Das wird heute länglich. Gestern fand nämlich die Generalversammlung unseres Kartoffelkombinats statt und öffnete mir die Augen für ein paar grundlegende Irrtümer meinerseits.
Auf dieser Karte ist die Verteilung der Kartoffelkombinathaushalte über München sichtbar. Auffallend: In Gegenden wie Neuperlach und Hasenbergl sieht man keine.
Es war eine lange und fruchtbare Generalversammlung, an deren Ende wir den Vorstand und den Aufsichtsrat beauftragten, die Verhandlungen über den Kauf der Baumschule Würstle in Oberschweinbach in ausführlich und transparent dargelegter Weise voranzutreiben: Wir kaufen eine Gärtnerei, yay!
Davor war das Genossenschaftsjahr 2015 in Lagebericht des Vorstands und Bericht des Aufsichtsrats über die Bilanz dargelegt worden, Entlastung problemlos. Doch Vorstand Daniel Überall hatte auch über die Gemeinwohl-Ökonomie gesprochen, die sich das Kartoffelkombinat 2015 zertifizieren hat lassen.
Daniel erklärte erst mal grundsätzlich, dass eine Gemeinwohl-Ökonomie sich am Wohl aller orientiert, nicht am Profit.
Und da wurde mir das Hauptmanko der EU klar: Die Orientierung am Wohl aller erscheint mir langfristig die einzig vernünftige Ökonomie – sonst haben bald die Reichen immer mehr auf Kosten der Armen, die immer weniger haben. Und irgendwann derart nicht mehr davon leben können, dass sie bei den Reichen auf der Matte stehen. Oh, Moment…
Schaun wir uns doch mal die Ziele der EU laut Verfassung an:
Grundlegendes Ziel der Union ist es künftig, den Frieden, ihre Werte und das Wohlergehen ihrer Völker zu fördern.
Diese allgemeinen Ziele werden ergänzt durch eine Reihe besonderer Ziele:
- einen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts ohne Binnengrenzen;
- einen Binnenmarkt mit freiem und unverfälschtem Wettbewerb;
- die nachhaltige Entwicklung Europas auf der Grundlage eines ausgewogenen Wirtschaftswachstums und von Preisstabilität, eine in hohem Maße wettbewerbsfähige soziale Marktwirtschaft, die auf Vollbeschäftigung und sozialen Fortschritt abzielt, sowie ein hohes Maß an Umweltschutz und Verbesserung der Umweltqualität;
- die Förderung des wissenschaftlichen und technischen Fortschritts;
- die Bekämpfung von sozialer Ausgrenzung und von Diskriminierungen, die Förderung von sozialer Gerechtigkeit und von sozialem Schutz, die Gleichstellung von Frauen und Männern, die Solidarität zwischen den Generationen und den Schutz der Rechte des Kindes;
- die Förderung des wirtschaftlichen, sozialen und territorialen Zusammenhalts und die Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten.
Darüber hinaus wahrt die Union den Reichtum ihrer kulturellen und sprachlichen Vielfalt und sorgt für den Schutz und die Entwicklung des kulturellen Erbes Europas.
Tja: “Binnenmarkt mit freiem und unverfälschtem Wettbewerb” fördert tatsächlich per Definition die Großen und scheißt auf die kleinen Imker oder auf vom Metzger durchgeführte Hausschlachtungen.
Ich möchte also bitte gerne hiermit eine zukünftige EU, die das Gemeinwohl stärker gewichtet als den freien Wettbewerb. Dazu schlage ich vor, dass sich als Erstes die deutsche SPD das ins Wahlprogramm schreibt. (Damit würde sie sich ihre endlich guten Beziehungen zur deutschen Großindustrie zerstören? Lassen wir es doch drauf ankommen und schaun, wie schlimm das nach einem Wahlsieg wirklich ist.)
§
Mein Schmerz über die Brexit-Abstimmung der UKler hat sich gelegt. Es fanden keine Jubelfeiern statt, die gesamte Nation ist geschockt (BLOODY IDIOTS!). Schon bricht wieder meine grundsätzliche Anglophilie durch und die Leute tun mir leid (nicht die verursachenden Politiker!): Die EU drängt auf Konsequenzen, sie braucht jetzt dringend formelle Klarheit.
Hier eine böse, aber präzise Analyse der Propaganda-Mechanismen oberster Brexit-Befürworter:
“There are liars and then there’s Boris Johnson and Michael Gove”.
§
1988 war Spanien gerade mal zwei Jahre Mitglied der EU und ich 20-jährige Zeitungsvolontärin. Einen (scheißkalten) Frühlingsurlaub im nordkastilischen Heimatort meiner spanischen Großmutter nutzte ich dazu, meinen Jugendfreund und Landwirt Luis darüber zu interviewen, welche Auswirkungen die EU-Mitgliedschaft denn so auf ihn hat.
(Bild unbschnitten, weil jedes Detail dieser Szene im Esszimmer meiner Großmutter Information enthält – zumindest für mich.)
Ich erfuhr viel über Kooperativen und die Auswirkungen der Landflucht, die im spanischen Bürgerkrieg eingesetzt hatte und in deren Folge es in diesem Ort nur noch zwei bewirtschaftete Höfe gab. Und was die EU betrifft: Luis erzählt mir unter anderem, dass die Bestimmungen zu Schädlingsbekämpfungsmitteln für ihn völlig irrelevant seien – seine Felder lägen in dieser kargen Gegend so weit verstreut, dass sich Schädlinge eh nie ausbreiten könnten. Benachteiligt fühlte er sich aber durch die EU-standardisierten Weizenpreise: In dieser trockenen Gegend enthalte das Korn viel weniger Feuchtigkeit, seine Felder könnten gar nicht die hohe Ausbeute eines deutschen Weizenfelds ergeben. (Es wurde eine Reportage für die Wochenendausgabe daraus.)
§
Dazu dann auch dieser Artikel über die gestrigen Wahlen in Spanien – der erste, dessen Analyse ich wirklich nachvollziehen kann:
“Keine AfD weit und breit”.
Zwar führt auch Autor Jakob Strobel y Serra (Szenenapplaus für diesen wunderbar europäischen Namen) den fehlenden Nationalismus der Spanier erst mal auf die schlechten Erfahrungen mit der Franco-Diktatur zurück. Das ist die Erklärung, die ich in deutschen Medien bislang immer las – und mich fragte, warum die schlechten Erfahrungen mit nationalistischen Diktaturen in Deutschland und Russland keine ähnliche Immunität bewirkt haben. Doch Strobel y Serra führt endlich auch die Erklärung an, die mir als Erste einfällt:
Eine mindestens ebenso große Schutzwirkung hat ausgerechnet eines der bedrohlichsten, von Franco einst mit allem Furor bekämpften Phänomene der politischen Gegenwart Spaniens: die Zentrifugalkräfte des latenten Autonomismus und Separatismus vor allem in Katalonien und dem Baskenland.
Sie machen aus Spanien kein Land des Nationalismus, sondern der Regionalismen, auch wenn die Radikalsten unter Kataloniens Sezessionisten von einem „katalanischen Nationalismus“ schwadronieren. Spanien den Spaniern, Spanien zuerst: Solche Sätze fallen selten, weil sich jeder Spanier immer auch und mindestens ebenso stark als Katalane, Baske, Kastilier, Galicier, Andalusier oder Valencianer versteht. Und wie besingt man in einem derart vielstimmigen Chor das Vaterland? Am besten gar nicht, weil dabei nur Kakophonie herauskäme. Deswegen hat die spanische Nationalhymne als eine der wenigen weltweit keinen Text.
Was die Gelassenheit und Toleranz der Spanier angeht, die der Artikel zurecht lobt: Deren Kehrseite ist eine haarsträubende Passivität, die unter anderem bewirkte, dass die Franco-Diktatur erst durch den natürlichen Tod des betagten Diktators endete.
(Und dass die spanische Nationalhymne keinen offiziellen Text hat, führe ich ja eher darauf zurück, dass man sich – ¡me cago en la hostia! – auf keinen einigen kann.)
§
Beim Radeln zur Generalversammlung am Leonrodplatz ordentlich nass geworden. Danach nur noch Düsternis, aber kein Regen mehr. Kalt.