Lauter interessante Texte, dazu konstruktive Jurydiskussionen – das war ein starker Anfang des Bachmannpreises.
Schöner Rahmen: Die Moderatorin der Fernsehübertragung samt Drumrum außerhalb des Studios ist Zita Bereuter, die ich in den vergangenen Jahren als Teil der Internet-lastigen Bachmannpreisschlachtenbummler kennengelernt hatte. Sie nahm in ihrer Anmoderation gleich mal die Teile des Studiopublikums aufs Korn, die vor Beginn und in Pausen ihre Plätze mit Taschen oder Jacken belegen. Half nur so halb, in der Mittagspause sahen wieder viele Zuschauerinnen nicht ein, dass ein verlassener Platz ein freier Platz sein sollte. Eine war zumindest ehrlich.
Gleichzeitig war der Andrang überschaubar: Fast alle, die ins Studio wollten, bekamen Stühle – ich habe auch schon erlebt, dass selbst die Stehplätze im Gang umkämpft waren. Das Studio war angenehm gekühlt, neben der Liveatmosphäre ein weiterer Grund, die Außenübertragungsplätze in der Sommerhitze zu meiden. Es dauerte eine Weile, bis mir klar wurde, was mir beim Warten auf den Sendebeginn fehlte: Der bisherige Juryvorsitzende Burkhard Spinnen, der immer schon zehn Minuten vor allen anderen im Studio gesessen hatte.
Ich ließ mir wieder nur vorlesen, las nicht selbst mit (steckte die ausgeteilten Texte aber ein).
Katerina Poladjan stellte sich in einem künstlerisch verzerrten Film vor. Der Text, den Sie auf Einladung von Jurymitglied Meike Feßmann vorlas, hieß „Es ist weit bis nach Marseille“. Von einer Szene ausgehend über Hintergrundgeschichten und Personen zu sprechen, ist eine oft verwendete Erzählkonstruktion. Doch hier ist es eine Sexszene, eine erste erotische Begegnung von zwei Menschen, von der ausgegangen wird, in der mit „dachte sie“, „dachte er“ die Vergangenheit, familiäre Verknüpfungen und emotionale Verwicklungen erzählt werden. Und auch wenn ich nicht fordere, dass jede Sexbeschreibung rauschhaft gedankenlose Sinnlichkeit sein muss: So viel Gedanken an alles wirken hier merkwürdig. Die Geschichte geht dann zwar auch weiter und endet in einem ordentlichen Cliffhanger, aber der missglückte Anfang überschattet sie.
Der neue Juryvorsitzende Hubert Winkels eröffnete die Diskussion mit genau dieser Kritik: Er sprach vom „Missbrauch eines One Night Stands“. An ihm hängten drei Perspektiven, ein Ausbruch aus Normalität, der Tod eines Ehemanns, der Sohn – diese Sexszene sei zu aufgeladen, der Haken, an dem die ganze Geschichte hänge, sein zu klein.
Hildegard E. Keller bemängelt, die Ebenen des Texts hingen nicht zusammen, er werfe nur Fragen auf: „Welche Figur steht eigentlich im Zentrum der Geschichte?“
Stefan Gmünder (ein neues Jurymitglied) beobachtete, dass die alte Geschichte vom Sexabenteuer, nach dem der Mann verschwindet, einen Dreh dadurch bekomme, dass hier die Frau verschwindet. Er verwies auf seine Schweizer Herkunft, und für einen Schweizer gehe es bei Bergliteratur immer um Wahnsinn und Tod.
Klaus Kastberger (ein weiteres neues Jurymitglied) bemerkt zunächst, er habe sich einen anderen Text zum Auftakt gewünscht, nämlich einen „grottenschlechten“ (das hatte er auch schon getwittert), dieser aber sei „in seiner Art ziemlich perfekt“. Er wünsche ihn sich allerdings „lieber kratzbürstiger“, das liege an seiner eigenen österreichischen Herkunft (womit die beiden Minderheitskomplexe A und CH abgedeckt waren, hoffentlich bleiben sie es im Rest der Diskussion).
Juri Steiner hatte Tod, Liebe Wahnsinn gelesen, und fand den „Kontrollverlust sehr gut beschrieben“. Er assoziierte mit dem Namen des einen Protagonisten, Jean Luc Gaspard, den Filmemacher Godard, beschrieb eine Sterbeszene und sah dessen Jump Cut-Technik in der Geschichte, mit der die Ratlosigkeit und Rastlosigkeit der Existenz vermittelt würden.
Weiteres Neumitglied Sandra Kegel sprach von einem „Kreuzungstext“ und fragte sich, ob aus dieser Begegnung wohl eine Lebensveränderung werde. Sie wies auf die äußerliche Bewegung der Handlung im Text als bedeutend hin: Es gehe vom Hotel hinunter, dann auf den Berg. Allerdings kritisierte sie, der Text sei sprachlich hinter den Erwartungen zurückgeblieben.
Meike Feßmann widersprach Winkels: Der One Night Stand sei nicht der Anlass der Erzählung. Sie nannte den Text „unglaublich stimmungsstark“ und verglich ihn mit dem Trompetenspiel von Miles Davis. Sie sprach von Blenden und Schalen des Bewusstseins, man müsse den Text mit Zeit und Geduld lesen, und sie lobte die Bilder, die für die erotische Begegnung gefunden worden seien.
Keller warf ein, für sie seien das alles lose Enden gewesen, die nirgendwohin führten, das innere Zentrum der Begegnungen fehle.
Die Jury unterhielt sich über Scham und Schuld der Begegnung zwischen Ann und Luc. Während Keller meinte, Ann wolle sich lediglich etwas beweisen, sah Kegel deren inneren Dialoge mit ihrem verstorbenen Mann als Zeichen, dass sie noch nicht bereit sei. Feßmann wiederum war überzeugt, Ann werde durch diese Begegnung zurückgeführt ins Leben – und lobte die sparsame Art der Informationsvermittlung allein durch erlebte Rede.
Winkels wiederum kritisierte das zu Viel, vor allem bei der Behandlung des Sohnes. Steiner merkt an, dass die Jury möglicherweise „zu orgiastisch“ denke und gar kein Sex stattgefunden habe. Wie Winkels schon vorher wies er darauf hin, dass viele Passagen im Konjunktiv geschrieben seien, auch Teile der erotischen.
Klaus Kastberger bot an, dass die Probleme mit der Geschichte in Wirklichkeit ein Gattungsproblem sein könnten: Einer Kurzgeschichte verzeihe man Fehlen von Informationen und offene Fragen, doch diese Geschichte lese sich wie ein „Trailer für einen Roman“, und von einem Roman erwarte man weit mehr Antworten – er sei eine Hybridform. Er erzählte, dass er für sich die Einstiegssätze aller 14 Bachmannpreistexte in ein Ranking gebracht habe; der hier sei auf Platz 10 gelandet.
Die nächste Vorleserin war Nora Gomringer (vorgeschlagen von Sandra Kegel), und sie räumte so richtig ab: Aus verschiedenen Perspektiven, in verschiedenen Stimmen und Sprach- sowie Textformen schilderte sie in ihrem Text „Recherche“ die solche einer Schriftstellerin in einem Mehrparteienhaus, aus dessen Balkon sich einige Monate zuvor ein 13-Jähriger in den Tod gestürzt hatte. Sogar die Übertragung der Bachmannpreislesungen kam darin vor. Viel Gelächter, das allerdings mit Voranschreiten der Geschichte bedrückter wurde, am Ende lauter und langer Applaus.
Sandra Kegel nannte den Text „Beobachtung zweiter Ordnung“ und „rasant“, er habe allerdings auch „etwas Verstörendes“, eine „Stimmenpolyhonie“ mit dem Treppenhaus als Verstärker.
Winkels rühmt ebenfalls die Polyphonie, zudem die Ausflüge zu Alice in Wonderland und viele andere Elemente, die er „sprachbezogene Avantgarde“ nannte, die aber nicht Selbstzweck seien. Er habe „nicht eine einzige Sekunde eine Unangemessenheit empfunden“.
Von einer „fast wissenschaftlichen Versuchsanordnung“ sprach Steiner, dem Wohnhaus als Universum. Der Name der rechechierenden Nora Bossong erinnere ihn an das Bosonteilchen; er denke an CERN, die Kollision werde hier durch den Todesfall ausgelöst.
Für Gmünder hatte der Text einen völlig neuen Kosmos erschaffen, er nannte ihn „genial“ und auch einen Text über das Schreiben. Dem stimmte Kegel zu: Er sei ein „Text über den Unterschied zwischen Schrift und Stimme“. Keller setzt noch einen drauf: Das Spiel dieser Stimmen sei raffiniert und abgründig, es schließe sogar die Zuhörer und sie als Jury mit ein.
Steiner spann seinen Vergleich mit Forschung weiter: Wie in der Physik gehe es darum, die richtige Frage zum richtigen Zeitpunkt zu finden.
Kastberger drehte das Rad ein Stückchen weiter: Ob denn der Text überhaupt ohne diese Umgebung existieren könne, in der Jury und Publikum sich befänden? Ob die Autorin ihn nicht lediglich „aus der Cloud“ geholt habe? (Immer ein bisschen peinlich, wenn Geisteswissenschaftler in Metaphern konkrete zeitgenössische Schlagwörter verwenden, ohne irgendeine Ahnung von deren realem Hintergrund zu haben.) Sei es möglich, dass die Jury diesem Text auf den Leim gehe?
Feßmann ging nicht darauf ein, sondern verglich ihr stilles Lesen des Texts mit der Rezeption jetzt: Ersteres sei bei ihr als Montage angekommen, die ihre Mittel beherrschte, jetzt beim Hören sei sie völlig gefangen gewesen und habe erst die ganze Vielfalt der Stimmen erfasst. Winkels nutzte das zur Erinnerung daran, dass es unter der Jury immer wieder die Diskussion über den Anteil des Vortrags an der Beurteilung gebe. Er schlug den Bogen zurück zu Kastbergers Anmerkung: Das Raumschiffdasein gelte für alle Kunst, zudem werfe der Text im Grunde selbst diese Frage auf.
Saskia Henning von Lange las, vorgeschlagen von Sandra Kegel, „Hierbleiben“ vor – von ihrer eigenen rechten Hand tänzerisch begleitet. Ein Ich fährt einen vollen Möbelwagen weg von einem Du und kreist ununterbrochen um ein ungeborenes Kind, ums Autofahren, ums Vergessenwollen des Du. Mich interessierten weder Personen noch Handlung, ich ertappte mich bei abschweifenden Gedanken – außerdem verliere ich Vertrauen in einen Text, wenn er am Anfang von den Scheinwerferlichtern der überholten Autos schreibt, es dann aber erst später heißt: „Es dämmert, der Abend kommt.“
Sandra Kegel meldete sich als erste zur Geschichte, nannte sie „Autotext“, und schließlich sei Deutschland eine Autonation. Ebenso deutsch sei das ständige gedankliche Kreisen um sich selbst. Sie sah einen Gegensatz zwischen der Bewegung im Raum und dem Stillstand im Fahrerhaus des Lkws.
Winkels assozierte „Autobahn“ von Kraftwerk; der Text kenne nur sich selbst, sei aber nicht mit sich einverstanden. Er diagnostizierte eine ständige Verneinung, eine Reihe von Negativsätzen. Die „Monadologie“ der Geschichte sei Weltlosigkeit als monotones Ereignis; sie tendiere „ein wenig zu Blutleere und Langweile“.
Feßmann nannte das zu spekulativ: Ein Mann fliehe vor der Nachricht, dass er ein Kind bekomme. (An dieser Stelle schreckte ich hoch: Ich hatte beim Zuhören eine Frau am Steuer des Möbelwagens gesehen.) Was er spreche, sei für die Frau gedacht.
Gmünder sah in dem Möbelwagen ein Schneckensymbol. Er versuche die Beziehung zu Tode zu denken. Kastberger freute sich sehr über den ersten Satz, hatte aber Schwierigkeiten mit der Konstruiertheit der Geschichte. Vielleicht sei das ja gerade die Qualität der Geschichte, doch er habe die Ereignisse aufgesetzt gefunden. Fad sei ihm nicht geworden, im Gegenteil habe er sich die Geschichte noch radikaler gewünscht, eben wie das Kraftwerk-Lied.
Keller bezeichnete den Text als „großen Exodus eines Schwangerschaftstextes“, die Hauptfigur wolle sich nicht fortsetzen. Sie ringe um Vergessen, doch das nütze sich ab. Bei Selbstlesen habe sie sich gedacht, die Autorin müsse „sehr gut lesen, um den Text zu retten“.
Winkels versuchte einen psychologischen Ansatz: Die Hauptfigur negiere die Frau so sehr, dass sie am Ende eine Präsenz habe. Den Unfall am Ende sah er als Einbruch des Realen. Doch um diese Wucht erleben zu können, müsse der Leser durch eine lange Monotonie.
Steiner identifiziert die Monotonie als Darstellung der Trance beim Autofahren, der Rhythmus des Autofahrens literarisch übertragen.
Kastberger fasste zusammen, wie viele Ansätze es in dieser Diskussion zu diesem Text schon gegeben habe: „Je mehr Interpretationsmöglichkeiten ein Text lässt, desto besser ist er.“ (Ich fing innerlich das Fuchteln an. Kurz: Nein.) Für ihn sei er ein „weiblicher Erklärungsversuch eines männlichen Tickens“. Steiner bemerkte, es könne sich bei den Figuren ja auch um zwei Frauen handeln. Woraufhin Kastberger allen Ernstes meinte, darauf wäre er ja nie gekommen, denn wie eine Frau von einer anderen Frau ein Kind… (amüsiertes Augenbrauentanzen) „Ich weiß nicht.“ Leider habe ich mich nicht getraut, in der Pause zu ihm zu gehen und es ihm zu erklären.
Winkels warf die Frage auf, „ist der Text langweilig oder ist der Gegenstand des Textes Langeweile“. Es herrschte Uneinigkeit, Winkels meinte, es handle sich wohl um eine Beschwörungsform, doch „ich bin in diesen Beschwörungsgroove nicht reingekommen“.
Meike Feßmann hatte Sven Recker vorgeschlagen, er las „Brot, Brot, Brot“ vor. Drei personale Perspektiven, die erste in sehr mündlicher, vulgärer Sprache, so dass ich die Zwischenüberschrift „Börner“ beim ersten Erscheinen als „Burner“ (im Sinne von toller Witz, Klopper) verstand. Alter! Wir bekamen immer wieder abwechselnd diesen Börner, eine Julia und Drago erzählt, sehr schnell, sehr umgangssprachlich. Mich interessierten die Geschichten, am wenigsten davon noch die der wohlstandsverfaulten Julia.
Kegel sprach von drei Menschen, die versuchen, mit ihrem Leben zurecht zu kommen; sie bot an, die Geschichte als Staatsallegorie zu lesen. Bedeutsam war für sie, dass die Geschichte „durchzogen von Fremdtexten“ war. Doch sie kritisierte, dass die Personen zu stereotyp seien, zum Beispiel die Ärztin mit ihrem „Second Hand Leben“. Winkels hakte da ein: Das Problem sei, dass diese Figur mit genau dieser Bezeichnung beschrieben werde. „Ganz von außen, auktorial mal kurz bestimmt“ würden die Figuren beschrieben, das werde dann durch Innensicht gedoppelt: „Geht literarisch gar nicht.“
Für Feßmann war das ein „klaustrophobischer Text über unsere Ego-, Therapie- und Geschäftsideengesellschaft“. Die Figuren hätten verinnerlicht, welche Auswege ihnen die Gesellschaft anbiete. Der Autor schiebe sie im Wechsel an die Rampe, dann fielen sie wieder zurück.
Doch auch Gmünder waren die Figuren zu schablonenhaft, sie seien wie dem Klischeekaufhaus psychischer Probleme entnommen. Er habe „immer denselben Duktus“ gehört, ein „Nachblöken von Zwangspropaganda“. Ähnlich sprach Keller von Innenperspektiven von Kranken, „wie wir sie uns vorstellen“. Sie überlegte: „Ist ein trashiger Text heute noch möglich?“ Wenn schon Schablonen verwendet würden, dann nicht mit Innenperspektiven.
Völlig kalt gelassen von dem Text fühlte sich Kastberger: „Hier habe ich irgendwie das Gefühl, es ist alles reproduziert.“ Es entwickle sich nichts aus dem Arrangement. Die Aufzählung von Produkten und Marken erinnere ihn an 90er Popliteratur, „ich kann mich an nichts entzünden“. Feßmann erklärte genau das zur Provokation, doch Kegel meinte, wenn man schon Schablonen verwende, müsse man auch etwas damit machen.
Juri Steiner sorgte für einen Lacher, als er scheinbar entsetzt ausrief: „Wenn die alle in die Schweiz kommen!“ (Zwei der drei Figuren planen, einen Arbeitsplatz in der Schweiz anzunehmen.) Er sah Schablonen, „die in der ironischen Brechung immer noch irgendwie zucken“ und fand den Text gar nicht so schlecht.
Gmünder verwies darauf, dass die Geschichte sprachlich zu deutlich sei und keine eigene Stimme habe, was Feßmann wiederum damit erklärte, dass es doch ein lobenswertes Risiko sei, keine eigene Erzählstimme zu haben und alles den Figuren zu überlassen.
Den Text von Valerie Fritsch (vorgeschlagen von Klaus Kastberger), „Das Bein“, nahm die Jury völlig anders auf als ich. Ich hörte eine sehr konventionell literarischliterarische Geschichte. Sie kam mir vor, als hätte sich jemand ein grobes Geschichtsgerüst ausgedacht und dann jedes Detail mit Beschreibungen und Vergleichen poetisiert, bis es nach Literatur aussah. Vordergründig hörten wir die Geschichte eines Mannes, der seinen alten Vater besucht, einen Tänzer, weil der bei einem Unfall ein Bein verloren hat. Drumrum hätte es eine Vielzahl von Geschichten gegeben, die mich interessiert hätten: Die Tänzervergangenheit des Vaters, das Aufwachsen in einer solchen Umgebung, was mit der Mutter dazu war. Doch ich erfuhr statt dessen viel über das Haus und den Garten und die Hunde, die Protese und den Beinstumpf, alles poetisch beschrieben.
Genau darauf aber fuhr die gesamte Jury total ab (und das Publikum, das begeistert applaudierte). Feßmann nannte den Text eine „ganz morbide Geschichte“, „wie der Entwurf zu einem Bild“, sie habe an Velazquez gedacht. Sie lobte die Einfühlsamkeit in den Schmerz des amputierten Mannes. Kegel nannte ihn einen „Lückentext“, der seine Kraft aus dieser Lücke beziehe. Die Geschichte sei aufgehängt an den Jahreszeiten von Hochsommer bis Winter, die Motive seien großartig von Baum über Nachbarn bis zu Instrumenten. Sie schlug den Bogen von Phantomschmerz zu Literatur: Erschaffen, was nicht da ist.
Keller hatte den Text als memento mori gelesen. Die Zeit ästhetisch zu dehnen, habe Tradition. Sie habe schöne Bilder gesehen, empathisch sei nur die Natur. Die Geschichte habe ihr sehr gut gefallen.
Auch Winkels sprach die Natur an, auch in den Hunden; Natur kenne keine Lücke. Er sprach von einer „im Kern völlig ödipalen Geschichte“, der Sohn denke sich in die Kastration des Vaters hinein. Das Ende sei die Suche nach der Ganzheit des Sohnes. (Von all dem konnte ich nichts nachvollziehen.) Was Winkels störte: Dass der Vater Tänzer war, dieser Gipfel der Körperbeherrschung; das war ihm zu dick aufgetragen.
Als nächster schwärmte Steiner: Das sei ein Tableau, ein Bild der großen Metaphysik, die Versehrtheit, die uns moderne Menschen begleite. Er habe dieses Leid gespürt. Kastberger lobte den „literarischsten Text, den wir bisher gehört haben“. Seine Bilderwelt schaffe sich selbst den Raum, den Literatur brauche; fast jeder dritte Satz enthalte ein Bild (ich so: Eben! Furchtbar!). So könne heutige Literatur in einem Sinne weitergeführt werden, die auch in zeitgenössische Germanistenvorstellungen passe (ich so: Eben! Furchtbar!).
Nun lobte Feßmann: Es sei „erstaunlich gut gelungen, die Gedankenspur zu fassen von einer evolutionären Entwicklung in Verbindung mit Technik“. Für Gmünder ist Ödipus sekundär; der Text spiele mit Symmetrien, gerade bei den Sonnenblumen sei das hervorragend gelungen.
Winkels versuchte ein wenig Kritik (Unruhe und Murren im Publikum): Es sei ein guter Text, aber das sei es dann auch, er sei „auf überschaubare Weise gut gelungen“. Während Kastberger lobte, dass der sprachliche Stil nicht auf vergangene Zeiten zurückgreife, meinte Winkels, ohne Verweis auf Technik könne er durchaus auch vor 50 Jahren stattgefunden haben. Kurz schwenkte die Diskussion noch von der Protese auf die Bedeutung des väterlichen Gesichts für die Unversehrheit, dann war der erste Lesungstag um.