Journal Freitag, 27. November 2015 – Kindheitserinnerung
Samstag, 28. November 2015 um 16:24Schon auf der Braunschweig-Zugfahrt hatte ich einen Text von Christiane Frohmann gelesen:
“Warum habe ich als Kind meinen Eltern nichts von meiner Todesangst verraten?”
Ich fand es eine ausgezeichnete Idee, dass sie als Mutter ihre Kinder deshalb schon früh nach schlimmen Ängsten fragte – und damit einen Anlass schuf darüber zu sprechen. Denn ich bin sicher, dass Kindern, gerade kleinen, Verbalisierung nicht automatisch nahe liegt, gerade wenn es um sowas Diffuses wie Gefühle geht.
Und dann kramte ich nach Erinnerungen an meine eigenen kindlichen Ängste. Da gab es im Vorschulalter zweimal Phasen mit bösen Albträumen: Einmal nachdem mein polnischer Opa, der einen Arm im Krieg gelassen hatte (so nannte man das damals gerne), mir die Prothese gezeigt hatte, die er nie trug weil sie ihn drückte. Da er starb, als ich drei war, muss ich sehr klein gewesen sein. Ich weiß nicht, was mich daran so ängstigte, aber an die nächtlichen Schrecken glaube ich mich auch über die Erzählungen meiner Mutter davon zu erinnern. Die andere Phase begann, nachdem meine Eltern mich zu einem Besuch des medizinhistorischen Museums in Ingolstadt mitgenommen hatten: Ich albträumte noch lange von Skeletten und menschlichen Gliedmaßen in Gläsern.
Doch wach? Wach, so wurde mir im Zug schlagartig klar, wach fürchtete ich mich am ehesten vor meinen Eltern. Ich bestand doch nur aus Heimlichkeiten und schlechtem Gewissen, weil ich ständig gegen die zahllosen Ver- und Gebote verstieß: Nicht lernte oder Hausaufgaben machte, sondern heimlich las. Marmelade direkt aus dem Glas naschte, statt Diät zu halten und endlich abzunehmen. Sobald die Eltern aus dem Haus waren, verbotenerweise den Fernseher anschaltete (verboten weil überhaupt oder weil ich mal wieder totales Fernsehverbot hatte, meist wegen angeblich schlechter Noten) – und lernte, ihn rechtzeitig vor der Rückkehr der Eltern auszuschalten, damit er nicht noch warm war, wenn sie heimkamen, und mich verriet. Später auch in Abwesenheit der Eltern im Stehen am Regal Bücher las, die mir meine Mutter wegen “dafür bist du noch zu jung” verboten hatte, zum Beispiel Francoise Sagan.
Zwar war meine Mutter auch durchaus die ultimative Beschützerinstanz. Doch wenn mir etwas wirklich Schlimmes zugestoßen wäre, ein sexueller Missbrauch zum Beispiel – ich zweifle stark, dass ich mich ihr anvertraut hätte.
Andererseits würde meine Mutter das alles oben wahrscheinlich wieder damit kommentierten, dass ich mir das nur nachträglich einbilde.
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