Ausführliche Tagesschilderung, weil Frau Brüllen wissen möchte: “Was machst Du eigentlich den ganzen Tag?”
Es war der Tag der Aussetzer.
Nach einer Nacht mit mehrstündiger Schlafpause ab halb vier war ich bei Weckerklingeln um sieben ziemlich gerädert. Erst um sieben, weil ich ja noch Urlaub hatte, den letzten Tag. Und Urlaub heißt Sport, der an einem Arbeitstag nicht möglich ist. Gestern sollte das eine vormittägliche Stunde “Hot Body” (es tut mir leid) im Sportstudio am Ostbahnhof sein. Bei Sonnenaufgang hatte es noch geregnet, doch nach Milchkaffee und Bloggen sah es trocken aus. Zähneputzen und Katzenwäsche, Teile meiner Sportkleidung anziehen (Sport-BH, Sport-Top, Sportsocken) sowie Jeans, T-Shirt, Pulli, Janker, Halstuch, Leuchtweste, Mütze, wattierte Handschuhe. Ich steckte den Rucksack mit Sportsachen in den Fahrradkorb (wenn ich ihn auf längeren Radlstrecken dem Rücken trage, schwitze ich drunter zu sehr) und radelte los.
Als ich nach einer knappen halben Stunde am Sportstudio eintraf und mein Fahrrad absperren wollte, stellte ich fest, dass ich meinen Schlüsselbund vergessen hatte (Herr Kaltmamsell hatte mir die Wohnungstür aufgehalten und hinter mir geschlossen). Meine Sportpläne wollte ich nicht streichen, also bat ich an der Rezeption des Sportstudios um ein zweites Vorhängeschloss (beim Einchecken bekommt man eines für den Spind in der Umkleide). Das hängte ich in die Speichen meines Fahrrads.
Auf dem Weg von der Umkleide zum Aufwärmen auf dem Crosstrainer erhielt ich Einblick in ein Paralleluniversum neben meiner Filterblase. Ich hörte, wie eine junge Frau im Gespräch mit der Thekenfrau sehr ernsthaft und überzeugt sagte: “Ein Mann muss alles tun, um eine Frau zu erobern, wirklich alles. So MUSS es sein.” Ich erstarrte und sorgte dafür, dass sie meinen entgeisterten Blick sah. Auf dem Crosstrainer ärgerte ich mich dann über mich: Das hatte gar nichts gebracht, ich hätte entweder eine richtige Diskussion initiieren müssen oder gar nicht reagieren. Doch gerade in Verbindungen mit den Übergriffen am Kölner Bahnhof in der Silvesternacht verdeutlicht die Steinzeit-Äußerung der jungen Frau eine Kultur, in der davon ausgegangen wird, dass Frauen nunmal Widerstand leisten und sich entziehen, und dass es an Männern ist, diese Widerstände zu ignorieren, sich über sie hinweg zu setzen, zu “erobern”. Wie soll man bitte auf diese Weise zu einer Partnerschaft auf Augenhöhe oder auch nur zu respektvollem Umgang kommen?
Ich hatte mich für das Krafttraining namens “Hot Body” (Entschuldigung) entschieden, weil es als Langhanteltraining beschrieben war und ich etwas ähnliches wie mein gewohntes “Hot Iron” erwartete. Das stellte sich als teilweiser, aber entscheidender Irrtum heraus: Zwar wurde mit Langhanteln in einem festen Ablauf trainiert (gestern laut Vorturnerin ein neuer Ablauf), jedoch nahezu ohne Anweisungen (wie muss die Übung ausgeführt werden, um den gewünschten Trainingseffekt zu erzielen) oder Informationen (welcher Muskel wird als nächstes trainiert), ohne Rücksicht auf Rückenverletzungen (hektischer Übungsablauf sowie ungestütztes Heranziehen und Umwuchten schwerer Gewichte). Ich war ständig unsicher, wie viel Gewicht ich idealerweise auflud, weil ich ja nie wusste, welche Übung nun kommen würde. Also dachte ich: Ich bin ja fortgeschritten, und der Muskel soll ermüdet werden, also immer nur drauf damit, Pause kann ich ja immer noch machen (Dosengelächter einsetzen). Ich werde heute vor lauter Muskelkater den Arm nicht zum Lidstrich heben können.
Gleichzeitig waren die wenigen Anweisungen der Vorturnerin oft den in “Hot Iron” gelernten komplett entgegen gesetzt, was mich weiter verunsicherte.
Anschließend noch eine Weile auf dem Crosstrainer gestrampelt, um meinen Bewegungsdrang auszuleben.
Unter der Dusche fiel mir ein weiterer Aussetzer ein: Ich hatte zwar das zweite Vorhängeschloss an den Speichen meines Fahrrads befestigt, aber den Schlüssel nicht abgezogen. In völliger Verblödung hatte ich sogar noch kurz gestutzt, ob das Gebämsel mit Nummer und Klipp (damit man den Schlüssel beim Sport irgendwo befestigen kann) nicht sehr auffällig war. In Hochgeschwindigkeit trocknete ich mich ab und zog mich an, warf meine Sachen in den Rucksack und stürmte hinunter zu meinem Fahrrad, im Kopf die Gedankenschleife: “Hoffentlich sind Fahrraddiebe genauso blöd wie ich.”
Waren sie, Schloss und Gebämsel hingen noch in den Speichen.
Ohne Schlüssel musste ich die für den Heimweg geplanten Einkäufe verschieben, ich radelte direkt nach Hause.
Dort schob weiterhin Herr Kaltmamsell Wache: Für den gestrigen Dienstag war die DHL-Anlieferung eines Pakets mit israelischem Wein und Obst angekündigt, das ich bei einem erprobten Online-Händler bestellt hatte. Ich übernahm die Wache, frühstückte ein großes Tomatenbrot, eine Mango und einen Granatapfel, während Herr Kaltmamsell auf eine Einkaufsrunde ging. Nach seiner Rückkehr zog wieder ich los: Zunächst suche ich beim Saturn nach einer Gamer-Mouse für Neffe 1 – seine Angaben auf dem weihnachtlichen Wunschzettel waren nicht präzise genug gewesen, ich hatte die falsche besorgt, jetzt konnte ich mit exakter Modellbezeichnung und -nummer suchen. Resultat der Recherche des freundlichen Bedienerichs: Derzeit nicht lieferbar. Außerdem brauchte ich kandierte Früchte zur Verzierung des Roscón des Reyes, ich ging zum legendären Spanischen Früchtehaus. Dort bekam ich, was ich wollte, wurde außerdem umgehend in eine Diskussion unter den Angestellten über die Verträglichkeit verschiedener Champagnersorten gezogen.
Daheim machte ich mich an die Zubereitung von Quitten in Ingwer-Earl-Grey-Sirup nach Nicky Stich, diesmal habe ich meine Version aufgeschrieben.
Während dessen kam die Lieferung: Drei Flaschen israelischer Negev Pinot Noir, drei Flaschen Mount Hermon White, außerdem eine “Kibbutzkiste”. Sie bestand aus Mineolas, Clementinen, weißen und pinken Grapefruits, Sweeties (Grapefruit-förmig), einem mächtigen Granatapfel, einer Avocado, einer Pomelo, Kumquats, Datteln und gerösteten Erdnüssen in Schale.
Nach Reinigung der Küche Zeitung gelesen, Herrn Kaltmamsell eröffnet, dass ich sehr keine Lust hatte, abends ins Theater zu gehen und meine Karte verfallen lassen würde. Ich fühlte mich ohnehin in den gesamten Weihnachtsferien ungemein gehetzt, habe nicht den Eindruck, dass ich mich erholt habe – der Theaterbesuch wäre eine weitere abzuarbeitende Pflicht gewesen. Ein bisschen entspannte mich die Absage sogar.
Ich telefonierte mit meiner Mutter zu Details unseres Dreikönigsbesuchs (ich würde den oben genannten Roscón de Reyes mitbringen, außerdem ein Glas Quitten in Sirup) und las Internet, bis es Zeit war, den Tisch fürs Abendbrot zu decken: Herr Kaltmamsell durfte zurück in seine maskuline Rolle des Bekochers und hatte uns Tom Kha Gai gemacht. KEIN Wein dazu – ich sorge mich mal wieder ein bisschen, weil ich in den vergangenen Wochen praktisch jeden Tag Alkohol getrunken habe. Als Nachtisch Reste von Früchtebrot und Stollen, außerdem Schokolade.
In Fernsehnachrichten und im Web informierte ich mich über die Ermittlungen zur Silvesternacht am Kölner Hauptbahnhof, erfuhr unter anderem, dass viele Opfer von Diebstählen erst jetzt auch die damit verbundenen sexuelle Übergriffe anzeigten – ein trauriger Beleg, wie viel höher die Hemmschwelle dafür ist, wie viel näher Frauen das Abtun (“nicht so schlimm”) oder die Scham über mögliche eigene Mitschuld ist. Rassistische Schlussfolgerungen aus dem Umstand, dass die Opfer ein “nordafrikanisches Aussehen” der Angreifer geschildert hatten, gab es in meinem Web nicht, lediglich Reaktionen darauf.
Im Bett Richard Yates, Cold Spring Habor angefangen.