Journal Samstag, 20. Februar 2016 – Schneeregen und Energieschub
Sonntag, 21. Februar 2016 um 8:30So ziemlich als Erstes nach dem morgendlichen Bloggen erfahren, dass Umberto Eco gestorben ist. Herr Kaltmamsell hatte eh vor, nach langem mal wieder Der Name der Rose mit einer Schulklasse zu lesen (zwar kann ein Deutschlehrer daran eine Menge lehren, von Erzählhaltung über Rahmengeschichte bis Mittelalter, doch ist das halt ein sehr dickes Buch). Zudem hatte ich wieder ein Bild vor Augen, das ich eigentlich schon immer mit dem Roman verbinde:
Die untere Turnhalle meines Gymnasiums ca. 1985. Auf der Turnbank an der Umkleidenseite sitzen die vom Sport befreiten Schülerinnen, darunter die Bieringer Jutta1. Sie ist völlig vertieft in die Taschenbuchausgabe von Der Name der Rose, die sie von mir ausgeliehen hat. Sie hält das Buch mit einer Hand und hat das bereits gelesene Drittel hinter den Rest UMGEKLAPPT – für mich damals ein Sakrileg größter Verdammnis. Ich kam aus einem nahezu buchlosen Haus, hatte mich von Kindesaugen an durch Büchereien gelesen, die wenigen Bücher, die ich selbst besaß, waren mir überaus kostbar. Das mag der Moment gewesen sein, in dem ich beschloss, meine Bücher nicht mehr zu verleihen.
Vor allem aber erinnert mich dieses Bild daran, dass Der Name der Rose unter uns als Schmöker gehandelt wurde, als Lesegenuss wie die kurz davor herumgereichten Dornenvögel. Bei der Übergabe wurde durchaus mal erwähnt, dass sie ersten hundert Seiten sich etwas ziehen könnten, aber wir Vielleserinnen, die ohne Unterscheidung alles an guten Geschichten verschlangen, wären eh nicht auf die Idee gekommen, ein einmal begonnenes Buch nicht zu Ende zu lesen, bloß weil nicht schon die ersten Seiten packend waren.
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Ich radelte durch den kalten, grauen Tag zum Schwimmen ins Olympiabad. Meine Bahnen schwammen sich angenehm, doch als mich der Rückenschwimmer auf der Nebenbahn mit seinen gelben Plastikhandflossen zum dritten Mal schmerzhaft kratzte (1. Mal Hand, 2. Mal Oberschenkel, 3. Mal Schulter), schrie ich anscheinend selbst für ihn hörbar auf. Der Blick, den er sich anschließend einfing, war wohl selbst hinter meiner Schwimmbrille eindeutig: Er legte dieses Spielzeug ab. (Ich hatte in diesem Moment ernsthaft vor, ihn beim nächsten Kratzer zu hauen.)
Die Wettervorhersage hatte “deutlich steigende Temperaturen” angekündigt. Umso erstaunter und wütender war ich, dass mich beim Heimradeln Schneeregen und Schnee ziemlich durchnässten.
Zu meiner nachmittäglichen Verabredung in der Maxvorstadt nahm ich also die U-Bahn – ab Marienplatz eingepfercht zwischen Fußballfans.
Doch die Verabredung war glorios: Ich hatte schon befürchtet, dass ich den Kontakt zu dieser Frau aus einem früheren Berufsleben verschusselt haben könnte (sie hat kein Internetleben). Doch nun erfuhr ich von Überraschungshochzeit (die Gäste ahnten nichts), beruflichen Erfolgen, einem Leben in Fülle, mit Zielen und Leidenschaft – ein echter Energieschub.
Eine Runde Lebensmitteleinkäufe, Krautsalat zum sonntäglichen Schweinsbraten angesetzt (und damit ich ihn als weiteres bayrisches Grundgericht verbloggen kann). Zum Abendessen servierte Herr Kaltmamsell ein Graupotto mit Tomatensugo und Feta (Graupen und Sugo aus Ernteanteil).
Ich ließ beim Internetlesen den Fernseher laufen: Die Reifeprüfung hatte ich erst einmal gesehen und das vor vielen Jahren. Den Soundtrack kannte ich in jeder Note, doch erst diesmal fiel mir auf, dass der damals 30jährige Dustin Hoffman als Typ eigentlich eine komplette Fehlbesetzung war: Highschool-Sportskanone und verwöhnten Müßiggänger nehme ich ihm nicht ab.
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Ein Grund, das Techniktagebuch (und den Redaktionschat) zu lieben: Während man vordergründig über Technik liest, liest man hintergründig über Leben und Alltag.
“Ich bin ein Idiot, werde aber eventuell nicht daran sterben”.
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Eine weitere ruhige, kluge Stimme gegen das derzeitige Gebrüll da draußen: Margarete Stokowski (die auf Twitter immer wieder weitergibt, welche Reaktionen sie allein schon wegen ihrer polnischen Vorfahren erntet).
“Oben und unten: Pöbeln, aber präzise
Plädoyer für eine differenzierte Schmähkritik”.
Nun ist es aber gar nicht dumm, die Ruinen von Palmyra wegzusprengen, Mexikaner pauschal als drogenhandelnde Vergewaltiger zu bezeichnen oder Flüchtlingen zu wünschen, sie sollten im Meer ertrinken oder an der Grenze erschossen werden. Es ist falsch und böse und hässlich, aber nicht dumm: Wer das tut, ist kein Idiot, sondern ein schlechter Mensch.
(…)
Warum finden viele Dunja Hayali und Anja Reschke so cool, wenn sie sich über Hass äußern oder über Lügenpressevorwürfe? Weil die sich selbst und ihre Arbeit ernst nehmen – aber andere Menschen eben auch. Sie machen es sich nicht einfach. Sie geben zu, dass Dinge kompliziert sind, und machen trotzdem weiter.
- In Bayern werden Namen in der Reihenfolge Familienname Taufname genannt. [↩]
6 Kommentare zu „Journal Samstag, 20. Februar 2016 – Schneeregen und Energieschub“
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21. Februar 2016 um 8:53
Zur Reifeprüfung, Anne Bancroft war zur Zeit der Dreharbeiten 37 Jahre alt und spielt die “Mutter”. Ich mag den Film wegen der Musik und wegen Anne Bancroft, Dustin Hoffmann gibt (wie immer) Alles, aber gerade dieses total verkopfte Spiel macht ihn für mich zur totalen Fehlbesetzung für diese Rolle, dazu kommt sein Alter.
21. Februar 2016 um 10:07
Es fällt mir total schwer das Alter von Menschen auf historischen Aufnahmen richtig zu schätzen. Selbst bei Bildern meiner Eltern muss ich immer aus dem Zusammenahng errechnen, wie alt sie jeweils auf dem Bild sind. Deshalb ist es mir auch gleichgültig, wie alt ein Schauspieler zum Zeitpunkt der Aufnahme ist.
Meine kleine “Name der Rose”-Erinnerung: Ich habe das Buch wohl ungefähr 1989 oder 1990 gelesen. Danach waren wir auf Klassenfahrt nach Wien und sind auf dem Hinweg über Passau an der Donau entlang gefahren. Wir kamen an Kloster Melk vorbei, das ja als Herkunft von “Adson von Melk” genannt wird, dem Sidekick des Romans. Ich erwähnte dies im Vorbeifahren im Gespräch mit meinen Lehrern, die sich ehrlich erstaunt zeigten, dass ich das Buch damals nicht nur gelesen, sondern auch verstanden hatte.
21. Februar 2016 um 18:09
Bücher umklappen geht GAR NICHT, nie und zu keiner Zeit. Da stellen sich einem ja die Haare auf! Genauso wenig wie gebundene Bücher über die Spannung nach hinten dehnen …. arrrrgh!
Und diese Name Vorname Geschichte Bieringer Jutta, Müller Josef – daran gewöhne ich mich mein Leben lang nicht, auch wenn ich in Bayern sozialisiert wurde ….
22. Februar 2016 um 9:32
Nur für den Fall, liebe Kaltmamsell, dass der werte Mitbewohner auf der Suche nach dem italienischen Originalnamen seines schönen Neologismus sein sollte: ein gerstenbasiertes Risotto nennt sich im italienischen Orzotto.
22. Februar 2016 um 10:08
Mit italienischer Rollgerste ganz sicher, Marqueee, nicht aber mit oberbayrischen Körnern.
23. Februar 2016 um 20:14
Der tit. Herr Mitbewohner hat mir zu einem fetten Sekundenschaf verholfen:
Graupotto – iiichs! so´n grauer Pott tötet doch den heissesten Appetit! Haben Kaltmamsells wirklich keine besseren Kochtöpfe??