rubinowitsch war ich sehr gespannt, unter anderem weil er der einzige Kandidat war, von dem ich bereits vorher etwas gelesen hatte (und weil ich ihn persönlich kenne). Er las „Wir waren niemals hier“, hastig und geschludert, macht beim Umblättern mitten im Satz Pausen. Seine Erinnerung eines Mannes an seine erste richtige Freundin vor 30 Jahre brachte das Publikum dann endlich mal schallend zum Lachen – auch wenn Tex sich vorher in Interviews beschwert hatte, dass ihm als komischem Autor niemand eine ernste Geschichte zutraue. Mich erinnerte die spezifische absurde Komik der Erzählung an den frühen John Irving.
Winkels wies darauf hin, wie in diesem Text Liebe an Abwesenheit gekoppelt sei: „Alles, was nicht gegenwärtig ist, ist stärker.“ Die Sprache sei nicht in klassischem Sinn literarisch, doch er mochte die „metonymische Verschmelzung von einer Szene zur nächsten“. Dusini lobte den erfrischenden Effekt des Textes: „Liebe ohne literarische Schwere verhandelt in sehr souveräner Art und Weise.“
„Er macht sich permanent zum Affen, sie gibt ihm Aufgaben“ fasste Feßmann zusammen, beschrieb den Protagonisten als „kritischen, skeptischen, zweifelnden Mann“. Das Verhältnis zur neurotischen Freundin sei der eigentliche Ursprung der Komik. Keller sprach von einem „Lakoniker mit Sexappeal – „das muss man erst mal zustande bringen“. Sie erinnerte der 2. Teil der Geschichte an Wolf Haas mit seiner Verdoppelung und Selbstbefragung. Der Text sei ein „Kommentar zur Erzählbarkeit einer Beziehung, die keine ist“. Doch in seiner „Pointenjagd“, als „Anekdotenkette“ sei er manchmal nachlässig erzählt.
Steiner amüsierte sich darüber, wie er als Leser der Spatzenpassage auf den Leim gegangen sei. Auch er beobachtete eine antiheldenhafte Existenz, wollte aber wissen, was wohl in den 30 Jahren seit dem Ereignis passiert sein könnte. Außerdem identifizierte er eines der vielen literarischen Zitate im Text. Strigl prompt: Der Autor könne sich glücklich schätzen, ein so gebildetes Publikum zu haben. Ihrer Ansicht nach macht die Beiläufigkeit den Charme aus, wehrte sich, nicht alles, was nach postmoderner Tradition klinge, sei Wolf Haas. Sie mochte den „ganz eigenen Ton“: „Es geht darum, Leben zu imitieren.“
Für Spinnen war es eine besondere Liebesgeschichte, weil es die erste richtige Freundin war (was er eigenartigerweise mit erstem Sex gleichsetzte). Schließlich sitze das 30 Jahre später immer noch. Er sah in dem Text „eine sehr nach vorne an die Rampe tretende Oberfläche“, doch dahinter etwas, das unbedingt gesagt werden musste. In Richtung Tex schimpfte er, er habe „scheußlich gelesen“ – was Strigl allerdings sofort in „kongenial“ unbenannte.
Undankbarerweise abschließend las Georg Petz, der sein Autorenvideo für eine Ausbreitung seiner präskriptiven Poetik nutzte. Das ist natürlich gefährlich, weil man ihn an seinem Anspruch messen könnte. Seine Geschichte hieß „Millefleurs“: In einem jungen Paar stellt sie, Französin, ihrem Freund in der Normandie ihren alten Freund vor. Viel Kriegsvergangenheit, Rivalität zwischen den Männern, haufenweise Natur mit Metaphern und Bildern. Mich interessierte weder Handlung noch Figuren besonders.
Feßmann hielt zunächst ihren Respekt fest vor der Aufgabe, die sich der Autor stelle: Die Rivalität zweier junger Männer, Kriegsgeschichte, Männlichkeitsfragen in einen Text zu packen. Doch: „Ich finde, dass er das überhaupt nicht bewältigt.“ Es gebe viele Stellen „wo ihm die Metaphern auskommen, die Bilder aus dem Ruder laufen“. Ständig sei des Guten zu viel. Ähnlich äußerten sich in der Folge alle Jurymitglieder. Winkels fand es „geradezu noch nett“, was Feßmann gesagt habe, in jeder Sekunde gebe es erwartbare Bilder, der ganze Text habe „einen völlig überladenen Ton“. Dadurch habe der Leser keine Freiheit, er habe sich eingeschnürt gefühlt. Steiner zog die Parallele zu den Millefleurs spätgotischer Tapisserien: Das zentrale Motiv verschwinde in diesem Text hinter den dekorativen Elementen.
Keller, die den Text mitgebracht hatte, mochte ihn, weil er sich für Gefühle interessiere, der Erzähler ein lyrischer Mensch sei, er habe Sinn für Landschaft, Bewegung in der Weltgeschichte. Sie hob die Parallele zum D-Day heraus, dem Decision Day, lobte die verschiedenen Ebenen und die Art und Weise, wie Spannung erzeugt werde. Der Text leide hier darunter, dass es sich halt um die dritte Liebesgeschichte des Morgens handle. (Feßmann betonte später, der Text sei beim Lesen daheim nicht besser gewesen.)
Doch auch Spinnen sprach von den zu vielen Roben, die der Text trage. Er wies darauf hin, wie sich in dieser Begegnung mit dem Jugendfreund der Verlobten die Grenzen der Europäisierung gezeigt hätten. Doch er verbiss sich dann in die Schwimmszene: Der Duktus habe es ihm unmöglich gemacht festzustellen, wie der Kampf überhaupt ausgesehen habe. Kurz ging es dann zwischen Spinnen, Winkels und Feßmann über die gefühlte Bedrohung der Menschheit durch die Berührung zweier Männer.
Strigl kam darauf zurück, dass selbst der Protagonist die Sache langweilig finde. Der historische Untergrund sei zu präsent, es handle sich um Kunsthandwerk. Ähnlich fand auch Dusini schon die Anlage des Texts schwierig: Krieg, Männer, die um eine Frau kämpfen, Körper und Macht. „Dort, wo es nicht zusammengeht, springt eine Poetisierung ein.“
Als ich nach dem Schlusswort das Studio verließ, hörte ich einen anderen Zuschauer seine Nachbarin fragen: „Haben Sie darin eine Liebesgeschichte gesehen?“ Nein, tatsächlich nicht.
Es war der Tag der aufregenden Texte und Inszenierungen. Letzteres brachte die Jury zu einer Grundsatzdiskussion, was sie hier eigentlich bewerten: Text oder Vortrag oder beides? Und wenn beides: zu welchen Anteilen?
An sich poche ich auf die Eigenständigkeit des literarischen Textes. Er muss, wie jedes Kunstwerk, eine genügend weite Ebene haben, damit ich auch ohne Zusatzwissen etwas mit ihm anfangen kann. Wenn von mir verlangt wird, dass ich mir erst ein Mindestmaß Fakten aneigne, bevor ich an den Text darf, gehe ich von fehlendem Gewicht des Textes aus. (Dennoch interessiere ich mich für weiterführende Informationen, am meisten für Rezeptionsgeschichte.)
Dennoch tue ich in Klagenfurt genau das Gegenteil: Ich lese die Wettbewerbstexte nicht selbst, sondern rezipiere sie im Vortrag der Autorinnen und Autoren, mache also den Vortrag zum Teil der Texte. Nur bei großen Verständnisproblemen suche ich im Ausdruck nach Wegweisern. Diese Wegweiser brauchte ich heute zweimal: bei den Beiträgen von Senthuran Varatharajah und von Michael Fehr.
Der erste Knaller des Tages war allerdings die Anmoderation von Christian Ankowitsch. Nachdem ich mich eh schon über seinen Seitenhieb auf das „Jurassic Bühnenbild“ gefreut hatte, wies er auf den Preis der Automatischen Literaturkritik hin. Im Fernsehen! (Wie tief des Herrn Verbindungen zu den Bachmannpreis-Schlachtenbummlerinnen sind, hatte ich erst vor zwei Tagen erfahren.) Zur Stunde fehlen nur noch 103 Euro zur Zielsumme, und nach einem erschreckenden Schluckauf der Technik vergangene Nacht kann jetzt wieder über die Crowdfunding-Site gespendet werden. Vielleicht mögen Sie noch? 5000 Euro wären nicht nur rund, durch das Erreichen des Ziels sparen die Initiatorinnen und Initiatoren auch eine Menge Gebühren.
Dass ich heute Morgen recht müde war (trotz ausreichend Nachtschlaf), machte den Einstieg ins Leseprogramm des zweiten Tages schwer. Ann-Kathrin Heier las ihren Text „Ichtys“, und der war sehr anstrengend. Doch bis auf ein paar besonders kryptogrammatische Sätze mochte ich die atmosphärische und unscharfe Mischung aus Berlin, Businessalltag, Drogensucht, Verbrechensphantasien, Turnen ums Ich in der Schreibwerkstatt und anderswo.
Diesmal eröffnete Arno Dusini die Diskussioin. Er nannte den Text „ernsthaft“ und „gelungen“ (ich hab was verstanden!), ihm sei „weniger an Erkenntnismoment gelegen“ sondern an der Frage nach dem Ich. Allerdings hatte er Probleme damit, „dass wir an keiner Stelle des Texts wissen, wo wir uns eigentlich befinden.“ Hubert Winkels rätselte am Titel „Ichtys“ und der Verbindung zu diesem Symbol des Urchristentums. Für ihn ging es um „Hunger, Drogen, Alkohol, Religion – eine ganze Kette von Instanzen der Normierung und des Entgehens der Normierung“. Er nannte ihn einen „rätselhaften Text“, „ich versuche mich durchzuverarbeiten“.
Meike Feßmann nannte ihren Eindruck zwiespältig: „Ich fühle mich in die Zange genommen.“ Der Text mache mit dem Leser das, was das Ich darin erlebe. Sie fand ihm kunstfertig, aber im Detail ungenau, diagnostizierte einen „Overkill der Prätention“. Daniela Strigl sah ein „gefundenes Fressen für Germanisten und Kritiker“: „Das Ich ist durch eine Schreibschule gegangen und versucht, sich dieser Schreibschule zu widersetzen.“ Der „sehr exaltierte Text“ wuchere mit dem „Talent zur Exaltation“, dem man nicht immer folgen könne. Sie fürchtete die Gefahr der „trügerischen Komplexität“ aus der bildenden Kunst.
Hildegard Keller zog den Presslufthammer: Es sei „ein Wagnis“, überhaupt mit solch einem Text zum Wettbewerb zu kommen, sie konstantierte eine völlige „Zufälligkeit in der Assemblage der Wörter“ und sprach dem Text jede Literarizität ab. Winkels verteidigte ihn: Wenn jemand schreibend den Vorbildern entkommen wolle, habe er halt keine anderen Mittel, als einen Text zu schreiben. Strigl fand, man könne den Text zwar kritisieren, aber doch nicht sagen, er sei keine Literatur.
Juri Steiner wollte gerne weiter rätseln, sah die Auflösung der Sprache sehr real. Er erzählte von Zürich, wo die Polizei die Zeit zwischen 2 und 4 Uhr „die Stunde der Idioten“ nenne, in der es kein Täterprofil gebe, jeder zu allem fähig sei. Das sah er auch in diesem Text. Die Autorin spiele damit „in wundervoller Weise“ mit diesem Wesen Fisch, das zu allem fähig sei und fand den Text „extrem schön ineinander gefügt“: „Ich könnte Ihnen noch stundenlang zuhören.“ (Darauf energischer Applaus des Studiopublikums.)
Dusini bat nun darum, die Autorin nicht mit dem Text zu identifizieren. Ich war über den Vorwurf ebenso verblüfft wie die Jurymitglieder, doch auf deren Abstreiten behauptete er, „doch, das kann man nachhören“. Auf weiteren Widerspruch verwies er auf Metonymie. (Wahrscheinlich hat auch die Jury ein Verständnisproblem mit Dusini.)
Burkhard Spinnen, der den Text vorgeschlagen hatte, legte auch dieses Jahr seine Haltung dar, die wesentliche Funktion von Kunst sei es, Menschen zu erschrecken. Er habe deshalb in den vielen Jahren seiner Tätigkeit immer wieder verstörende Texte herausgegriffen, die ihn ratlos gemacht hätten – das sei allerdings regelmäßig daneben gegangen. Für ihn sei es ein großer Moment, einen Satz zu verstehen und nicht zu verstehen. Er habe in dem Text „eine zeitgenössische Stimme gehört“, die er in all den Jahren noch nie gehört habe.
Keller dankte ihm für die Erklärung und hielt ihre eigene Kunstdefinition dagegen, „für mich als Rezipientin pragmatisch“: Sie sei als Leserin Komplizin, arbeite mit. Doch dafür brauche sie Ansatzpunkte, und dieser Text lasse sie im Nebel. Strigl konterte, dass sich manche durchaus literarische Texte als widerborstige Gegener erwiesen.
Birgit Pölzl redete ihr ganzes Vorstellungsvideo hindurch, beginnend mit „Schreiben ist immer auch ein Schreiben…“ – ab da interessierte mich der Monolog nicht mehr. Ihr Text trug den Titel „Maia“ und drehte sich um eine Mutter, die ihre kleine Tochter verloren hatte und auf einer Reise in einem Tibet-artigen Land mit diesem Verlust fertigwerden wollte. Ich hörte ihn gerne, war allerdings mit den vielen, vielen Naturbildern überfordert.
Winkels nannte den Text „im Kern ein Trauergesang“, der die Struktur einer Litanei habe. Literatur habe ja, wie Religion, die Funktion, Verstorbene wiederauferstehen zu lassen. Hier aber sei eine „mit esoterischen Mitten angehauchte Sentimentalitätsproduktion am Werk“. Er habe sich gelangweilt. Strigl fand, „dass der Text diese Verlangsamung glaubwürdig vermittelt“, konstatierte lyrische Sprache, doch nannte als Problem, dass die Erinnerung an das Kind „sehr stark gefühlsbefrachtet“ sei.
Ähnlich sprach Keller von einem pathetischen, lyrischen Ton. Sie zog den kulturellen Hintergrund heran, diagnostizierte, dass den Sätzen oft das grammatikalische Subjekt fehle, was östlicher Philosophie entspreche. „Eine ganz klare Todesmeditation“ sei der Text für sie, doch da die Leser auf derselben Ebene angesprochen würden, reagierten sie mit Detachment. Steiner sah sich daran erinnert, dass unsere westliche Welt inzwischen für alles den richtigen Ort kennt, zu dem man reisen kann, und so gebe es auch Orte für Trauerarbeit: „Durch gekaufte Momente etwas Authentisches herstellen.“
Diesmal griff Feßmann zum Hammer. Sie verstehe die Faszination des ruhigen Rhythmus: „Man ist ganz froh, wenn mal ein Text kommt, der einem nichts abverlangt.“ Sie fand es sogar verwerflich, ein totes Kind einzusetzen, um etwas Interessantes zu haben: „Für mich ist es Esoterikkitsch.“
Dusini appellierte, die Diskussion zum Text zurückzuführen. Dieser lese sich als Form des Abschiednehmens, versuche Bewegung hineinzubringen. Es sei ein Text „der durch sprachliche Bewegung zu einem Ende führt“. (Hm?) Er sehe keine Bezugnahme auf metaphysische Konzepte.
Spinnen hielt verschiedene Ausgänge für möglich, „weil der Text eine Idylle ist“. Er sei kein großes Unterfangen, eine „umgrenzte Intention, umgrenzte Aufgabe, die sehr respektvoll gelöst worden ist.“
Nun wurde es wirklich schwierig für mich. Zwar schickte Senthuran Varatharajah seinem Text eine Erklärung voraus, in der die Wörter „Facebook“, „Chat“ und „modifizierte Zitate aus der Literatur“ vorkamen, doch erst ein späterer Blick in den Ausdruck machte mir klar, dass ich eine ausführliche Online-Unterhaltung gehört hatte. (Wie ich sie selbst allerdings nicht aus Chats, sondern aus gut moderierten, geschlossenen Foren kenne.) Titel des als Romanausschnitt angekündigten Texts war „Vor der Zunahme der Zeichen“. Ich hörte unterschiedliche junge Menschen über ihren Hintergrund als Asylanten sprechen, über ihre Herkunftskulturen (indisch, tamilisch), über ihre Kindheit in Asylantenheimen. Erst ein späterer Blick in den Text machte mir klar, dass es sich um einen Dialog handelte, denn Varatharajah hatte die Absendernamen nicht vorgelesen. Nichts von den Geschichten fand ich neu und überraschend.
Dann war es Winkels, dessen Ausführungen ich nicht verstand. Möglicherweise nahm er nach Hören des Vortrags an, dass es sich doch nicht um einen Dialog handelte: „Das Ich hat gar kein reales Gegenüber.“ Feßmann erwiderte konsterniert, sie könne sich zwar vorstellen, dass man den Text sehr verschieden interpretiere, nicht aber, wie man ihn nicht als Dialog erkenne.
Keller bot scherzhaft an, Facebook zu erklären. Sie beschrieb den Text als eine Begegnung zweier besprachter Menschen, in der sie wirklich Einblick nehmen könne in zwei Leben im Spannungsfeld Geburt-Familie. Sie fand den Tonfall des Mannes bemerkenswert, der sehr gehoben und erhaben schreibe. Die Frau wiederum verwende eher Facebook-Jargon.
Strigl behauptete gar über den gehobenen Stil: „So schreibt man auf Facebook nicht“ – und wenn, dann mit guten Gründen und absichtlich. Sie sehe in dem Ton der Erhabenheit keinen ästhetischen Mehrwert. Und wenn das ein platonischer Dialog sein solle, fehle ihr Sokrates. Sie sehe eher einen Wettbewerb: „Wer hatte die schlimmere Kindheit.“ Sie nehme dem Text die Konstruktion nicht ab.
Spinnen fand es richtig, eine aktuelle Kommunikation des Alltags darauf zu prüfen, was sie ästhetisch könne. Dieser Dialog, der Chat, sei aber eher eine griechische Tragödie auf Stelzen, in der immer knapp aneinander vorbei geredet werde. Er erinnerte daran, dass in den vergangenen Jahren für Klagenfurt viele Geschichten von Einwanderern angeboten würden, die einander „schrecklich ähneln“. Im konkreten Fall sah er Figuren, die versuchen, „sich herauszusprechen aus den Sachen, die sie geprägt haben“. Benutzt werde dabei eine Sprache, als hätte er „Deutsch bei Hegel gelernt auf einer einsamen Insel“. Spinnens Kritik: Er vermisse einen Moment, „an dem Furcht und Mitleid ausgelöst werden kann“.
Feßman fand, dass das Hegeldeutsch durchaus für den Text spreche: „Wir werden eingeladen, über Dinge nachzudenken, die wir eher gewohnt sind, emotional an uns heranzulassen.“ Als Spinnen meinte: „Mei, sie kommen halt aus schrecklichen Familien“, warnte ihn Feßmann vor Vereinfachung aus abendländischer Sicht.
Wieder mahnte Dusini eine Rückkehr zum Text an. Dieser scheue sich nicht vor dem hohen Ton, sich mit Traditionen auseinander zu setzen, habe keine Angst vor mythologischem Wissen. Er sah „Empfindlichkeitswortgeber für den Dialogpartner“, hätte gerne „eine Psychoanalyse von Zeichen“ in einer Biographie gehabt (hm?).
Steiner beobachtete amüsiert den Umstand, dass wir diesen Text nicht in „Sozialen Medien“ läsen, sondern auf Papier und misstraute den Zeitangaben im Chat – in neun Minuten schreibe niemand solche Texte. Seine Interpretation: „Diese jungen Menschen entwickeln ein Bewusstsein ihrer Fragilität“, das sei unabhängig vom Medium.
Keller erinnerte daran, dass Menschen, die in eine zweite Sprache kämen, oft von den Muttersprachlern ausgegrenzt würden. Sie vermisste, dass das Mädchen frage: „Warum schreibst du so?“ Nach Feßmann ist die zentrale Figur die Mutter, der „Text handelt auf allen Ebenen von der Muttersprache“.
Michael Fehrs Auftritt war in vielerlei Hinsicht ungewöhnlich. Sein Text bestand aus den Kapiteln 1, 2, 10 und 15 eines Romans, war gesetzt wie ein Gedicht („How to recognize a poem when you see one“), zudem trug Fehr sein „Simeliberg“ im Stehen und Gehen vor.
Ich hörte Dialog- und Beschreibungsfragmente, die irgendwas mit Schweiz, Wald, Bergen und Kriminalfall zu tun hatten, letzteres ließ mich inklusive seiner Gangsterdialoge aus der untersten Klischeeschublade an schlechte Tatort-Drehbücher denken. Ich fragte mich innerlich immer lauter „SERIOUSLY?!“ und erwartete ein kurzes und heftiges Autorenschlachten durch die Jury.
Danebener hätte ich nicht liegen können. Steiner, der den Text mitgebracht hatte, erklärte uns erst einmal, was wir da gehört hatten und fasste die Fragmente in sowas wie einer Handlung zusammen, erklärte zudem die Bedeutung des Begriffs „Simeliberg“. Ich war ein wenig fassungslos, denn es hatte doch eigentlich um den Text gehen sollen. Doch niemand protestierte, im Gegenteil. Winkels lobte den „sehr eindrucksvollen Vortrag“, äußerte außerdem Zweifel, dass das wirklich Romanausschnitte seien: Die elliptische Struktur sei dazu angetan, „dass wir die Lücken füllen“. Er bezeichnete Steiners Vorgeschichte zum Simeliberg als interessant und „wie prototypsch Schweizerisch das gedeckt ist“.
Strigl hatte den Text „als Schweizer Bauerntheater gelesen“. Er sei auf den ersten Blick einfach gemacht, doch die Sätze hätten eine hochkomplexe Struktur. Sie sah darin ein „gefaktes Nationalepos“, entdeckte die Themenkomplexe Sauberkeit und Gewalt und fand den Text ziemlich originell. Feßmann gab zu, mit dem Text nichts anzufangen gewusst zu haben, ihr Interesse sei dann durch das Wort „Weltraumeuphorie“ entzündet worden. Dusini dankte dem Autor für seinen Vortrag, war überzeugt, „dass wir ein Schreibprojekt vor uns haben“, das ihn sehr beeindrucke. Doch er konstatiert auch „Übersemantisierung“ in den Eigennamen und „Lautchoreographie“ (ich weiß nicht, ob Dusini das gut oder schlecht fand) und fragte: „Wie verhält sich diese Form von Poetik zu ihrem Gegenstand?“
Laut Keller hatten wir eine Form vor uns, „die in der Schweizer Szene zu meinem großen Vergnügen eine Blüte erfährt“. Sie „macht Sprache zu einem ganz langsamen Tier“. In diesem Text sah sie „Umrisse eines Krimis, der die zeitgenössische Realität einbezieht“ und zeigte sich „sehr beeindruckt“. Stigl lobte das Regionale. Sie sei immer dankbar, wenn das auftauche, und hier sei es mit einer inneren Notwendigkeit eingesetzt.
Spinnen verwies auf das Spannungsfeld zwischen geschriebenem Text und Vortrag. Er war es dann auch, der daran erinnerte, dass eigentlich in diesem Wettbewerb Einigkeit herrsche, dass auf den Vortrag nicht zu sehr zu achten sei. Jetzt aber sei das etwas vollständig Anderes: „Wir umarmen diesen Textkörper“, der im Vortrag gegeben sei: „Stallgeruch, Erdwärme, Identität von Person und Sprache.“ Was davon sei im Text da? Spinnen bezeichnete ihn als Partitur.
Winkels lieferte Zusatzinformationen: Der Autor schreibe nicht, sondern diktiere und arbeite mit Spracherkennung. Dieser Technik sei auch die Notierung in kurzen Zeilen geschuldet, nicht der Form eines Epos. Er fand das „auf erkenntnisfördernde Weise bizarr“. Spinnen meinte gar, der Text sei auf eine Hör-CD angelegt. Für Keller war der „Begriff der schriftlichen Literatur zu eng“, diese Form sei „per Definition multimedial“. „Der Klangraum, aus dem er kommt, ist Ausdruck einer Suche nach innerer Sprache.“ Feßmann war nun der Hinweis wichtig, dass die Sprache des Textes keineswegs rhythmisch sei. Und sie fragte zurecht: „Was ist eigentlich die Basis unseres Urteils?“
Laut Steiner wurden Konventionen verlassen, die Form erlaube es dem Autor, seine Kunst nach außen zu bringen, existenzielle Geschichten zu erzählen. Winkels meinte mit Blick auf neue Formen wie Poetry Slams und die immer zahlreicheren Lesungen, „die performative Dimension der Literatur“ habe überhand genommen.
Ganz konventionell wurde es abschließend mit Romana Ganzoni und ihrem „Ignis Cool“. Aus der Perspektive einer Frau, die mit ihrem Wagen auf einem Pass in den Bergen liegenbleibt, erfahren wir ihre Vergangenheit, darin dominierend ihre Fremdbestimmtheit durch Dorfgemeinschaft und Mutter.
Diesmal, so begann Feßmann, sei es umgekehrt wie beim vorhergehenden Kandidaten: Sie habe für sich selbst die Geschichte einer Frau gelesen, und vor ihrem inneren Auge sei das Auto schier geborsten vor deren Energie. Doch im Vortrag sei die Geschichte immer breiter geworden und habe sie letztendlich gelangweilt. Spinnen erzählte erst mal, dass er jedes Jahr zum Bachmannpreis um eine Tendenz gebeten werde, diese aber immer verweigere. Doch dieses Mal sehe er dominierend die Auseinandersetzung von Frauen, die nicht mehr ganz jung sind, mit ihrer Vergangenheit. Und dann griff auch er die Autorin wegen ihres Vortrags an: „Ganzoni hat jeden ihrer Sätze gefeiert“ – und habe damit ihre Figur kaputt gemacht. „Wie können Sie Ihre eigene Figur so missverstehen?“ Im Text sah er wieder eine beschränkte Aufgabe, die gelöst worden sei, „handwerklich ok gemacht“.
Auch Keller verweist darauf, dass Klagenfurt die große Gefahr eines Auseinanderklaffens von Text und Vortrag berge. Das Auto sei der Inbegriff der Fremdbestimmung; in dessen Stillstand beginne die Odysee in die Figur. Über dem ganzen Text liege Gewalt.
Strigl fand zu viel Ignis vor, zu wenig cool. Sie mochte, dass die Hauptfigur Gestalt gewinne, dass man mit ihr mitfühlen könne. Als Baufehler bezeichnete sie das Ende: Ein Selbstmord gehe aus dieser Art der Suada nicht hervor.
Steiner behauptete, er sei jetzt mit Müttern und Töchtern versöhnt. Er wies auf die Märchenwelt des Texts hin, in dem Eule, Katze, urban legends auftauchten (ich glaube, Steiner verwendet letzteren Begriff anders als der Rest der Welt). Er unterstrich auch den Produktkanon mit Markennamen, wie man ihn aus der Popliteratur kenne und fand „das alles sehr interessant“. Nun kam wieder Dusini: Der Text erfordere Achtung vor der Erzählung des eigenen Lebens. Er sei eine Erzählung über das Erzählen, ein Versuch, Erzählung überhaupt zu definieren. Das Auto sei der Strukturkern, aus der sich die Erzählung entfalte. Das Abbrechen am Ende deutete er als die Aufforderung: „Hör mir weiter zu!“
Am bösesten war nun Winkels, der meinte, er habe nicht erst den Vortrag gebraucht, um von dem Text gelangweilt zu werden und nannte ihn „Geschwurbel“. Spinnen interpretiert den Text als einen Kasten von Kindheitserinnerungen, die erst durch eine Erklärung Bedeutung bekommen, die man dann glauben müsse: „Ob ich darauf einsteige, ob ich die Geschichte annehme, ist eine persönliche Sache.“