Journal Freitag, 21. November 2014 – Rezeptpoetik
Samstag, 22. November 2014 um 10:12Den Abend damit verbracht, nach einer Unterkunft in Rom zu suchen: Mitte Dezember heiratet eine italienische Kusine in der Nähe von San Marino, ich fahre mit meinen Eltern hin und bleibe anschließend noch eine Woche in Rom. Apartment in Trastevere gebucht.
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Eine schöne Liste von Jochen Schmidt, was für ihn nach 1989 neu war:
“Was habe ich nach der Wende lernen müssen?”
Für Westgeld bekam man nicht nur Schallplatten, Aufkleber und Luftschokolade, sondern man benutzte es auch, um Milch, Butter und Zwiebeln zu kaufen, dabei hätte man dafür ja auch weiterhin Ostgeld verwenden können.
Gibt es irgendwo eine Liste einer Westdeutschen, was sie nach der Wende lernen musste? Und was sagt es uns, dass nicht?
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Eine hoch löbliche Anleitung von Sabine Schlimm zum Rezepteschreiben:
“Rezepte schreiben: Eine Anleitung in 10 Geboten”.
Vieles davon ist natürlich persönlicher Gewichtung geschuldet.
Ich gebe zum Beispiel nie die Portionszahl an, weil das zum Subjektivsten überhaupt zu gehören scheint: Mit dem Mitbewohner verzehre ich fast immer zu zweit Mahlzeiten, die im Rezept für vier Personen angegeben sind.
Vielleicht sollte ich das in Zukunft einfach genau so subjektiv machen: “Eine Mahlzeit für Mitbewohner und mich”, “Zwei Portionen plus Reste für Brotzeit” – aber ob das einer Leserin hilft?
Auch Zubereitungszeit scheint mir schwer festzulegen: Die Zeiten, die ich in offiziellen Rezepten finde, stimmen nie mit meinen überein. Ich brauche immer länger, bis zum Doppelten der angegebenen Zeit – und halte mich nicht für sehr langsam.
Mein Ideal ist die Gestaltung, die ich im legendären Plätzchenbackbuch von Olli Leeb kennenlernte. Schon der 15-jährigen Kaltmamsell fiel auf, wie anders als andere Rezepte diese aussahen – da hatte sich offensichtlich jemand gründlich Gedanken gemacht (brauchte dafür allerdings ein fast quadratisches Format):
Allein durch den Satzspiegel braucht es keine Doppelung von Zutatenliste und Zutatennennung bei der Verarbeitung. Zudem wird der Irrtum vermieden, eine Zutat ganz zu verwenden (z.B. Butter), die in Wirklichkeit für zwei verschiedene Arbeitsschritte nötig ist (z.B. Einrühren und Anbraten).
Lediglich das nützliche Sternchen für “braucht Vorbereitungszeit” habe ich nicht übernommen – und muss immer wieder kurzfristig umplanen, weil ich für die geplante Mahlzeit bereits vor Stunden oder gar am Vortag etwas einlegen / marinieren / einweichen hätte müssen. Sollte ich einführen.
Was ich hingegen sehr gerne mache und für eine bezaubernde Freiheit von Blogrezepten halte: Unerwartetes betonen. Das habe ich bei Katharina Seiser gelernt, die “kein Knoblauch” in ihr Caponata-Rezept schrieb, oder warnte “(nicht schrecken, teig ist weich!)”.
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Und nun noch etwas Musik zum Wochenende.
Wurde gestern in einer Twitterunterhaltung zitiert, und ich stellte fest, dass ich es noch komplett auswendig kann (intensive Erinnerung an meine damalige Freundin Gisi, die nicht nur die Rodgau Monotones, sondern auch Die Erste Allgemeine Verunsicherung sowie Qualtinger und Hüsch für alle Lebenslagen parat hatte):
http://youtu.be/BH4YAgf4y8Y
Abgefahrenes Halligalli via @fraudiener – auch in den 60ern gab es bereits Bollywood.
http://youtu.be/XnBbjc5hmho
die Kaltmamsell8 Kommentare zu „Journal Freitag, 21. November 2014 – Rezeptpoetik“
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22. November 2014 um 12:53
:-) Das quadratische Format des Olli-Leeb-Plätzchenbackbuches kam ein paar Jahre später – Herausgeber TW…
Zur damaligen Zeit verwendete ich Abkürzungen aus dem Chemieunterricht für meine Rezepte und Stenokürzel, was mich heute in einige Schwierigkeiten bringt, wenn ich lange nicht mehr gebrauchte Rezepte hervorkrame.
22. November 2014 um 14:08
Die schönste unerwartete Betonung in einem Rezept ever stammt übrigens von Édouard de Pomiane:
“An dieser Stelle könnte sie eine leichte Depression befallen” (zitiert nach Julian Barnes)
22. November 2014 um 14:15
Das gehörte zu meinen ersten Erkenntnissen, Trolleira: Beim Notieren meiner Rezepte nie voraussetzen, dass mein späteres Ich sich schon noch erinnern können wird. Mittlerweile schreibe ich sogar für mich selbst manchmal “(sic!)” hinter Stellen, von denen ich ahne, dass mein späteres Ich ihnen misstrauen wird.
Gruslig, Marquee, solche Rezepte würde ich nie weitergeben. Gleichzeitig fällt mir ein, dass Katharina Seiser auch an passender Stelle auf Geräusch hinweist, zum Beispiel auf das Knistern gerösteter Pinienkerne. Oder Gerüche als Anhaltspunkt verwendet, zum Beispiel beim Anrösten von Haferflocken für Porridge: bis sie nussig duften. Sowas wünsche ich mir viel mehr in Rezepten.
22. November 2014 um 15:44
Das mit den ungenauen Maßangaben in Rezepten hat mich auch schon oft genug genervt (eine Dose – der Großhandel bietet verdammt große Dosen!). Auch schön war mal: Rollen Sie den Teig 1cm dick aus. Ok – und welche Abmessungen? Es gab keine Form oder irgend etwas anderes, was die Propertionen vorgab. Rund? Quadratisch? 5cm breit und 50cm lang? Der Teig wurde später noch gerollt, und beim ersten Mal konnte man schwerlich abschätzen, welchen Effekt das Teigformat und das anschließende Zusammenrollen desselben auf das Endprodukt hat.
22. November 2014 um 18:05
“Was habe ich nach der Wende lernen müssen?”
1. Dass das Leben in Ostberlin nicht so materiell eingeschränkt war, wie man uns im Westen weismachen wollte. Intellektuell und kulturell ohnehin nicht. (“Es war nicht alles nur schlecht.”)
2. Dass Ostberlin die architektonisch spektakulärsten und geschichtsträchtigsten Bereiche des inneren Stadtgebietes beinhaltet (Lustgarten, Museumsinsel, Opernpalais, Unter den Linden…), und dass es ein großes Geschenk ist, das nun kennen-Lernen zu dürfen.
3. Demut und Neugier gegenüber der Kultur, die vorher so weit weg war und die man jetzt ganz nah hat, zum Glück. Zur Horizonterweiterung. Ich habe es immer genossen, mir von Ostberlinern etwas über ihr Leben vor der Wende erzählen zu lassen. Das hat meinen Horizont absolut erweitert.
4. Ich habe gelernt, dass wir in einem materiellen Überfluss leben, der einen auch überfordern kann. Szene in den Tagen nach Mauerfall im November 89 in einem Supermarkt in Berlin-Steglitz. Eine Ostberlinerin steht mit einem kleinen Kind an der Hand vorm Joghurt-Regal und weiß nicht, wo sie zuerst hinschauen soll. Sie sieht dabei nicht glücklich aus. Hunderttausend Sorten und Geschmacksrichtungen. Da muss man sich richtig durcharbeiten, am Anfang. Sie hat sich dann mit dem Kind umgedreht und gar nichts genommen. Da ist mir klar geworden, mit welcher Selbstverständlichkeit wir mit einem zum Teil unsinnigen Überangebot umgehen.
5. Neue Wörter. Interessante und manchmal passendere. “Fahrerlaubnis” statt “Führerschein”. “Zweiraumwohnung” statt “Zweizimmerwohunung”. Und dass Ostberliner anders und selbstverständlicher exzessiv (um nicht zu sagen lustvoll) berlinern als Westberliner. Besonders auffällig bei intellektuelleren, akademisch gebildeten Ostberlinern. Das hat auf mich immer sehr souverän und lässig gewirkt. Und das Wörtchen ‘urst’. (Sagt der Wiener auch) “Urstschön” (= superschön). Geht leider ein bißchen verloren, wie mir scheint. Lange nicht mehr gehört.
22. November 2014 um 18:29
P.S. aber das allerschönste Wort, das ich gelernt habe, ist:
Völkerfreundschaft.
23. November 2014 um 10:45
“Das unmissverständliche Rezept gibt es nicht” nennt Sabine Schlimm ganz richtig als das Übergebot, das so wie “Liebe Deinen Nächsten wie Dich selbst” die berühmten 10 zusammenfasst, ohne selbst drin zu stehen.
Für mich heisst das nun nicht, die Leser sind eh doof, sondern Mut zur fundierten Eigenständigkeit. Dazu gehört die immer wieder herausfordernde Balance dabei, etwas grad so genau zu erklären, dass es allgemein verstanden wird, ohne zu komplex bis kompliziert zu werden; was grad Einsteiger abschreckt. Im Zweifel sprech ich da lieber persönlich an die statt die Perfektionisten zu bedienen – und das geht auch in Kochbüchern, allen Manuals und davon abhängigen Lektorinnen zum Trotz (Frau Schlimm ist das nicht).
Das Olli-Leeb-Buch ist ein schönes Beispiel für ihr Übergebot, denn ich finde diese Rezepte sehr missverständlich, möchte lieber die Butter auf einmal für den Einkaufszettel und schöne ganze Sätze in einer dichten Reihe lesen. Aber ich back ja auch nicht gern.
Aber manches ist auch gelernt – die in englischsprachigen Rezepten übliche Regel, Zutaten bereits geputzt und geschnitten anzugeben (300 g geschälte und gewürfelte Möhren) finde ich völlig unpraktisch, ein großer Rest der Welt findet dann aber wohl unser Abschieben des Ganzen in den Rezeptext blöd.
23. November 2014 um 22:51
wie schön. rom!!!! meine herzenstadt (auf den 2. blick – der 1. blick entging leider der genervt-gelangweilten 18-jährigen, die so viel anderes im kopf hatte als ruinen und kunst und dolce vita). ich reise im februar nach rom und hoffe doch sehr auf viele tolle tipps von ihnen! ps: keiner grölt so schön “erbarme zu spät, die hesse komme” wie ich. isch schwör’!