In diesem Brightonurlaub lerne ich viel über Erotik. Als wir uns für die Airbnb-Unterkunft entschieden, taten wir das wegen der Lage, auch wegen der Dachterrasse, und die Räume sahen ganz behaglich aus. Dass sie als “sexy little house” bezeichnet wurde, “for a few nights of sexy, decadent pleasure”, nahm ich nicht so ganz ernst – was Vermieterinnen halt so schreiben. Hätte ich aber besser, denn diese Unterkunft scheint tatsächlich nicht für ganz normales Bewohnen ausgelegt; unter anderem hat sie weder Kleiderschrank noch Esstisch oder auch nur einen Beistelltisch fürs Sofa. Zu der hochtechnischen und eleganten Küchenzeile gehört lediglich ein Stehtischchen mit zwei Barhockern. Der Fernseher steht nicht gegenüber dem Sofa im Obergeschoß, sondern hängt an einer Schlafzimmerwand. Selbst die Kochbücher in der Küche heißen Food for Love oder Kinky Cupcakes (im Unterschrank gleich neben den Spielen Sex!, Intimate und Dirty Minds).
Hier ist ausschließlich erotisches Wohnen vorgesehen, und das ist für mich ein recht unbekanntes Gebiet. Für Sex interessiere ich mich nicht sehr – na gut, vielleicht ein bisschen mehr als für Musik. Am ehesten bekomme ich etwas über das Thema mit, wenn Bloggerinnen, die ich gerne lese, darüber schreiben oder vortragen. Es ist für zwar mich selbstverständlich, dass Menschen sexuell tun dürfen sollen, wozu alle Beteiligten von Herzen zustimmen. Auch dass es sich um ein Interessengebiet handelt, mit dem man sich leidenschaftlich und detailliert beschäftigt, kann ich verstehen. Doch es ist zum Glück einfach, sich nicht eingehend damit zu beschäftigen (anders als bei Fußballbegeisterung zum Beispiel).
Jetzt sitze ausgerechnet ich bis über beide Ohren in Erotik. Und entwickle eine gewisse Neugier für reverse engineering: Wie funktioniert dieses Erotikdings anscheinend?
Da die Vermieter das ganze als generell “sexy, decadent pleasure” verkaufen, adressieren sie offensichtlich nicht eine bestimmte sexuelle Vorliebe, sondern die Schnittmenge der in unserer (westlichen?) Kultur verbreitetsten Vorlieben. Ich lerne also:
1. Es muss dunkel sein, so dunkel wie möglich: Die Wände aller Räume sind schwarz, im Schlafzimmer sind alle Möbel schwarz, die Bettwäsche ist schwarz, die Fenster sind mit schwarzen Jalousien verdunkelt.
2. Die Menschen mögen sich ansehen: Die Dusche ist nicht nur sehr geräumig, also sehr wahrscheinlich ein möglicher Sexschauplatz. Sie ist auch rundum verspiegelt. Jetzt endlich kommt mir zugute, dass ich viele Jahre Übung darin habe, auch in noch so verspiegelten Umgebungen an mir vorbei zu schauen – nämlich durch Aerobic und Gymnastik in Fitnessstudios. Ich sehe – wie die meisten dort – beim Rumhopsen so bescheuert aus, dass ein zu häufiger Blick demotivierend wirkte.
3. Als erotisierend werden Frauenbilder eingeordnet: Hier hängen nur unzüchtige Bilder von Frauen, mit einer einzigen Ausnahme. (Meine anfängliche Theorie, dass diese Wohnung nur auf Menschen ausgerichtet ist, die Frauen sexuell attraktiv finden, verwarf ich beim Durchdenken aller erotisch geltender Bilder, die mir einfielen.) Ist die Folgerung zulässig, dass die erotisierende Ikonographie der westlichen Hemisphähre zu 95% Frauen darstellt?
4. Erotik hat viel mit Büchern zu tun: Hier stehen ganze Regalmeter Bildbände und Literatur mit “love”, “nude” oder “sex” oder “girls” im Titel. (Daneben aber auch Dylan Thomas’ Under milkwood.)
Hier kommen die Wohnung und ich uns – wenig überraschend – am nächsten. Die Überschneidung zu meiner Bibliothek:
D.H. Lawrence, Lady Chatterley’s Lover
Anaïs Nin, Delta of Venus
Belle de Jour, The Intimate Adventures of a London Call Girl (hier steht auch der zweite Band, aber ich fand schon den ersten nicht so toll)
John Fowles, The French Lieutenant’s Woman
Alan Hollinghurst, The Line of Beauty
Dylan Thomas, Under milkwood
5. Erotik findet im Bett statt (das ist hier riesig), in der Badewanne oder in der Dusche. Nicht aber mit Tisch oder beim Essen am Tisch.
6. Erotik hat etwas mit Schlafmasken zu tun. Zumindest liegen neben dem Riesenbett vier Stück auf einer eigenen Konsole.
Ich sehe das Projekt natürlich als noch nicht abgeschlossen an. Mal sehen, was ich in der kommenden Woche noch so über Erotik herausfinde.