Berlinjournal Mittwoch, 6. Mai 2015 – re:publica 2

Donnerstag, 7. Mai 2015 um 8:08

Nach einer wundervollen Radelfahrt in Frühlingsluft begann mein Konferenztag mit Krieg:

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“The IS in us – was wir durch terroristische Kommunikationsstrategien über uns selbst erfahren” von den beiden Militärexperten Sascha Stoltenow und Thomas Wiegold. Harter Tobak auf nüchternen Magen, und das, obwohl die beiden ausdrücklich keine Gewaltdarstellungen wiedergaben. Doch das Nebeneinanderstellen von westlicher Werbung, ob Trailer der TV-Serie Emergency Room oder Employer-Branding-Kampagne eines Automobilherstellers, mit Selbstdarstellung und Employer Branding von ISIS (kleine Einführung in den Stand und Hintergrund derzeitiger Abkürzungen von Thomas) belegte den Titel des Vortrags: Es werden dieselben, erprobten Mittel verwendet. Besonders erschreckend fand ich die Ausführungen über die Corporate Publishing-Landschaft von Islamischer Staat: Erwachsen und professionell wie von anderen professionellen Organisationen, einschließlich Artikeln über Verbraucherschutz in der Mitarbeiterzeitung und Geschäftsbericht mit schicken Grafiken. Oben auf dem Foto sieht man zum Beispiel die Visualisierung des Waffengebrauchs im zurückliegenden GeschäftsKriegsjahr nach Waffenarten und Effizienz. Bei mir als Deutscher rief diese Überschneidung von bürokratischer Professionalität und tödlicher Menschenverachtung recht konkrete Assoziationen mit der eigenen Geschichte hervor.

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Gegen meine Bestürzung half ein behördenmäßig frühes Mittagessen (MAHLZEIT!), zu dem ich mich wie am Vortag mit Andrea Diener zusammenschloss – erfreulicherweise hat sie genauso wenig ein Problem damit, noch vor zwölf Lasagne zu essen, wie ich, um diese Zeit einen großen Teller Gulaschsuppe zu verzehren. (Andrea Dieners Zusammenfassung des gestrigen re:publica-Tages finden Sie hier.)

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Auf die Foodblogger-Veranstaltung hatte ich mich gefreut, doch der Saal war bereits 10 Minuten vor Beginn so voll, dass keine Stühle mehr frei waren. Das allein hätte mich nicht gehindert, doch es handelte sich um einen der Säle, die mit Kopfhörersystem bespielt wurden: Da er vom Nebensaal durch keine Mauer getrennt war, bekamen Akteure und Zuhörerinnen Kopfhörer, über die der Input der Mikrophone zu hören war; es gab keine Lautsprecher. Und ich erwischte keinen Kopfhörer mehr. Meine Idee, direkt vor der Bühne könnte ich den O-Ton unverstärkt verstehen, erwies sich als Illusion.

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Spontan ging ich statt dessen in den Vortrag “The art of trolling”. Doch der erwies sich als Scherz: Die beiden hatten sich im Lexikon die Definition von trolling herausgesucht, die sich aufs Angeln bezog, und referierten darüber. Als Happening eine hervorragende Demonstration von Trollverhalten, aber halt ebenso wenig informativ.

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Sehr informativ wieder war Gabriella Coleman: “How anonymous (narrowly) evaded the cyberterrorism rhetorical machine.”

Ich hatte Coleman auf meiner ersten re:publica gehört, als sie ihre anthropologische Forschung dieses Gebildes dargelegt hatte, und profitiere bis heute von ihren damaligen Ausführungen. Mittlerweile hat sie darüber ein Buch veröffentlicht, gestern erzählte sie ein Kapitel, das es nicht ins Buch geschafft hat. Eigentlich, so legte sie dar, ist es nämlich höchst erstaunlich, dass Anonymous nicht im frame Terrorismus gelandet ist, in den die US-Offiziellen seit Jahren immer mehr Organisationen stopfen, bis hin zu Tierschützern. Sie zählte eine Reihe von Ereignissen, Zufällen, Faktoren und Zusammenhängen der vergangenen Jahre auf, die das bewirkt hatten. Schade, dass sie so gehetzt sprach – möglicherweise hatte sie eine falsche Information über die Redezeit bekommen.

Denn anschließend war diese Bühne eine halbe Stunde leer, bevor der Knaller des Tages passierte.

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ICH HABE EINEN ECHTEN ASTRONAUTEN GESEHEN! AUS 5 METERN ABSTAND! UND ER WAR UMWERFEND! (Den Rest müssen Sie sich weiter in Großbuchstaben vorstellen, ich verzichte nur zugunsten der Lesefreundlichkeit darauf.) Alexander Gerst, oder unter uns Internet Peoples @Astro_Alex, erzählte von seiner Mission auf der ISS (Beschluss: werde künftig nicht mehr von Projekten sprechen, sondern von Missionen. Missionsleiterin, Missionsplan etc.), detailliert, lustig, geradezu britisch bescheiden.

Happyschnitzel_Astroalex

Man möchte meinen, dass nun jeder Nachfolgevortrag auf der selben Bühne nur abrauchen kann. Doch Cory Doctorow hielt mein Interesse leicht: “The NSA are not the Stasi: Godwin for mass surveillance”.

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Doctorow spannte den Bogen vom Umstand, dass wir in praktisch jeder Lebenssituation in Kontakt mit Computern sind, über die Computerhaftigkeit des Computers (Turing complete Rechner können jeden Befehl ausführen, den jeder andere Computer ausführen kann), wodurch jede Beschränkung ihrer Funktionen durch Regulierung ihnen ihr Computerwesen nähme, bis hin zum Umstand, dass dies in jeder, absolut jeder Verwendung eines Computers eine Überwachungsmöglichkeit einschließt. Bei ihm klang das wesentlich schlüssiger als in meiner Zusammenfassung, bitte um Vergebung.

Abends war ich zumindest ein bisschen selbst auf der Bühnenseite: Ein Teil des Techniktagebuch-Autorenkollektivs zeigte Sachen. “Wir hatten ja nix – und das haben wir mitgebracht.” Alte Leute zeigten alte Technik von Poken über Bleistiftspitzer bis Furby und alles mögliche dazwischen. Ein Heidenspaß wurde gehabt, anschließend stellten wir noch einige Mitbringsel aus (u.a. des Schwiegervaters Betamax-Kassette).

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Spiegel online gefiel unsere Idee so sehr, dass sie das Spiel in ihrer Redaktion spielten: “Alte Gadgets: Was früher cool war”.

Danach nur noch kurzes, erschöpftes Herumstehen im Hof. Ich hatte riesigen Hunger, holte mir unterwegs noch Zeugs an einer Tankstelle und radelte zurück nach Neukölln.

(Viele der Vorträge sind bei YouTube nachzugucken, die Links reiche ich nach. Bis dahin mögen Sie vielleicht selbst suchen?)

Nachtrag: Hier einige Vorträge zum Hinterhergucken.

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https://youtu.be/MWbdOicrz5E
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https://youtu.be/7blX-1oVUCk
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https://youtu.be/l8tTRgTqLn8
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https://youtu.be/l8Q0Mme33bM
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https://youtu.be/jDJK8EGq5cU?list=PLAR_6-tD7IZXfzL5nGmpsNjd26F3KCEcY

die Kaltmamsell

1 Kommentar zu „Berlinjournal Mittwoch, 6. Mai 2015 – re:publica 2“

  1. Gaga Nielsen meint:

    hab gerade den Astronauten-Clip angeschaut, da ist er, sehr lohnenswert:
    https://re-publica.de/session/blue-dot-mission-sechs-monate-leben-und-arbeiten-auf-iss

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