Journal Mittwoch, 27. Mai 2015 – Jagdszenen aus Niederbayern

Donnerstag, 28. Mai 2015 um 10:17

Ein trockener, kalter Tag, spätnachmittags ein wenig Sonne. Das Biergartenorakel vorm Büro irritierte mich vormittags:

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Schrödingers Biergarten. Tatsächlich gab es mittags genau zwei tapfere Draußenesser im Anorak.

§

Abends Theater, ich sah an den Kammerspielen Martin Sperrs Jagdszenen aus Niederbayern.

Regisseur Martin Kušej hat die Szenen des Stücks von 1965 rückwärts angeordnet, sie zu einer umgekehrten Crónica de una muerte anunciada gemacht. Es beginnt mit dem Ende der Hauptfigur Abram (Katja Bürkle in einer wunderbaren Mischung aus Trotz, Brutalität und Verletzlichkeit), wir Zuschauer erfahren es wie die Schlagzeile der Lokalzeitung. Und wie in der Berichterstattung über Hergang und Hintergründe in den Zeitungsausgaben der folgenden Tage enthüllen alle folgenden Szenen, wie es dazu kam, wer daran beteiligt war. Die Inszenierung endet mit der Ankunft von Abram bei seiner Mutter (Gundi Ellert zeigt eine der Duckmäuserinnen, wie ich sie im Unfeld meiner Oma viele gesehen habe), die ihm entgegenwirft, sie hätte ihn nach der Geburt besser erwürgt.

Dem Spiegel hat’s gar nicht gefallen, mir schon. Das aufgebrochene Zeitkontinuum abstrahiert die Gründe des Außenseitertums: Homosexualität, psychische Krankheit, nicht sanktionierte Partnertschaft. Es geht um die Dynamik alle Arten von Hass, verwurzelt in Borniertheit und Stereotypen – gegenüber allem, was anders ist. (Gleichzeitig sind Vorurteile gegenüber Schwulen sehr lebendig in bayerischen Köpfen – hören Sie gerne mal Unterhaltungen im Freundeskreis meiner Eltern zu.)

Mehr Bühnenbild als das von Anette Murschetz brauchte es nicht: Eine Scheunenwand, eine Mauer, ein Tisch, ein kahler Baum – das reichte. Auf die Musik hätte ich verzichten können.

Jagdszenen aus Niederbayern wurde 1969 verfilmt, und das Echo darauf ist ein weiterer Beweis, dass Hass zum einen keine originäre Nebenerscheinung von Internkommunikation ist, zum anderen wie Hater-Kommentare unbeabsichtigt die angegriffene Aussage belegen: Eine Ausgabe der Zeit von damals zitiert einen Brief an den Regisseur:

Er würde „am liebsten das ganze Kino mit dieser Schweinerei in die Luft fliegen lassen“.

Und schon 1969 behaupten diese Kritiker einen

„Gesinnungsterror“ der „Meinungsmonopolisten in Film, Presse, Rundfunk und Fernsehen”

Lügenpresse anyone?

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Beim Heimkommen sah ich vorm Haus ein Eichhörnchen-großes Nicht-Eichhörchen mit langem Fellschwanz unter ein Auto huschen – vermutlich ein Wiesel, vielleicht ein Mauswiesel.

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Eines der Dinge, die ich gestern im Techniktagebuchchat gelernt habe:
Bus Factor

the number of key developers who would need to be incapacitated to make a project unable to proceed

Sollte jedes Projekt durchdacht haben.

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Distelfink, der in den Händen seines Halters badet.

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https://youtu.be/JVnT6W8i_K8
die Kaltmamsell

3 Kommentare zu „Journal Mittwoch, 27. Mai 2015 – Jagdszenen aus Niederbayern

  1. adelhaid meint:

    oder vielleicht ein Siebenschläfer? http://de.wikipedia.org/wiki/Siebenschläfer

  2. Trippmadam meint:

    Das Biergartenorakel war doch sehr präzise. Es sagte: Eigentlich ist es zu kalt, um draußen zu essen, aber ein paar Irre werden trotzdem kommen.
    (…wenn auch im Anorak)

  3. vered meint:

    Gerne gelesen. Und: Grossen Dank für das bezaubernde Filmchen! Es hat mir den Tag gemacht (und hoffentlich auch anderen, denen ich es zuschicke).

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