Journal Freitag, 16. September 2016 – Sex, Lies, and Videotape

Samstag, 17. September 2016 um 9:43

Diese Tage voll Angst, Herzklopfen, Machtlosigkeit und Zusammennehmen haben dazwischen ja auch Nächte. In denen das Zusammennehmen nicht mehr funktioniert, das Herzklopfen mich hochjagt. Mal um halb 4, um 4 Uhr, mal um 5.
Ich nehme es wie’s kommt, was bleibt mir übrig. Und so dachte ich mir Donnerstag schon beim Einschlafen (geht meist gut): Wenn ich wieder so früh hochschrecke, nutze ich die Zeit bis zur Arbeit einfach für Sport.
Was ich dann auch tat, ich holte mit Fitnessblender den Kraftsport vom Dienstag nach, zumindest Bauch und Rücken.

Die zerbröselte Kante meines oberen Schneidezahns wurde mittlerweile renoviert, Karottenabbeißen geht wieder.

Wie geht man am Beginn zweier Urlaubswochen mit dem Wissen um, dass sie enden werden?

Gestern Abend war ich allein, wollte mich dringend ablenken. Ich erinnerte mich dran, dass ich den Film Sex, Lies, and Videotape schon sehr lange mal wieder sehen wollte. 1989 hatte er mich im Kino völlig umgehauen, ich denke sehr oft an den Film, habe viele Bilder davon im Kopf. Also sah ich ihn an.

Ich bleibe dabei: Einer der besten Filme meiner persönlichen Filmgeschichte, dieses kleine Kammerspiel, mit dem Steven Soderbergh sich damals auf die Landkarte des Kinos setzte. Das Drehbuch, die Dialoge (an einer Stelle sogar realistisch durcheinander), die Kamera (immer wieder sehr lange Einstellungen, die mir beim Gucken Zeit lassen, eine Szene zu füllen), die Schnitte (darunter ein bedeutungstragender Bruch mit Realismus): Alles so sorgfältig, aussagekräftig (wenn Konventionen auftauchen, dann um etwas damit zu machen), praktisch perfekt. Andie MacDowell kannte damals niemand, und sie spielt derart gut. Peter Gallagher habe ich hier kennengelernt – und kann ihn seither in keiner Rolle sehen, ohne das Anwaltarschloch John dazuzudenken. Laura San Giacomo und wie sie als Cynthia sagt “Ann. Bishop. Mullany.” – habe ich seit 27 Jahren vor Augen. James Spader gab es bis damals für mich nicht, und er darf leise so atemberaubend spielen wie – ich müsste erst lang nachdenken, um Vergleichbares zu finden.

Zu quengeln hätte ich höchstens (beim ersten Sehen wie gestern), dass der Fernsehbildschirm im Film eindeutig nicht die Bilder zeigt, die die Videokamera aus der gezeigten Perspektive aufnehmen konnte. Schlucke ich als künstlerische Freiheit hinunter.

Das Gegenüberstellen zweier Arten von Erotik (großhirnlose Fleischeslust/neurotisch gefesseltes Verlangen), was alles nicht erklärt wird (z.B. Cynthia und Topfpflanzen), die Lebensphase meist Ende 20, in der Menschen sich eigentlich für einen grundsätzlichen Weg entschieden haben – und hier die Chance bekommen, ihren tatsächlich eigenen zu finden. Und dann der Zeithintergrund Ende der 80er mit seinen hochtaillierten Röcken und Jeans (Letztere gerade an Graham auffallend) und Blümchenkleidern, Cowboystiefel zum schwarzen engen kurzen Rock und nackten Beinen. Und dann konnte Soderbergh in seinem Erstling auch noch etwas, was die meisten bis ans Lebensende nicht schaffen: Den Film gut zu Ende bringen, in Bild, Timing und Ton.

Was ich völlig vergessen hatte, war die Musik von Cliff Martinez, die die Atmosphäre maßgeblich mit setzt – unter anderem weil sie überhaupt nicht das Erwartete ist.

Ich halte meine Empfehlung des Films überzeitlich aufrecht.
(Außerdem habe ich vom Abspann des Films das Wort “Barfly” gelernt.)

Für den Guardian schwärmte Henry Barnes vergangenes Jahr:
“My favourite Cannes winner: sex, lies and videotape”.

There’s no such thing as filler in a Soderbergh film. Every shot says something.

Und hier eine zeitgenössische Rezension aus der Washington Post.

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Gestern Abend endete der Spätsommer auch in München, mit Sturzregen und Temperatursturz. In Hamburg waren seine letzten Tage wohl noch besonderer, weil ihnen kein wunderschöner August vorangegangen war. Maximilian Buddenbohm fängt sie großartig ein:
“Kippwoche”.

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Katrin Scheib schreibt aus Moskau die Geschichte eines besonderen Kochgeräts und einer Geschwisterliebe.
“Es steht ein Kasan im Rheinland”.

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Auf 3sat schilderte die Sendung scobel den immer deutlicheren Zusammenhang von familiärer Herkunft und Bildungschancen in Deutschland – besonders eindrücklich durch die Livezeichnungen von Skizzenblogger Claus Ast (bei ihm gibt’s Fotos vom Dreh)!

die Kaltmamsell

2 Kommentare zu „Journal Freitag, 16. September 2016 – Sex, Lies, and Videotape

  1. Robert meint:

    Was zwischen den Zeilen steht – und zwischen den Zeilen, die nicht mehr da sind-, hat mich über den ganzen Tag immer wieder beschäftigt. Ich kenne selbst die 4-Uhr-Morgens-Angst und wünsche Ihnen, dass sich die Tage schon bald wieder zum Guten, was immer das für Sie sein mag, hin wenden.

  2. Philine meint:

    Das karottenabbeissen trotz Reparatur würde ich niemal mehr machen, weil die Belastung auf dem nächsten Zahn zu gross ist. Und ich bin noch eine Woche in meiner zweiten Heimat und denke steäflicherweise schon ans weihnachtsgeschäft mit Blick auf den Atlantik und die Surfer in grossen wellenbergen: mit viel Sonne und Wärme speichern

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