Mary Beard, SPQR. A History of Ancient Rome
Sonntag, 3. Januar 2016Das Jahr fing gleich mal mit einem Lektüre-Highlight an. Mit 61 Jahren ist Mary Beard, Professorin für Altphilologie an der Universität Cambridge, wahrscheinlich auf dem Höhepunkt ihres Forscherinnenlebens (während Naturwissenschaftlerinnen und Naturwissenschaftler statistisch eher vor dem 35. Lebensjahr zu nobelpreisverdächtigen Forschungsergebnissen kommen, werden Geisteswissenschaftlerinnen tendenziell über ihr Forschungsleben hinweg immer besser). Schöpfend aus einem ungeheuren Wissensfundus hat Beard jetzt ein Buch über die ersten tausend Jahre des römischen Reichs geschrieben.1
Den Endpunkt des Römischen Reiches, über das sie schreibt, setzt sie, als Caracalla alle Bewohner römischen Territoriums zu römischen Bürgern machte. Danach, so führt sie am Ende kurz aus, war alles anders.
Mary Beard benennt und hinterfragt die Bilder, die wir vom Römischen Reich im Kopf haben – ich fühlte mich so treffend bei meinem wischiwaschi Viertelbildungshintergrund abgeholt, als hätte Beard das Buch genau für mich geschrieben. Inklusive den paar Brocken Latein, die mir noch geblieben sind: Selten, aber doch zitiert sie lateinisch.
Beard beginnt bei Ciceros bekannter Rede im Senat gegen Catilina: Zum einen um sie uns gleich wieder wegzunehmen, denn die Motive und Hintergründe, die man mir seinerzeit in der Schule beigebracht hat, sind anscheinend genauso wenig haltbar wie die berühmten Gemälde der Szene. Beard bietet erheblich wahrscheinlichere Erklärungen. Zum anderen gibt es bis Augustinus nun mal niemanden in der Geschichte, von dem wir so viel wissen wie über Cicero, vor allem anhand seiner eigenen Schriften (Briefe, niedergeschriebene Reden, Bücher) sowie anhand von Schriftzeugnissen über ihn. Cicero ist dann auch der rote Faden, auf den sie sich immer wieder bezieht, angefangen vom Gründungsmythos Roms und wie Cicero ihn verwendet.
Zum Beispiel wissen wir aus seinen Aufzeichnungen auch, wie viel Cicero für sein Haus am Palatin gezahlt hat. Hier weist Beard aber auf die praktische Lücke hin, die weder sie noch andere Forscherinnen bislang füllen konnten: Wie funktionierte ganz konkret der Zahlungsvorgang?
So wie hier kommt sie immer wieder von gesicherten Erkenntnissen zu blankem Unwissen oder zu einer sehr wackligen Faktenlage und wieder zurück.
Stringent und lesefreundlich strukturiert, hinterfragt Beard praktisch alles, was wir aus populären Darstellungen über das römische Imperium zu wissen glauben – selbst wenn diese auf römischen Quellen basieren. Zum Beispiel die bunten Luxus- und Grausamkeitsgeschichten über die Kaiser, die fast alle nach deren Ermordung aufgeschrieben wurden: Mary Beard untersucht, ob da vielleicht jemand nachvollziehbare Vorteile hatte, wenn er sie so schilderte und nicht anders. Manche besonders saftige Details entlarvt sie als schlichte Fehlübersetzungen.
Immer wieder thematisiert sie die Bevölkerungsschichten, über die es keine zeitgenössischen schriftlichen Quellen gibt: die 99 Prozent einfache Leute. Hier greift sie auf Erkenntnisse aus archäologischen Funden zurück, für die frühe Kaiserzeit vor allem aus Pompeii und Herculaneum. Dazu kommen als Quellen ab dieser Zeit auch Grabinschriften, die oft das Leben der Verstorbenen skizzieren. So diskutiert Beard den Alltag von Kindern oder geht Hinweisen nach, von welcher Durchschnittsbildung der römischen Bevölkerung wir ausgehen können.
Das Buch profitiert enorm davon, dass Beard auf Jahrzehnte eigener Forschung zurückgreifen kann: Über Pompeii hat sie ein eigenes Buch geschrieben, ihre jüngste wissenschaftliche Veröffentlichung behandelt Komik in der Antike – so zitiert sie auch in SPQR an passender Stelle einige ziemlich gute Witze. Beard schlägt immer wieder den Bogen von großer Politk (unter anderem die sehr unordentliche Thronfolge in der Kaiserzeit) zu lebenswichtigen Alltagsfragen (wie funktionierte die Landwirtschaft?).
Natürlich enthält das Buch auch viele, viele Abschnitte, von denen ich noch nie etwas gehört hatte (oder im Schulunterricht verschnarcht), zum Beispiel über den Social War, also den Bundesgenossenkrieg im 1. Jahrhundert v.d.Z. (Mary Beard verwendet die religionsneutralen Abkürzungen BCE und CE): Hier geht Beard der offensichtlich immer noch ungeklärten Frage nach, was die Aufständischen eigentlich wollten.
An anderer Stelle erklärt sie für mich erstmals nachvollziehbar, warum das Christentum für das römische Reich etwas wirklich Neues und Bedrohliches war (auch über die Rolle von Religion in der Antike gibt es einige Veröffentlichungen von ihr).
Auf Fußnoten verzichtet Beard, daher konnte ich das Buch schnell weglesen (ich tendiere nämlich dazu, Fußnoten nachzulesen). Sie nennt im Text durchaus Quellen, aber nicht für alle indirekten Zitate oder für alle Thesen, die sie abwägt. Auch das ermöglicht flüssigeres Lesen, weil nicht schon wieder ein Name auftaucht. Genauere Quellenangaben (allerdings nicht bis runter auf die Seitenzahl) finden sich im Kapitel “Further Reading”: Dort nennt sie durchaus auch Werke, die ihren Schlussfolgerungen widersprechen oder die alternative Interpretationen anbieten.
Rund wird SPQR durch zahlreiche Illustrationen, der Anhang liefert eine ausführliche Zeittafel und einen Index.
Eine ganz große Leseempfehlung. Wäre ein klasse Weihnachtsgeschenk gewesen.
- In den Acknowledgements schreibt Beard dann auch: “SPQR is the work of about fifty years.” [↩]