Archiv für Dezember 2014

Journal Montag, 8. Dezember 2014 – Nicht-Urlauberin

Dienstag, 9. Dezember 2014

Während des Crosstrainerstrampelns vergeblich darauf gewartet, dass es heller wird als Weltuntergang.

Unterm Regenschirm in die Arbeit spaziert.

Mittags Büroeinkäufe rund um den Marienplatz. Randgruppengefühl, weil ich die einzige Nicht-Urlauberin zu sein schien (neben dem Verkaufspersonal). Aber es hatte aufgehört zu regnen.

Abends daheim empfangen worden in Hawaiihemd (und ohne Socken!), hochgeheizter Wohnung und mit Gin Tonic: Ich bekam Sonne und Nicht-Winter vorgespielt. War sehr gerührt, freue mich aber schon auf echte Sonne.

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6-Minuten-Auftritt von Betül Demir, die sich als Hasspredigerin versucht – wie sie meint die eine verlässliche Karriereaussicht für eine deutsche Muslima. (Damit Kübra Gümüşay nicht die einzige Frau mit Kopftuch bleibt, der wir mal länger zugehört haben.)

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Die australische Komikerin Stella Young ist gestorben (ich habe sie erst durch ihren TED Talk kennengelernt) – viel zu früh.

“Stella Young’s letter to herself at 80 years old”.

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Jezebel hat etwas sehr Schönes ausgegraben:
“Albert Einstein Tells Marie Curie To Ignore the Haters in 1911 Letter”.

In diesem Sonderfall: Unbedingt auch die Kommentare lesen, darin noch mehr feministische Aussagen von Einstein.

Journal Samstag/Sonntag, 6./7. Dezember 2014 – Es wird nicht hell

Montag, 8. Dezember 2014

Ein so verhangen düsteres Wochenende, dass ich das Licht in der Wohnung nie ausschalten konnte. Bedrückend.

Samstagvormittag Gefahr und Abenteuer gesucht und zum Weihnachtsgeschenkekaufen außer Haus gegangen. Ich hatte Bücheraufträge für die Nifften, begab mich deshalb in den Hugendubel. Auf die Kundenmassen dort war ich gefasst, nicht aber auf gut gelauntes, nettes Personal. Die erste wies mir den Weg zu den speziellen Bildbänden, die ich suchte. Die nächste sprach mich an, als ich im ersten Obergeschoß vergeblich nach einem Weg ins Erdgeschoß suchte und nach zweimal rund ums Karree hilflos stehen blieb. Auf meine Frage “Wie komme ich denn nach unten?” antwortete sie lachend: “Gar nicht. Sie müssen hierbleiben und mitarbeiten.” (Es war dann der blaue Aufzug in der großen Tolino-Ecke.) Und an der Kasse strahlte mich die dritte an: “Ach, da gebe ich Ihnen besser eine Stofftasche. Die ist bequemer und reißt nicht.” Ich war völlig verdutzt.

Nachmittags Adventtee bei Schwiegers in Augsburg, mit großen Mengen wunderbarer, frischer Plätzchen.

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Am Sonntag konnte man weiterhin kaum von Tageslicht sprechen, dazu leichter Regen – darin wollte ich nicht zum Schwimmen radeln. Ich entschied mich für eine U-Bahn-Fahrt zum Ostbahnhof und besuchte im dortigen Hüpfstudio eine Stepstunde. Mit ein wenig Crosstrainerstrampeln davor und danach kam ich auf meine Kosten.

Der Blick aus der Umkleide im 6. Stock zeigte das ganze Elend des Wetters:

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Langsam musste ich auf meine Reise hin planen: Da ich am Freitagmorgen abfahre und zwei Abende der Woche außer Haus bin, nutzte ich besser schon mal den Sonntagnachmittag für Bügeln, Nägelschneiden und die eine oder andere Recherche.

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Modeste erinnert sich an ihren Großvater und seine Vorstellungen von der Besiedlung anderer Planeten:
“Ad astras”.

Bei der Gestaltung dieser Welten sah mein Großvater große Möglichkeiten. So hielt er es beispielsweise für denkbar, Welten ohne die Stechmücke zu entwerfen. Oder eine Welt, auf der keine alkoholische Gärung stattfindet. Da würden sich entsprechend auch nur Abstinenzler ansiedeln, die miteinander Pfirsich-Maracuja-Tee trinken. Auf einer anderen Welt dagegen würde Tag für Tag ein Fass angestochen, und immerzu sei Blasmusik zu hören, was dafür im Rest des Universums verpönt sei.

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Die Veränderung in der Altersstruktur unserer Gesellschaft macht Geschichten über demenzkranke Verwandte immer häufiger. Doch jede Geschichte ist anders, jede verstört.

Juliane Schiemenz schreibt
“Alzheimer on the Road
Draussen zieht das Land vorbei, drinnen im Auto ein ganzes Leben – mit Vati unterwegs ins Pflegeheim.”

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Kracherl (für Nicht-Bayerinnen: Limo) ist nicht so das Meine: Als Durstlöscher trinke ich am liebsten Leitungswasser. Aber ich mag gerne Kracherl-basierte Longdrinks (Whisky in Ginger Ale, Gin and Tonic, Cuba libre) und bestelle als Leckerei durchaus mal eine Bionade oder ein Bitter Lemon.

Nach dieser kleinen Doku über John Nese, den Inhaber des Galcos Soda Pop Stop in Los Angeles, will ich bitte gerne sofort Kracherl verkosten, viele davon.

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http://youtu.be/gPbh6Ru7VVM

via @missesdelicious

Journal Donnerstag, 4. Dezember 2014 – Tatortreiniger zum Dessert

Freitag, 5. Dezember 2014

Crosstrainerstrampeln, zu Fuß in die Arbeit, Bürotag.
Wetter weiterhin kalt und grau, München spielt Berliner Winter, nur noch nicht so kalt.

Zum Nachtmahl bereitete uns der Mitbewohner auf meinen Wunsch Sellerieschnitzel zu, als Nachtisch eine aufgezeichnete neue Folge Tatortreiniger aus der Vornacht (so konnten wir sie wach sehen, bereits 22 Uhr ist uns beiden zu spät). Ich komme immer noch nicht darüber hinweg, dass sowas Großartiges vom Öffentlich-Rechtlichen gemacht wird, mit immer wieder sensationellen Drehbüchern.

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Anne Wizorek hat im Cicero über die Frauenquote geschrieben – genau: in dem Magazin, in dem man sich bislang auf Überschriften wie “Produkt totalitärer Machtfantasien” im Zusammenhang mit Quotenregelnung verlassen konnte.
„Die Kritik an der Frauenquote enthüllt blanken Sexismus“

Für besonders wichtig und treffend halte ich die Zwischenüberschrift “Frauenquote als temporärer Hack des Systems”.

Die Behauptung, dass gesetzliche Quote und Qualifikation sich ausschlössen, wird dafür weiterhin als Fakt hinausposaunt und derweil der Untergang des Abendlandes verkündet. Beharrlich soll der Eindruck erweckt werden, dass Männer aufgrund der Quote um ihre rechtmäßigen Posten betrogen würden und Frauen diese lediglich bekommen, weil ihr Frausein sie dafür qualifiziert. So wird viel gegen die Frauenquote argumentiert, aber die derzeitige Männerquote nicht hinterfragt.

(…)

Die Soziologie kennt das Phänomen der unausgesprochenen Männerquote unter dem Begriff „Homosoziale Kooptation“. Es beschreibt die Neigung, dass in ein bereits bestehendes Netzwerk vor allem Mitglieder aufgenommen werden, die als ähnlich gelten.

(…)

Niemand der Befürworterinnen und Befürworter möchte die Quote, aber: Sie ist notwendiges Mittel zum Zweck, weil sich eingefahrene Strukturen, die zudem von versteckten Vorurteilen getragen werden, nicht von alleine ändern. Dass dies nicht klappt, haben wir nun ausreichend beobachten können.

(KONFETTI!)

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Wie entsteht Rassismus? Es gibt eine gesellschaftliche Seite, aber auch eine psychologische – und um die geht es in
“The Science of Why Cops Shoot Young Black Men
And how to reform our bigoted brains.”

Chris Mooney über Tests, die implizite Voreingenommenheit zutage fördern, und die Schlussfolgerungen daraus.

We’re not born with racial prejudices. We may never even have been “taught” them. Rather, explains Nosek, prejudice draws on “many of the same tools that help our minds figure out what’s good and what’s bad.” In evolutionary terms, it’s efficient to quickly classify a grizzly bear as “dangerous.” The trouble comes when the brain uses similar processes to form negative views about groups of people.

But here’s the good news: Research suggests that once we understand the psychological pathways that lead to prejudice, we just might be able to train our brains to go in the opposite direction.

DOG, CAT. HOT, COLD. Black, white. Male, female. We constantly categorize. We have to. Sorting anything from furniture to animals to concepts into different filing folders inside our brains is something that happens automatically, and it helps us function. In fact, categorization has an evolutionary purpose: Assuming that all mushrooms are poisonous, that all lions want to eat you, is a very effective way of coping with your surroundings. Forget being nuanced about nonpoisonous mushrooms and occasionally nonhungry lions—certitude keeps you safe.

But a particular way of categorizing can be inaccurate, and those false categories can lead to prejudice and stereotyping.

Erleichternderweise belegt der Artikel am Ende die Möglichkeit, dieser gefährliche Stereotypisierung entgegenzuwirken.

via @lyssaslounge

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“My email is a monster.”

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Zum Selbstbild Deutschlands gehören für die Nachkriegszeit die tapferen “Trümmerfrauen”, die den Schutt aufräumten, den machtbesessene Männer verursacht hatten. Doch nun nimmt uns die Historikerin Leonie Treber dieses schöne Bild durch schnöde Fakten:
“So entstand der ‘Trümmerfrauen’-Mythos”.

Vor allem im Westen setzte man auf Professionalisierung. Es wurden Trümmerverwertungsgesellschaften gegründet und Aufträge an Baufirmen vergeben. Daneben gab es vor allem in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) auch Einsätze, in denen Arbeitslose eingespannt wurden – Männer und Frauen. Diese Menschen arbeiteten dort jedoch zumeist nicht freiwillig, sondern wurden verpflichtet oder standen mindestens unter hohem sozialen Druck.

(…)

Bei vielen Fotos ist der Kontext ihrer Entstehung nicht mehr nachvollziehbar. Die Mehrzahl der überlieferten Bilder ist in Berlin entstanden. Manche, wie oft gezeigte Fotos aus Dresden, auf denen Frauen geschminkt und in guter Kleidung zu sehen sind, wurden sehr wahrscheinlich inszeniert. Manchmal handelt es sich auch um Studentinnen, die in vielen Städten erst dann zur Universität zugelassen wurden, wenn sie beim Enttrümmern halfen. Spätere Bildunterschriften bezeichneten sie dann nicht mehr als “Studentinnen beim Pflichteinsatz”, sondern als “Trümmerfrauen”.

Journal Mittwoch, 3. Dezember 2014 – grauer November

Donnerstag, 4. Dezember 2014

Weiterhin grauester November, hin und wieder nieselt es kalt. Noch fünf Wochen, bis die Tage wieder länger sind als gestern.

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Bürotag.

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Auf dem Heimweg ausführlicher Obstkauf im Verdi (die kleinen, grünen Feigen waren köstlich zum alten Cheddar), bei schrecklich erkälteter Obst- und Gemüsefrau. Die die Kundin nach mir scherzhaft anherrschte: “Es ist so kalt! Wo ist Mütze? Wo ist Schal?”

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Ein sehr schönes Portrait von Tilda Swinton (SWINTON!), das auch viel über den Autor sagt.

“Men of the Year
Tilda Swinton Is In A World Of Her Own”.

Three singular, remarkable turns in three singular, remarkable movies—a lot to discuss. But over the ensuing not-quite-twenty-four hours that I spend in her company, the only time I see Tilda Swinton’s eyes—which are, let’s put these words in italics, blue, except when they’re green—cloud over with boredom is when we talk about movies she’s acted in.

Could you handle seeing Tilda Swinton’s eyes cloud over with boredom?

I couldn’t.

(…)

“I spent a lot of time thinking that I was some kind of foundling,” Tilda Swinton says, answering a better question than the one I asked.

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Bin gerührt von dieser Korrektur einer Geburtsanzeige:

Feministing hat ein bisschen Hintergrund.

Journal Dienstag, 2. Dezember 2014 – “so’n Tier”

Mittwoch, 3. Dezember 2014

Nach dem morgendlichen Langhanteltraining vom Vorturner “so’n Tier” geheißen worden, als Begründung, warum er mich für die Kniehaltung bei den Liegestütz rügte: “Da is sie sonst so’n Tier, und dann macht’se Liegestütz in Schonhaltung.”
Habe ihm gestanden, dass ich wegen des eingeklemmten Nackennervs Angst habe, auf die Schnauze zu fliegen. Da nahm er seine Rüge zurück. Aber ich könne doch daheim ein bisschen üben?

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Bürotag.

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Spot the Christmas.

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(Selbstverständlich ist das ein gut getarntes Raumschiff, dass bei Bedarf aus seiner Halterung herausbricht und die Eingeweihten hinfort trägt. Wenn ich nur wüsste, wie ich mich um einen Platz bewerben könnte.)

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Aushäusiges Abendbrot mit einem Menschen aus dem Internet, danach noch ein Drink in einer rustikalen Hotelbar, die mich ein wenig daran erinnerte, wie wenig ich Skiurlaub vermisse (Skifahren selbst ist was anderes).

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Auf diesen Artikel wies mich der Mitbewohner hin. Ein englisches Paar tut, wovon ich seit Jahren träume: Sie klagen ihr Recht auf das britische Pendant zur eingetragenen Lebenspartnerschaft ein. Was ich nicht tun kann, weil ich halt schon verheiratet bin, und mich extra dafür scheiden zu lassen, fände ich albern.

“Couple launch legal challenge against ban on heterosexual civil partnerships
Rebecca Steinfeld and Charles Keidan launch judicial review after trying to hold ceremony at town hall and being turned away”

Meine Idee dahinter: Auf diesem Weg die wirkliche Gleichstellung gleichgeschlechtlicher Ehen erreichen (um dann das gesamte herkömmliche Konzept Ehe neu zu verhandeln). Das britische Paar hingegen argumentiert anders, aber für mich gut nachvollziehbar:

They believe marriage represents a malign past. “We see ourselves as partners,” Steinfeld said, “and we are seeking a social institution that will express how we see each other. In terms of giving us legal rights and responsibilities, a civil partnership is almost identical to marriage.

“Our objection to marriage is partly to do with its history, a union in which women were exploited for their domestic and sexual services. There are still sexist trappings to weddings: there’s only space for the father to sign on the registry form.”

Keidan added: “It’s almost about the social expectations of marriage: the father giving away his daughter to the groom, hen and stag events, the virginal white dresses. That’s not the type of relationship we want.”

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“Colorandi causa” – Ich nehme hiermit jeder Juristin in meiner persönlichen Bekanntschaft übel, dass sie mir dieses so leicht einflechtbare Bröckerl Poser-Latein bislang vorenthalten haben.

Quelle:
Udo Vetter hat privaten Ärger mit der Polizei – “Gewisse Hybris”.

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Ich mache praktisch nie Hipsterwitze, weil sie zu einfach sind. Außerdem habe ich großen Respekt vor haltlosem Sich-zum-Hirschen-machen. Aber hierüber lachte ich dann doch:
“Selbst für HIPSTER gibt es Grenzen! 18 Fotos die zeigen, was deutlich ZU HIP ist!”

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Aus Anlass wies mich ein Twitterer auf diesen Kabarettausschnitt hin, eine höchste berechtigte kulinarische Ereiferung. Dass darin Hüschs “Bäcker von Beumelburg” zitiert werden, ist kein Zufall: Auch Hüsch konnte sich ja ähnlich kulinarisch ereifern, zum Beispiel in “Muscheln essen”.

Aktivieren Sie JavaScript um das Video zu sehen.
http://youtu.be/rfAYPP8RtVw

via Felix M

Hier zum notfälligen Nachholen: Hanns Dieter Hüschs “Bäcker von Beumelburg” (eine schlanke Fassung, meine Aufnahme enthält deutlich mehr Erzählgirlanden, u.a. “Seht, da kommt Dietrich der Genscher!”).

http://youtu.be/C3Lp2yYezbE?t=1m22s

Wenn Sie darauf achten wollen: Im Publikum neben Reinhard Mey unter anderem ein quietschjunger Günther Grünwald, der zu dieser Zeit vermutlich noch seinen Plattenladen in der Sauerstraße hatte.

Und um auch diese Lücke zu füllen: Hanns Dieter Hüsch, “Muscheln essen”, allerdings nur Ton (es kommen darin auch Burt Lancaster und die Medici vor).

Journal Montag, 1. Dezember 2014 – Wundersalbenhektik und Stellvertreteradventskranz

Dienstag, 2. Dezember 2014

Wenn ich für mich bin, werde ich selten hektisch. Ausnahme: Wenn ich ein Fieberbläschen entdecke. Wie gestern direkt nach dem Aufwachen.
Hektisch bis panisch kramte ich in allen in Frage kommenden Ecken nach der gegenwirkenden Wundersalbe. Nicht dass ein bisschen Herpes simplex so schrecklich wäre, inzwischen trifft es mich nur alle paar Jahre. Doch als junges Mädchen wurde ich häufig böse attackiert, mit 19 so schlimm, dass man bis heute eine Narbe an der Unterlippe sieht. Das steckt mir bis heute in den Knochen.
Danach war 11 Jahre Ruhe, jetzt eben alle zwei bis drei Jahre.

Crosstrainerstrampeln, im eisigen Niesel zur Arbeit.

Mittags in der nächsten Apotheke frische Wundersalbe gekauft (billigstes Produkt mit Penciclovir drin – erinnern Sie sich noch, wie unerschwinglich teuer das vor Ablauf des Patentschutzes war?).

Abends doch noch einen Adventskranz gebastelt, an Stelle von jemandem, die nachvollziehbarerweise dieses Jahr nicht recht in Weihnachtsromantikstimmung kommt: Ich hatte vorgeschlagen, Rituale und damit verbundene Gefühle für sie zu übernehmen.

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Der Tagesspiegel schreibt über die deutsche Übersetzung von Myra Marx Ferrees Varieties of feminism, genauer: Über ihr ausführliches Kapitel zu den Folgen der Wende für ostdeutsche Frauen.
“25 Jahre Deutsche Einheit
Die vergessenen Ost-Frauen”.

Dass (ostdeutsche) Frauen die Wendeverliererinnen waren, dürfte noch vage im kollektiven Gedächtnis sein, doch die Zahlen, die Marx Ferree dazu zusammenstellt, sind ein Vierteljahrhundert später noch einmal atemberaubend: Obwohl Frauen in der DDR bis 1989 40 Prozent des Familieneinkommens erarbeiteten – die meisten in Vollzeitbeschäftigung –, waren zwei Jahre nach der Einheit 40 Prozent aller neuen Stellenangebote in Ostdeutschland ausdrücklich für Männer ausgeschrieben, elf für Frauen und nicht einmal die Hälfte geschlechterneutral. Obwohl Ost-Frauen viel häufiger in klassischen Männerberufen vertreten waren, fiel auch dort ihr Anteil rasch auf das, was der Westen für normal hielt.

Weibliche Zimmerleute mussten auf dem Arbeitsamt hören, dass „Zimmermann“ im neuen Deutschland wörtlich genommen wurde. Und die Älteren traf es besonders hart: Schon im März 1991 war die Zahl der 50- bis 60-jährigen Frauen auf dem Arbeitsmarkt um die Hälfte geschrumpft, von der verbliebenen Hälfte waren 30 Prozent arbeitslos. Die „Welle von Arbeitslosigkeit“, die die Wirtschafts- und Währungsunion der beiden Deutschlands über den östlichen Teil schickte, und der Abbau von 40 Prozent aller bisherigen Arbeitsplätze sei zwar für Männer wie Frauen traumatisch gewesen. Für Frauen aber, schreibt Marx Ferree, war von allen strukturellen Nachteilen, unter denen sie litten, dieser eine der bedeutendste: „krasse Diskriminierung“.

Also: Lasst euch nicht einreden, man müsse sich als Frau halt einfach nur mehr anstrengen – Frauendiskriminierung ist ein strukturelles Problem, nicht das jeder einzelnen Frau.

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Jessica Lange singt “Life on Mars”.

http://youtu.be/F5D1-VlrWcA

via @_kid37

Journal Samstag/Sonntag, 29./30. November 2014 – Internetgäste

Montag, 1. Dezember 2014

Samstagvormittag mein Fahrrad endlich zum Schrauber gebracht. Nachdem der Plan ja nicht geklappt hatte, es Donnerstag in der Mittagspause abzugeben, um es am Samstag wiederholen zu können (der Laden ist winzig und hat keinen Platz für Lagerung, besteht also auf umgehender Abholung), werde ich jetzt eine Lösung finden müssen, es am Dienstag abzuholen (Montag ist ebenfalls geschlossen).

Vorbereitung für die kleine Dinnerparty am Abend: Ein paar Leute aus dem Internet zu Gast.

Unter grauem Novemberhimmel gemütliche Einkäufe am Viktualienmarkt sowie in der Kaufhof-Feinkostabteilung, beim Bäcker und im Body Shop.

Daheim den Nachtisch zubereitet: Parmesan-Bavaroise mit Roségelee (das schönste Wort des abendlichen Menüs) aus Sebastian Dickhauts Ich koche. Die Reaktionen der Esser und Esserinnen waren durchwachsen. Wir kamen zum Schluss, dass sich das Gericht besser als herzhafte Vorspeise eignet: Also die Bavaroise ohne Zucker (die Vanille wiederum machte sich sehr gut zum Parmesan), das Roségelee kann bleiben.

Nachmittags um zwei mit dem Hauptgang begonnen: Astrids legendäre Ochsenbackerl in Portwein-Schokoladensoße. Nachdem sie beim ersten Versuch nicht ganz die gewünschte Zartheit erreicht hatten, legte ich anderthalb Stunden Garzeit drauf – genau richtig. Dazu gab’s frische Spätzle, die der Mitbewohner ins Wasser hobelte.

Als Vorspeise hatte ich mir eine bayerische Fischsuppe ausgedacht: Fisch- und Gemüsefond, ein paar getrocknete Steinpilze mitgekocht, darin Zanderstücke und Grießnockerl, darüber ein bissl Schnittlauch. Funktionierte gut.

Schöner Abend in ausgesprochen angenehmer Gesellschaft (drei davon Thomasse, hihihi). Ich sage Ihnen: Im Internet gibt’s großartige Leute.

Nachdem alle weg waren, ließ ich den Abend räumend und spülend ausklingen.

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Sonntag erst mal Brot gebacken: Der Mitbewohner wollte einem ebenfalls Brot backenden Kollegen ein Probierstück mitbringen, ich entschied mich für den gut haltbaren 7-Pfünder. Das Holen aus dem Ofen übergab ich dem Mitbewohner, um mit seinem Rentnerrad zum Schwimmen zu radeln.

Ganz schön anstrengend, so ein Rentnerradl mit tiefem Einstieg, der Sattel so nah am Lenker, dass ich meinen Po bis fast dahinter schob, um mich halbwegs wohl zu fühlen. Trotz der niedrigen Temperaturen kam ich reichlich ins Schwitzen. Um am Olympiabad hiervor zu stehen:

Mein Gejammer auf Twitter ergab die Information, dass mir wohl Stefan Raab in die Quere gekommen war. Ich hatte nicht genug Energie und Lust, weiter ins Dantebad zu radeln, sonder fuhr heim.

Wasser um mich rum holte ich mir halt durch Vollbad in der Badewanne.

Das Brot war wunderbar geworden.

Den Nachmittag mit dem Bloggen von Lieblingstweets und mit Bügeln verbracht.

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Mich letzthin mit jemandem aus ähnlich international zusammengewürfelter Familie wie meine darüber unterhalten, wie bescheuert wir das Wort “Migrationshintergrund” finden. ICH habe doch keinen Migrationshintergrund, mein bisheriges Leben spielte in einem Radius von 70 Kilometern. Mein Vater hat einen, der ist von Madrid nach Bayern ausgewandert. Aber Kollegin K. hatte einen, die musste sich als Oberhauserin in München zurecht finden.

Und dann höre ich von einem mir nahestehenden Lehrer, dass das Ausschlag gebende wohl ist, ob es im Elternhaus einen Deutsch Muttersprachler / eine Deutsch Muttersprachlerin gibt oder nicht. Dieses Kriterium wirke sich am deutlichsten auf die Bildungskarriere aus. Warum nehmen wir dann nicht dieses statt des blöden “Migrationshintergrunds”?

Das würde auch die Probleme der Kollegin mit ruhrpottischem Migrationshintergrund erklären: Ihre Eltern waren keine Deutsch Muttersprachler, sie sprachen Pott (u.a. völlig andere Grammatik).

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In unserer reichen Gesellschaft gibt es eine immer größere Gruppe Armer mit Arbeit: Das Dienstleistungsproletariat, Konsequenz einer menschenverachtenden Kostenoptimierung der Lehrbetriebswirtschaft. Die brandeins hat ein Interview dazu veröffentlicht:

“Die Unsichtbaren

Zwölf Prozent der Arbeitnehmer gehören in Deutschland zum sogenannten Dienstleistungsproletariat. Ein Gespräch mit dem Sozialwissenschaftler Philipp Staab über die Entwertung von Qualifikationen, fehlenden Berufsstolz und kleine Racheakte.”

Einfache Dienstleistungsarbeit steht unter hartem Rationalisierungsdruck. Wenn durch Technik rationalisiert wird, etwa durch Selbstzahlkassen bei Ikea oder durch Selbstbedienungsautomaten, wird Arbeit, die früher Beschäftigte verrichteten, auf Maschinen oder Kunden übertragen. Sie wird dadurch standardisiert. In einem Discount-Supermarkt oder bei Unternehmen wie H&M oder Zara gehört Kundenberatung beispielsweise nicht mehr zum Arbeitsprofil der Beschäftigten. Es reicht, wenn die Regale gefüllt und die Böden sauber sind. Die Leute brauchen keine Kenntnisse über Produkte, keine spezifischen Fähigkeiten mehr. Die einfachen Tätigkeiten, die übrig bleiben, werden universalisiert, jeder Mitarbeiter ist für alles zuständig: Ware aus dem Lager holen, einräumen, putzen. Standardisierung, Universalisierung und letztlich die Verdichtung von Arbeit sind wirkungsvolle Instrumente zur Rationalisierung einfacher Dienstleistungsarbeit.

(…)

Eine der besten Eingruppierungen für einfache Dienstleistungen im Supermarkt ist die der Kassiererin, laut Tarifvertrag eine qualifizierte Tätigkeit. Also versuchen Supermärkte, ihre Kassiersysteme so zu vereinfachen, dass sie jeder bedienen kann, und stellen keine Kassiererinnen mehr ein. Ein anderes Beispiel für Universalisierung und Verdichtung von Arbeit: Früher wurde in der Gebäudereinigung detailliert vereinbart, was genau die Reinigungskraft zu tun hatte. Heute bieten die Unternehmen dem Kunden, zum Beispiel einem Bürokomplex-Betreiber, pauschal an, für adäquate Sauberkeit zu sorgen – was das ist, liegt im Auge des Betrachters. Besondere Ansprüche muss die Reinigungskraft auffangen, etwa wenn die Räume besonders stark verschmutzt sind, ohne dass sie deshalb mehr Stunden bezahlt bekäme. Verantwortung wird nach unten durchgereicht. Weil Fensterreinigung tariflich höher eingestuft ist, sagt man, wir brauchen keine Fensterreiniger. Die Fenster werden nach Bedarf von den einfachen Reinigungskräften, die jetzt für alles zuständig sind, mit übernommen.

Jetzt verstehe ich auch die eigenartige Arbeitsweise der Reinigungskräfte in dem letzten Großraumbüro, in dem ich arbeitete: Mir war nie klar, was hier eigentlich gereinigt wurde. Ich unterhielt mich zwar immer wieder mit den Putzleuten, aber halt small talk, ich wollte sie ja nicht aushorchen.

Richtig gefährlich wird diese Entwertung der Reinigungstätigkeiten (und ich habe als Schülerin in Putzjobs noch beeindruckend kenntnisreiche Reinigungsfachkräfte kennengelernt) natürlich in Krankenhäusern.

Wäre es für viele Unternehmen nicht klüger, auf Kundenkontakt, Service sowie selbstbewusste und kompetente Mitarbeiter zu setzen?
Kunden, die sich in Boutiquen beraten lassen, akzeptieren höhere Preise. Aber das große Wachstum sehen wir bei Discount-Supermärkten oder Ketten wie H&M, die genau solche Rationalisierungsstrategien anwenden. Deren Kunden sind längst daran gewöhnt, nicht beraten zu werden.

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Der Advent hat begonnen, die Jahrezeit der Wohltätigkeit: Die, die haben, geben denen, die nicht haben – einfach herzerwärmend. Oder einfach nur wärmend.

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http://youtu.be/oJLqyuxm96k