Journal Dienstag, 1. September 2015 – Geflohene am Hauptbahnhof / heimatliche Weine
Mittwoch, 2. September 2015 um 10:23Im allerletzten Sommermorgen radelte ich zum Sportstudio – das erstaunlich leer war. Ich befürchtete bereits, ich könnte als einzige zum Langhanteltraining antreten, doch es kamen dann doch vier Frauen zusammen.
Allerdings verweigerte ich mich dem Rat des Vorturners, fürs Bankdrücken mehr Gewicht aufzuladen. So sehr ich mich geschmeichelt fühle, wenn er mich als “Viech” bezeichnet: Ich lasse meinen Körper nicht “faule Sau” heißen.
Das hatte er natürlich nicht an mich persönlich gerichtet. Doch er versuchte die kleine Gruppe zu höheren Leistungen zu animieren, indem er behauptete, der Körper an sich sei “eine faule Sau”, deren Grenzen man immer überschreiten müsse. Heftiger Widerspruch: Wenn er seinen eigenen Körper so empfindet, ist das seine Sache, das mag mit Berufssportlertum einher gehen. Mein Amateurinnenkörper hingegen ist fleißig, stark und ein Wunder; er ermöglicht mir so viel Spaß durch sportliche Bewegung – ganz abgesehen von scheinbar Alltäglichem wie Gehen, Steigen, Tragen. Ich setze mich um meines Bewegungsspaßes Willen oft genug über seine Grenzen hinweg und bin eher geneigt, ihn dafür um Vergebung zu bitten als ihn auch noch als faul zu beschimpfen.
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Beim Verlassen des Sportstudios sah ich, dass die Arnulfstraße an der Nordseite des Hauptbahnhofs gesperrt war: Lange Schlangen von Menschen wurden von Polizei und mit Absperrbändern zum Starnberger Flügelbahnhof zur Registrierung geleitet, es war ein weiterer Zug mit Geflohenen angekommen. Das blieb auch das Thema des Tages:
Die Münchner tz berichtete per Live-Ticker, die Süddeutsche Zeitung schrieb eine Reportage “Teddybären zur Begrüßung”. Den ganzen Tag wurden unter anderem über Twitter Helfende und Hilfe koordiniert, auch die Münchner Polizei nutzte das Medium, hunderte Münchnerinnen und Münchner packten mit an.
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In Island überholt die Bevölkerung ihre zögerliche Regierung:
“10,000 Icelanders offer to house Syrian refugees after author’s call”.
After the Icelandic government announced last month that it would only accept 50 humanitarian refugees from Syria, Bryndis Bjorgvinsdottir encouraged fellow citizens to speak out in favour of those in need of asylum. In the space of 24 hours, 10,000 Icelanders – the country’s population is 300,000 – took to Facebook to offer up their homes and urge their government to do more.
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Fast auf die Minute wie angekündigt wechselte das Wetter: Um 16 Uhr zogen Wolken auf, wurden über die nächste Stunde immer dunkler, kurz vor sechs radelte ich in den ersten Regentropfen nach Hause. Für meine Abendverabredung warf ich mir bereits den Regenumhang um, wurde im immer heftigeren Regen aber doch recht nass.
Mein Ziel war das Red Hot in Schwabing: Das deutsche Weininstitut gastierte mit seiner Veranstaltungsreihe “Geschmackssache Heimat” in München, und da Stevan Paul begeistert vom Hamburger Termin berichtet hatte, wollte ich da hin.
Bereits der Begrüßungssekt war ein Knüller – und das sage ich als Bubbly-Legastenikerin. Leider sind normalerweise Köstlichkeiten auf diesem Gebiet an mich verschwendet, weil ich kaum Unterschiede schmecke. Der hier aber schmeckte mir ganz ausgezeichnet (und ich hätte nie eine Rieslingtraube dahinter vermutet):
Auch der Bechtheimer Silvaner vom Weingut Weinreich (kein Deep Link möglich weil Flash-Hölle) aus Rheinhessen überraschte mich: Silvaner kannte ich vorher eher aus dem Fränkischen, und da war er nie derart pferdefurzig und mineralisch wie das, was ich gestern im Glas hatte.
Gar nicht zurecht kam ich mit dem nächsten Wein: Ich zolle gerne sportliche Anerkennung, dass man einen Sauvignon Blanc derart unerkennbar machen kann, aber der Sauvignon Blanc vom Pfälzer Weingut Bietighöfer war mir dann doch zu unharmonisch rass und sauer. Meine kundige Begleitung plädierte auf Milde, weil sich der Wein sicher in den nächsten Jahren noch positv entwickeln werde – auch der Winzer hatte das angekündigt.
Umso erfreulicher ging es weiter: Obwohl ich derzeit eine kleine Vorliebenpause bei Rieslingen mache, genoss ich den Monzinger Halenberg von Emrich Schönleber, Nahe (kein Deep Link möglich), sehr: Frisch und blumig, kühl und klar.
Zu essen gab es mittlerweile eine große Portion Rote Beete mit Orange und Mangodressing, zum Riesling Rippchen mit Cole Slaw, Kartoffelpü und Sommergemüse.
Gestern lernte ich zudem Frühburgunder kennen – und was für eine Bekanntschaft! Hellere, kühlere Rotweine finde ich seit einiger Zeit ohnehin sehr interessant, und dieser Frühburgunder von der Ahr und von Peter Kriechel schoss sofort auf die Favoritenliste mit seiner leichten Vanille und dem nassen Moos.
Zum Abschluss dann noch ein Spätburgunder, der ein ganzes Orchester auffuhr (und mich nach dem kleinen leichten Frühburgunder ein wenig überforderte): ein 2011er von Bernhard Huber aus Baden.
Sehr schön fand ich die Ausführungen von Sommelier Justin Leone, auch die der beiden Winzer Marc Weinreich und Stefan Bietighöfer.
Heimradeln in traurigem Dauerregen. “Der Bauer freut sich.”
Nachtrag: Bei Anke Gröner gibt’s mehr Details zum Abend mit Wein.
die Kaltmamsell2 Kommentare zu „Journal Dienstag, 1. September 2015 – Geflohene am Hauptbahnhof / heimatliche Weine“
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3. September 2015 um 19:53
Wieder einmal ein formidables Potpourri aus deinem Alltag, unser Familientisch hat sich amüsiert, aber auch diskutiert.
19. September 2015 um 12:00
Ich werde mich beim Weinkonsum in nächster Zeit darauf konzentrieren, welchem Tropfen ich das kaltmamsellsche Prädikat “pferdefurzig” verleihen kann ;-)
Schade, dass “Geschmackssache Heimat” (bisher?) nur in Großstädten gastiert, aber es handelt sich ja nicht zuletzt um eine Marketing-Veranstaltung für deutsche Weine (Deutsches Weininstitut), da erreicht man in Städten natürlich mehr und unterschiedlichere Leute. Ich denke, dass diese Verkostungen ruck-zuck ausgebucht sind …
Was Sie und anke groener berichten klingt jedenfalls viel(versprechender und) interessanter als die entweder etwas rustikalen (das eine Extrem) oder eher affektierten (anderes Extrem) Weinproben, die ich aus meiner (Weinbau-)Gegend kenne.
Und jetzt hoffe ich auf ein Ende des Regens (von dem wir während des Sommers etwas mehr hätten gebrauchen können), da unsere Trauben dringend runter müssen :-)