Journal Dienstag, 18. August 2015 – Das Elend vor der Haustür

Mittwoch, 19. August 2015 um 6:51

Und plötzlich ist es vor der eigenen Haustür, das Elend.

Morgens 10 vor 7 trage ich mein Fahrrad hinunter, Sportzeug im Rucksack auf dem Rücken – ich bin auf dem Weg zum Krafttraining vor der Arbeit. Schon auf den ersten Stufen im Treppenhaus riecht es ungut, nach ungewaschenem Mensch. Als ich am Fuß der Treppe aufblicke, sehe ich die Ursache: Auf der überdachten Fläche vor der Haustür hat eine Gruppe Männer auf Pappkartons übernachtet. Sie setzen sich gerade auf und schauen sich verschlafen um, einer steht und versucht in seine zerrissenen Stoffturnschuhe zu schlüpfen. Vor ihnen stehen zwei junge Polizisten in der altmodischem bayerischen Uniform.

Die verschlafenen, zerstrubbelten Männer sehen so aus wie die Männer aus Osteuropa, die jeden Tag in Grüppchen an den Straßenecken des Bahnhofsviertels ums Eck stehen, in der Hoffnung auf einen Tagesjob irgendwo, meist schwarz auf dem Bau. Wie die Männer, die ich tagsüber im nebengelegenen Park sehe, in Gruppen auf dem Gras sitzend, manchmal singt einer von ihnen ein orientalisch klingendes Lied. Und jetzt sitzen sie vor meiner Tür, haben nicht mal einen Schlafsack, ich sehe auch kein sonstiges Gepäck.

Ich öffne die Haustür, wünsche einen guten Morgen, schiebe mein Fahrrad vorsichtig raus. Einer der Polizisten herrscht in die Gruppe, sie sollen mir Platz machen. Ich mache eine beschwichtigende Handbewegung: Nur nicht hudeln. Einer der Männer flucht halblaut auf Italienisch vor sich hin, der Polizist warnt ihn vor Beschimpfungen – so viel Italienisch verstehe er schon. Ich trage mein Fahrrad ganz hinaus und radle davon.

Das Ganze hat nicht mal eine Minute gedauert. Ratlos und verstört bin ich immer noch.

die Kaltmamsell

9 Kommentare zu „Journal Dienstag, 18. August 2015 – Das Elend vor der Haustür“

  1. Nina meint:

    Ja, hier in Berlin das Gleiche, viele Menschen in vielen Parks. Hier noch dazu ein total überforderter, inkompetenter Senat, der vor sich hinwurschtelt und es nicht schafft, die Menschen unterzubringen und mit Essen und medizinischer Betreuung zu versorgen. München macht um Vergleich eine ganz gute Figur was die schnelle und effektive Reaktion auf den Zuwachs an Neuankommenden angeht. Und die Leute hier haben Schusswunden, Schrappnell im Körper, schwerste Traumatisierungen etc. Hier schuften gerade Ehrenamtliche bis an den Rand der Erschöpfung und versorgen täglich mehr Ankommende. Es ist nicht mal nur mehr zum Haare raufen, man möchte sie sich in Büscheln ausreißen. Das einzig Gute an dieser Situation ist, dass sie die Ignoranz und Inkompetenz der politischen Verantwortlichen dieses sogenannten Asylsystems und den Bullshit, der hier v.a. in den letzten 20 Jahren getrieben wurde, schonungslos zur Schau stellt. Und zwar wirklich so, dass die Wähler es vor ihrer eigenen Haustür mitbekommen. Ich hoffe, dass genügend Leute in diesem Land eins und eins zusammenzählen können und nicht die Geflüchteten für diese Katastrophe verantwortlich machen, sondern die Politiker. Heribert Prantl hat vor zwei Tagen einen sehr klugen Kommentar dazu in der SZ geschrieben: “Grundrechte sind nicht aus Seife; sie werden nicht durch ihren Gebrauch abgenutzt. Die Würde des Menschen steht nicht unter dem Vorbehalt, “es sei denn, es sind zu viele Menschen”. Und die Probleme, die es in Fluchtländern gibt, verschwinden nicht dadurch, dass man diese Länder zu “sicheren Herkunftsländern” definiert; Probleme lassen sich nicht wegdefinieren.”

  2. Trulla meint:

    Das kann ich so gut nachvollziehen: ratlos und verstört zu sein. Das Gefühl zu haben, mit so einer als schrecklich, traurig, bedrückend empfundenen Situation überfordert zu sein. Irgendetwas tun wollen, aber nicht zu wissen was?

    Ich delegiere quasi eigene Verantwortung, indem ich mit regelmäßigen Geldbeiträgen Organisationen unterstütze, die sich um Menschenrechtsfragen, Flüchtlinge und bedürftige Kinder kümmern. Konkrete tätige Hilfe leiste ich aber aus egoistischen Motiven (Winterflucht in die Sonne) nicht mehr. Da will ich einerseits die überschaubare Anzahl an verbleibenden Jahren für mich nutzen, andererseits meldet sich da ein schlechtes Gewissen.

  3. maz meint:

    Wer hätte es gedacht, dass in meinem westfälischen Kaff mit relativ hohem Migrantenanteil und einem CDU Oberbürgermeister, der hohes Ansehen bei allen Bevölkerungsschichten genießt (hier war früher eine absolute SPD-Hochburg), es vorzüglich liefe.
    Als mehrere Aufnahmelager in den umgebenden Städten nicht mehr konnten, meldete sich meine Stadt freiwillig und widmete eine Versammlungshalle von heute auf morgen um und nahm auch diese Flüchtlinge auf.
    Es sind sehr viele Menschen in meiner Umgebung, die meisten ohne Migrationshintergrund, die helfen, wo sie können. Wir lamentieren nicht, wir packen an, wo wir können.
    Es ist eine arme Stadt. Aber anständige.
    Unglaubluch, dass ich einmal so was wie Stolz für meine gesichtslose Heimat empfinden würde!!!!

  4. Karin meint:

    Touché!

  5. elenor meint:

    Ratlos und verstört – ich frage mich, worüber genau? Dass die Flüchtlinge im Fernsehen real sind? Über den Abstraktionsgrad, mit dem Sie die Nachrichten vielleicht bisher wahrgenommen haben?

    “Das kann ich so gut nachvollziehen: ratlos und verstört zu sein. Das Gefühl zu haben, mit so einer als schrecklich, traurig, bedrückend empfundenen Situation überfordert zu sein. Irgendetwas tun wollen, aber nicht zu wissen was?”

    Ich schlage vor, beim nächsten Mal das Fahrrad kurz abzustellen, zurück in die Wohnung zu gehen, etwas zu Essen und Trinken zusammenzupacken, den Männern beim Hinausgehen zu geben und freundlich alles Gute zu wünschen. Das löst nicht die Flüchtlingskrise, verschafft ihnen aber ein Frühstück. Es ist Zeit, mit dem Abstrahieren aufzuhören.

  6. die Kaltmamsell meint:

    Dass ich das nicht gemacht habe, elenor, nicht dafür mit den Polizisten diskutiert, nicht mich in einer Minute aus den Tagesplänen herausreißen habe lassen, mich nicht in der einen Stunde vor der Arbeit mit völlig fremden Menschen befasst, das meinte ich mit verstört.
    (Ich bin überrascht, dass solch ein “Hätts’t halt was gemacht!”- Kommentar nicht schon viel früher kam. Selbst hatte ich ihn bereits im Sportstudio im Kopf.)
    Zumindest habe ich die nächstmöglichen Termine herausgesucht, wieder mal bei der Diakonia mit anzupacken.

  7. Orangerie meint:

    “Ich schlage vor, beim nächsten Mal das Fahrrad kurz abzustellen, zurück in die Wohnung zu gehen, etwas zu Essen und Trinken zusammenzupacken, den Männern beim Hinausgehen zu geben und freundlich alles Gute zu wünschen. Das löst nicht die Flüchtlingskrise, verschafft ihnen aber ein Frühstück. Es ist Zeit, mit dem Abstrahieren aufzuhören.”

    Das wäre sehr lehrreich… für Mme. Kaltmamsell… nächster Morgen nächstes Frühstück, vielleicht schon zu zehnt… Duschen wäre auch nett und angebracht…ein bißchen Wohnen auch…
    Das ist dann die Situation modellhaft in klein, die wir in Deutschland in groß haben.
    Willkommen in der Welt der Realität, die anders als die Welt der Worte ist!

  8. Nina meint:

    Sie haben ja alle Recht, dass man in dieser jetzigen Situation als Privatperson handeln kann/soll/muss. Und dennoch sehe ich es als absolutes Versagen der Politik, dass es dazu überhaupt kommt. Hier werden derzeit permanent die im Grundgesetz festgeschriebenen Grundrechte und die in der UN Resolution 217 A(III) verankerten Menschenrechte missachtet. Auch Hilfsorganisationen nehmen ihren Auftrag nicht ausreichend wahr. Das kann man durch individuelles Ehreamt nicht auffangen und ich halte das auch auf Dauer für gefährlich, weil es den Staat aus seiner humanitären Verantwortung entlässt. Ich stehe momentan auch mehrmals in der Woche vor dem Berliner LaGeSo und packe mit an, weil ich es nicht aushalte, wie die Zustände sind. Und dennoch finde ich, man darf sich damit nicht abfinden und muss sehr laut darauf aufmerksam machen, dass die deutsche(n) Regierungen(n) (egal auf welcher Ebene), ihren Verpflichtungen nicht nachkommen.

  9. Micha meint:

    Nur ohne dass wir alle zusammenrücken werden und von unseren Wohlstand etwas abgeben, wird es wohl nicht gehen. 2 Millionen Libanesen leben im Libanon. 1 Million Flüchtlinge aus Syrien hat der Libanon bereits aufgenommen. Das sind kulturumwälzende Prozesse. Aber nie darf man vergessen, wie schnell die Verhältnisse sich drehen können und auch Deutsche, Franzosen, Italiener… zu Flüchtlingen werden können. *Ratlos und verstörend* empfinde ich die aktuelle Geschichte in Europa und auf großen Teilen vom dem Rest der Welt.

Sie möchten gerne einen Kommentar hinterlassen, scheuen aber die Mühe einer Formulierung? Dann nutzen Sie doch den KOMMENTAROMAT! Ein Klick auf einen der Buttons unten trägt automatisch die gewählte Reaktion in das Kommentarfeld ein, Sternchen darüber und darunter kennzeichnen den Text als KOMMENTAROMAT-generiert. Sie müssen nur noch die Pflichtfelder "Name" und "E-Mail" ausfüllen und den Kommentar abschicken.