Journal Freitag, 22. Juli 2016 – Massenmord im fernen Daheim

Samstag, 23. Juli 2016 um 18:38

Eigentlich bestand der Tag aus einem ausführlichen Zufallsgespräch, einem ausführlichen Frühstück, einem ausführlichen Spaziergang und einem ausführlichen geplanten Gespräch.

Doch abends auf der Tramfahrt zurück ins Hotel erreichte mich die erste besorgte Nachfrage per SMS aus der Schweiz: Ein Freund schrieb, das Fernsehen berichte von einer Schießerei in München, ob es mir gut gehe? Ich recherchierte sofort nach dem Grund der Frage – und verbrachte, unterbrochen vom Abendbroteinkauf im Supermarkt, den Abend über Meldungen aus München. Im Olympiaeinkaufszentrum hatte jemand mehrere Menschen erschossen und war auf der Flucht, München stoppte den Öffentlichen Nahverkehr und forderte die Menschen auf, möglichst da zu bleiben, wo sie waren.

Sobald es die Möglichkeit gab, markierte ich mich bei Facebook als “safe” – was ganz offensichtlich (Likes) schnell registriert wurde. Herr Kaltmamsell meldete unsere Wohnung auf Twitter als #offeneTür, damit in der Innenstadt Gestrandete dort unterkommen konnten. Ich las zwischen Twitter und Techniktagebuchchat, blieb dann aber am Ticker der Süddeutschen Zeitung hängen: Die hatte mehrere Hand voll Personal vor Ort und fand die Balance zwischen Tempo und Verlässlichkeit. Gegen 23 Uhr machte ich mir klar, dass ich weder etwas tun konnte noch irgendetwas in nächster Zeit bestätigt werden würde und ging ins Bett.

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Bis dahin: Morgens verließ ich das Haus erst mal für einen Kaffee.

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Diesen Ort, den Antonplatz, erkannte bei Twitter eine langjährige Twitterfreundin, die gleich ums Eck wohnt: Sie stürzte umgehend aus dem Haus und fing mich ab. Sie begleitete mich bis zum Lokal, das ich mir fürs Frühstück ausgesucht hatte, zum Pasternak. Genug Zeit, einander auf den neuesten Stand des Lebens zu bringen.

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Da ich ja schon Kaffee gehabt hatte, trank ich zum Frühstück Kwas, den ich hier zu schätzen gelernt hatte.

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Ich ergötzte mich an den völlig distanzlosen Spatzen. Der im Bild hatte gerade das kleine Croissant aus meinem Brotkorb gezupft (und es dann fallen gelassen, ich konnte es mir wiederholen).

Nachmittags war ich in Charlottenburg verabredet. Da ich Zeit hatte und das Wetter perfekt sommerlich war, ging ich zwei Stunden zu Fuß – und entdeckte dabei unter anderem den Landwehrkanal (wo auch endlich PokémonGo funktionierte und ich ein paar von den Viechern fangen konnte).

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In Charlottenburg frischte ich dann eine sehr langjährige Bloggerinnenfreundschaft auf – um den Preis, dass wir uns mit Schmerzen trennten und unter dem Seufzer, dass wir einander dringend viel öfter sehen müssen.

Zurück ging ich wieder den Landwehrkanal entlang, bis ich dem Umstand ins Auge sehen musste, dass auch noch so bequeme Sandalen irgendwann scheuern und Blasen verursachen. Also ging ich zum nächstgelegenen S-Bahnhof (Tiergarten).

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Laurie Penny berichtet von der US-Präsidentschaftskandidatenwahl der Republikaner, hier besonders persönlich und gleichzeitg analytisch. Unter anderem, wie sie von einem rechtsradikalen Demagogen zu den Wichtigs der Szene mitgenommen wurde.
“I’m With The Banned”.

Geert Wilders is also a true believer. I am introduced to the euro-fascist and his dead-badger hair by a genial young Dutchman I met earlier on Tinder. He tells Wilders that I am a left wing journalist, and Wilders does not alter his tone of voice as he turns to me and starts vaguely explaining how the whole of France is about to be abolished and replaced with a giant Halal kebab.

Wilders is the most obviously disturbed member of the neo-right suicide squad in attendance. He cannot finish a sentence. His voice drifts, and he trails away, already out of the room. There is a dustbin fire behind the blank eyes of his human suit.

Wilders is a less polished, wholly charmless rendition of the neo-right demagogue character creation sheet that gave us Donald Trump and Boris Johnson. These people do not have personalities, they have haircuts. Ugly ones. And we have fallen through the looking glass in which they see themselves reflected as small gods.

Nachtrag 24.7.16: Bei Spiegel Online gibt es eine deutsche Übersetzung des Artikels.

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In der aktuellen Ausgabe der New York Review of Books kommt Zadie Smith mit einem Essay über Brexit und ihrer Erklärung des Wahlergebnisses zu Wort:
“Fences: A Brexit Diary”.

Sehr lang und ausführlich, absolut lesenswert. Smith führt zum Thema, indem sie über die Gegend Londons schreibt, in der sie aufgewachsen ist und in der sie vorübergehend ihre Kinder zur Schule schickt. Am Unterschied des Verhältnisses der Bevölkerungsschichten früher und heute zeigt sie auf, was seither schief gegangen ist. Und worin die Hybris der gebildeten Mittelschicht besteht, die vom Brexit-Ergebnis schockiert war.

“What have they done?” we said to each other, sometimes meaning the leaders, who we felt must have known what they were doing, and sometimes meaning the people, who, we implied, didn’t.

Now I’m tempted to think it was the other way around. Doing something, anything, was in some inchoate way the aim: the notable feature of neoliberalism is that it feels like you can do nothing to change it, but this vote offered up the rare prize of causing a chaotic rupture in a system that more usually steamrolls all in its path. But even this most optimistic leftist interpretation—that this was a violent, more or less considered reaction to austerity and the neoliberal economic meltdown that preceded it—cannot deny the casual racism that seems to have been unleashed alongside it, both by the campaign and by the vote itself.

(…)

Extreme inequality fractures communities, and after a while the cracks gape so wide the whole edifice comes tumbling down. In this process everybody has been losing for some time, but perhaps no one quite as much as the white working classes who really have nothing, not even the perceived moral elevation that comes with acknowledged trauma or recognized victimhood. The left is thoroughly ashamed of them. The right sees them only as a useful tool for its own personal ambitions. This inconvenient working-class revolution we are now witnessing has been accused of stupidity—I cursed it myself the day it happened—but the longer you look at it, you realize that in another sense it has the touch of genius, for it intuited the weaknesses of its enemies and effectively exploited them. The middle-class left so delights in being right! And so much of the disenfranchised working class has chosen to be flagrantly, shamelessly wrong.

(…)

While we loudly and rightly condemn the misguided racial attitudes that led to millions asking “them” to leave “us,” to get out of our jobs and public housing and hospitals and schools and country, we might also take a look at the last thirty years and ask ourselves what kind of attitudes have allowed a different class of people to discreetly maneuver, behind the scenes, to ensure that “them” and “us” never actually meet anywhere but in symbol. Wealthy London, whether red or blue, has always been able to pick and choose the nature of its multicultural and cross-class relations, to lecture the rest of the country on its narrow-mindedness while simultaneously fencing off its own discreet advantages. We may walk past “them” very often in the street and get into their cabs and eat their food in their ethnic restaurants, but the truth is that more often than not they are not in our schools, or in our social circles, and they very rarely enter our houses—unless they’ve come to work on our endlessly remodeled kitchens.

die Kaltmamsell

2 Kommentare zu „Journal Freitag, 22. Juli 2016 – Massenmord im fernen Daheim“

  1. Tommdidomm meint:

    Ah, das Pasternak. Auch abends, sehr gute russisch-jüdische Küche, inklusive Wodka-Gedecke.

  2. pepa meint:

    Das war so so schön mit Dir.
    Danke!

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