Archiv für September 2016

Journal Mittwoch, 21. September 2016 – Bayerisches Nationalmuseum, Der große Glander

Donnerstag, 22. September 2016

Wer schon wieder um halb sechs Uhr aufwacht, hat dann zumindest bis zum Mittagsläuten
– gebloggt
– einen rosenfingrigen Sonnenaufgang gesehen
– Morgenkaffee getrunken
– den restlichen Bügelberg gebügelt und verräumt
– Schuhe geputzt und die Wanderstiefel gründlich eingefettet
– ein ausgiebiges Vollbad genommen – mir war so kalt
– sich gecremt und gekleidet
– gefrühstückt und dabei die Tageszeitung gelesen
– drei paar Schuhe zur Schusterin gebracht und mit dieser ausgiebig geratscht
– ein wenig Lebensmittel eingekauft

Und steht kurz nach Mittag vorm Bayerischen Nationalmuseum.

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Der Spitzname, den die Münchner diesem Museum geben, “Bayerische Rumpelkammer”, passt heute wirklich nicht mehr: Der riesige Ausstellungsteil Barock, der 2015 wiedereröffnet wurde, ist ebenso sorgfältig luftig, schön ausgeleuchtet und informativ präsentiert wie die Sammlungen aus Romanik und Renaissance.

Ich ging chronologisch vor (nachdem mir ein freundlicher Angestellter auf meine Frage Ort und Funktionsweise der Schließfächer von Grund auf erklärt hatte – die Museumsräume waren gut geheizt) und hatte bereits so viel Zeit mit Romanik bis Renaissance verbracht, dass ich durch den Barockteil lediglich schlenderte und nur vereinzelte Exponate genauer besah. Lange hielt ich mich nach dem ersten “Holy Shit!”-Moment in der Zunftstube der Augsburger Weber auf, für die das Museum seinerzeit einen eigenen Raum gebaut hatte. Ich kenne das Weberhaus in Augsburg und habe während meines Studiums ein Seminar über Augsburg im Späten Mittelalter besucht, konnte also einiges ein wenig einordnen. Es gab ohnehin viele solche Vertrautheitsmomente in der Romanik- und Gotikausstellung: Ortsnamen, Bezüge zu ebenfalls vertrauten Werken – schließlich bin ich in der Stadt aufgewachsen, die unter anderem die erste bayerische Hochschule beheimatete.

Viel Zeit verbrachte ich auch im Raum mit den Sandtner-Modellen bayerischer Residenzstädte (nur schwach beleuchtet, vermutlich wegen der Tapisserien an den Wänden), auch wegen der Druckplatten für die zeitgenössische Landkarte.

Auffallend: Die fast schon als Stolpersteine aufgestellten Erklärtäfelchen vor Vitrinen und Exponaten, die auf die Provenienz von Objekten aus der Sammlung Hermann Görings hinwiesen. Mit einem Forschungsprojekt der Provenienzforscherin Dr. Ilse von zur Mühlen geht das Museum seit 2014 der genauen Herkunft von 430 Ausstellungsstücken nach, die zwischen 1961 und 2004 aus der Sammlung Görings in den Bestand kamen. (Dachte man davor: “Sammlung Görings? Ach, der hat’s vermutlich am Flohmarkt gekauft, wo er am Sonntag immer war.”?)

Im Untergeschoß mit seinen Ausstellungen zu Möbeln und Geschirr war ich erst gar nicht, ich nahm mir dringend mindestens einen weiteren Besuch des Museums vor. Überhaupt begegnete ich während der etwa zweieinhalb Stunden meines Aufenthalts (für mehr reicht meine Aufmerksamkeit nicht) nur einem halben Dutzend anderer Besucherinnen und Besuchern – da sah ich ja mehr Museumspersonal. Gerade der neu gestaltete Barockteil ist doch eigentlich ausgesprochen attraktiv für Touristen, gerade aus dem Ausland – wo sie doch eh alle zur Eisbachwelle nebenan pilgern. Hat das Museum vielleicht zu wenig Budget für Öffentlichkeitsarbeit? Oder ist nicht zu viel Aufsehen gewünscht? (Die meisten sensationellen Exponate stehen frei und sind nicht durch Glasvitrinen geschützt.)

Exponat des Monats ist “ein seltenes Frauenwams aus dem 17. Jahrhundert”, heute um 18 Uhr gibt’s eine Führung dazu – falls Sie zufällig Zeit haben.

(Meine Fotos traue ich mich nicht hier einzustellen, weil es keinerlei Angaben zu Fotografier- und Veröffentlichungsregelung auf der Website gibt.)

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Der Vormittag war hochneblig gewesen, auf meinem Heimweg durchs Lehel schien die Sonne.

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Daheim las ich Der große Glander von Stevan Paul aus und fühlte mich sehr gut unterhalten. Da es in diesem Roman so viel um Speisen und Getränke, deren Zubereitung, ihr Aussehen, ihren Duft, ihre Geschmacksnuancen geht, ist die Versuchung stark, auch den Roman so zu beschreiben: Süffig ist er, durch und durch, würzig ohne zu überfordern, rund abgeschmeckt, handwerklich sorgfältig zubereitet.

Die Geschichte des Malers und Kochs Glander wird nicht linear erzählt: Während die Haupthandlung (Kunstzeitschriftenredakteur recherchiert den Verbleib eines vor elf Jahren verschwundenen Künstlers) voranschreitet, springen dazwischen Kapitel in die Vergangenheit, indem sie die Vorgeschichten einzelner Romanfiguren beleuchten. Das ist sehr gut gemacht. Eingeflochten sind auch, immer an passender Stelle, Plädoyers für gutes Essen und Trinken, für deren Bedeutung. Die Figuren sind glaubwürdig, Landschaften und gesellschaftlicher Hintergrund werden lebendig und nachvollziehbar beschrieben, Robert de Niro ist ein witziger roter Faden.

Herummäkeln möchte ich lediglich am einen oder anderen Sprachklischee; hier hätte ein härterer Streichstift der Lektoren gut getan.

Völlig rausgefallen aus dem so abgerundeten Werk ist allerdings ausgerechnet das zweiseitige Eingangskapitel: Beschrieben wird die (Haus-)Geburt des Protagonisten, und nicht nur muss der einzige Geburtshelfer, der Kindsvater, “noch mehr heißes Wasser” bringen, ein Rätsel seit Westernfilmen aus den 50ern (auf Twitter ließ ich mir von Expertinnen erklären, dass mit heißem Wasser bei der Geburt Tücher befeuchtet werden, die den Damm weich halten sollen – im konkreten Zusammenhang des Romans unwahrscheinlich). Zudem wird die Mutter des Protagonisten als einzige Hebamme am Ort eingeführt – das ist dann aber auch das letzte Mal, dass ihr Beruf oder auch nur das Thema auftaucht.

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Zum Abendessen kochte ich Tomatensuppe. Nach dem Ernteanteilpacken durften wir Helferinnen angedotztes Gemüse mitnehmen, unter anderem Tomaten. Selbige versauten mir wegen Angedotztheit zwar die Tasche, wurden aber zu einer sensationellen Suppe. Olivenöl, Salz, Pfeffer, ein wenig gekörnte Brühe – zerkocht, zerstört, fertig. Und spektakulär köstlich.

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Farbe original, es waren einige gelbe Eiertomaten dabei.

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Ich bekomme ja selten Werbeanfragen, die meisten lassen sich nach kurzem Überfliegen als Spam löschen. Diese aber hat mich so sehr zum Lachen gebracht, dass ich sie unbedingt mit Ihnen teilen muss:

E: HI,
D: Guten Tag,

E: We are an Onlineshop (www.mariakommunion.de), and we sell Communion Dresses on our website. We found your website and would like you to write a Post for us and/or put our Banner on your Website. We will pay you through Paypal.
D: Wir sind einen Onlineshop (www.mariakommunion.de), und verkaufen maßgeschneiderte Kommunionkleider auf unserer Webseite. Wir haben Ihre Webseite gefunden, und wir hätten gern wenn Sie einen Post für uns schreiben könnten oder/und unser Banner auf Ihrer Webseite machen können. Wir werden Ihnen durch Paypal bezahlen.

E: Please read our proposal:
D: Bitte schauen Sie unserer Vorschlag an:

E: INSTRUCTIONS TO WRITE THE POST:
D: Anweisungen um der Post zu schreiben:

1.

E: Write a Blogpost for 20 US $ (post should be in german)
D: Schreiben Sie einen Blogpost für 20 US $ (Post soll auf Deutsch):

E: Instructions to write the Post:
D:Anweisungen, um den Beitrag zu schreiben:

A.

E: The design of the Post you can do as you please.
D: Design können Sie tun wie Sie möchten.

B.

E: Use all the following words in the list to write your Post and add a hyperlink on the word to their corresponding URL.
D: Benützen Sie alle die folgende Wörter im Post und machen Sie einen Hyperlink auf dem Wort der schickt zum spezifischen URL:

Kommunionkleider

www.mariakommunion.de
Kommunionkleider 2016

http: //www.mariakommunion.de/kommunionkleider-2016-c-1_6/

Kommunionkleider Schlicht

http: //www.mariakommunion.de/kommunionkleider-schlicht-c-1_7/

C.

E: In addition put a few Dress Pictures from our Website with a link to the product page
D: Außerdem setzen Sie bitte ein paar Kleider Bilder mit Links zur Produkt Seite

D.

E: Share the post on your social medias (facebook, twitter, instagram, Pinterest)
D: Teile Sine den Post auf Die Social Medias dass Sie haben (facebook, twitter, instagram, Pinterest)

2.

E: Set our Banner for 10 US $ (für 3 Monate)
D: Setzen Sie Banner für 10 US $ (für 3 Monate), in der Seitenliste.

E: Just copy the Banner-Code:
D: Sie brauchen nur der Banner-Code zu kopieren:

< a title="Günstige und Hohe Qualität Kommunionkleider | Mariakommunion" href="http://www.mariakommunion.de">Entdecken Sie Wunderschöne Kommunionkleider bei Mariakommunion. Unsere elegante Kommunionkleider findet man in weiß und elfenbein Farben. Wir bieten Tolle Angebote an.< /a>
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E: If you agree with the terms, send us the Url of the Post and your paypal Adress, once we checked the Post we will transfer the money. If you have any questions do not hesitate to contact us. Please tell us the social Medias you can share the Post on.
D: Wenn Sie mit den Vorschlägen in Ordnung sind, schicken Sie mir bitte die Link von dem Post und Ihrem Paypal-Konto, nachdem wir den Post gecheckt haben werden wir bezahlen. Hätten Sie Fragen, wenden Sie sich bitte an mich. Danke für Ihre Zeit. Bitte sagen Sie uns welche social media Sie haben wo Sie den Pot teilen können.

E: We look forward to hearing from you. Sincerely
D: Ich freue mich von Ihnen zu hören. Viele Grüsse

Sagen Sie selbst: Ist das nicht ein Juwel? Und 30 US-Dollar für geschätzte drei bis vier Stunden Arbeit (die erst gezahlt werden, wenn die Arbeit auch gefällt) passen ja fast ins deutsche Mindestlohngesetz.

Journal Dienstag, 20. September 2016 – Ernteanteile packen

Mittwoch, 21. September 2016

Wenn ich keinen Wecker stelle, wache ich um fünf auf. Doch wenn ich wie gestern den Wecker auf 5:40 Uhr stelle, um zum Langhanteltraining zu gehen, reißt er mich auf tiefstem Schlaf. Weck-Slapstick?

Es hatte endlich aufgehört zu regnen, ich kam trocken ins Sportstudio. Anstrengendes Langhanteltraining, den vierten Tag intensiven Sport in Folge stecke ich nicht einfach so weg.

Fast im Anschluss hatte ich einen Termin bei der Kosmetikerin, ich spazierte einmal quer durch die Innenstadt hin.

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Zu Hause bügelte ich die Hälfte des Bergs Bügelwäsche, bis ich Frühstückshunger bekam.

Den Nachmittag verbracht ich in der Gärtnerei Schönbrunn, dem derzeitigen Hauptsitz unseres Kartoffelkombinats. Die Kisten mit Ernteanteilen müssen ja auch gepackt werden, und dafür werden immer Freiwillige gesucht. Schon seit einer Zeit wird das Packen zwar von einer Kartoffelkombinat-Angestellten betreut und es hat sich ein kleiner, fester Stamm an helfenden Händen gebildet (die sich damit zum Teil den Ernteanteil verdienen) – anders könnte die Versorgung von 900 Haushalten nicht gesichert werden. Doch im Idealfall beteiligt sich auch jeder Haushalt einmal im Jahr am Packen. Ich hatte das bislang nie geschafft, weil der Einsatz mit meinen Arbeitszeiten kollidiert; der derzeitige Urlaub war die Gelegenheit, das nachzuholen.

Gestern bestand der Ernteanteil aus Kartoffeln, Salat, Ruccola, Gurke, Fenchel, Tomaten, Spinat. Kartoffeln und Tomaten waren zum Großteil bereits von den Mitarbeitenden des Franziskuswerks in Schönbrunn vorgewogen, doch der Spinat musste noch portioniert und verpackt werden. Damit beschäftigte ich mich ein paar Stunden lang – und bekam von den tropfenden Spinatkisten (es hatte schließlich drei Tage geregnet) nasse Schuhe und Füsse. (Merken: Nächster Einsatz in Gummistiefeln.) Die geübten Genossenschaftlerinnen um mich herum platzierten routiniert Kisten, bestückten sie in der für den Transport idealen Reihenfolge, sortierten sie nach Lieferrouten (im Kartoffelkombinat werden nicht die einzelnen Haushalte beliefert, sondern Verteilerpunkte), brachten die fertigen Kisten in die Kühlung. In einem anderen Eck der kleinen Halle wurde ebenfalls Spinat abgewogen.

Hin und zurück kam ich im Auto einer Mitgenossenschaftlerin, zum ersten Mal sah ich den Weg nach Schönbrunn von der Straße aus statt aus der S-Bahn.

Bei meiner Heimkehr war es deutlich nach acht, Herr Kaltmamsell hatte uns Sushi kommen lassen.

Journal Montag, 19. September 2016 – Verregnetes Gemüt

Dienstag, 20. September 2016

Dritter Tag Dauerregen in wechselnder Stärke. Macht keinen Spaß.

Auch ins Olympiabad nahm ich also nicht das Rad, sondern die U-Bahn.

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Ich wunderte mich über die vielen Menschen im Eingangsbereich, die anscheinend am Durchgang anstanden, aber nicht durchgingen. Endlich fiel mein Blick auf einen bereits eselsohrigen Zettel: Dass das Olympiabad renoviert und umgebaut wurde, wusste ich noch, nicht mehr aber, dass das Bad deshalb bis 10 Uhr Vereinen und Schulklassen vorbehalten war. Und es war erst ein paar Minuten vor 10.

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Innen war dann einiges umorganisiert, von den Umkleiden ins Becken musste ich über eine Baustellenüberführung steigen. Leider sehr wenig munter zog ich mit verschattetem Gemüt meine Bahnen, nahezu ungestört. Ich muss gerade so viel verdrängen, dass ich befürchte, Wichtiges und Schönes mitzuverdrängen.

In Regen von Kübelstärke ging ich zur Straßenbahn und ließ mich zur Schellingstraße fahren (ideales Tempo zum Pokéstop-Abräumen, übrigens); ich freute mich auf Frühstück im Café Puck.

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Bis ich vor dieser Baustelle stand. Natürlich hatte ich nicht vorher auf die Website geguckt, warum auch. Kurzes Überlegen, Entscheidung fürs Café Altschwabing 200 Meter weiter.

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Für diese Woche Heimaturlaub hatte ich mir Ausstellungen und Museen vorgenommen, im Sprühregen lief ich zum Literaturhaus.

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Die Herrndorf-Ausstellung dort ist noch eine Woche zu sehen und gefiel mir sehr gut.
Auch wenn viele wirklich lustige Motive nicht auf seinem Mist gewachsen sind, sondern Ideen einer Redaktion waren, sieht man ja an Herrndorfs Texten, dass sein Blick unausweichlich Absurdes und Komisches sah, sein Hirn absurde und komische Ideen produzierte. Was macht man damit als Maler? Man malt’s halt. Und riskiert damit, aus dem handelsüblichen Kunstbegriff zu fallen. Mein Favorit war die Votivtafel des verunglückten Skateboarders, eine Persiflage, die nur mit höchster Sprach- und Malkunst perfekte wurde.

Einkaufsrunde, dann ins frisch geputzte Zuhause. Zum Nachtmahl durfte ich mal wieder selbst kochen, es wurde die Ricotta-Feta-Tomaten-Tarte von Küchenschabe.

§

In El País schreiben María S. Sánchez und Pablo Cantó über eine positive Entwicklung in der internationalen Werbewelt: Die Kampagnen scheinen inklusiv zu werden.
“Del anuncio de H&M al de Multiópticas: este otoño las marcas recurren a la publicidad inclusiva”.

Unter anderem feiert H&M seine Herbst-/Winterkollektion mit Bildern von Frauen (fast) jeder Form und vieler Altersstufen, der spanische Optiker mó macht damit Werbung, wie schön es ist, die Realität in ihrer ganzen Vielfalt zu sehen:

Aktivieren Sie JavaScript um das Video zu sehen.
https://youtu.be/7qPK4qYRREU

Und der Maltesers-Werbespot ist eh der Kracher:

https://youtu.be/YgUqmKQ9Lrg

(Allerdings sehe ich in TV-Werbung in UK ohnehin seit Jahren Behinderte als unmarkierte Bestandteile der Besetzung.)
Der Axe-Spot hat es ja sogar ins deutsche Werbefernsehen geschafft.

via @Croco_dylus

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Sie finden Roter-Teppich-Fotos vor Filmgalen langweilig? Überlegen Sie sich das nochmal.

Journal Sonntag, 18. September 2016 – Tschick

Montag, 19. September 2016

Der Tag begann mit einem Geburtstagskuchen und vielen Kerzen.

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Es regnete weiter unablässig, zur Turnstunde am Ostbahnhof nahm ich lieber U- und S-Bahn – zumal die mich auch unter dem Oktoberfestumzug durchführten.

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Viel Spaß bei Stepaerobic.

Nach Hause ging ich zu Fuß: Zehn Minuten davon regnete es nicht mal, außerdem wollte ich Pokémon fangen.

Nachmittags lud ich den Geburtstagsmann ins Kino ein: Ums Eck im City läuft Tschick – ich wurde bestens unterhalten. Nicht zufällig übernimmt der Film sogar den Schriftzug des Romans: Er hält sich sehr an die Vorlage. In Kombination mit zwei perfekt besetzten Hauptdarstellern (ich hoffe sehr, dass ich Anand Batbileg bald in weiteren Rollen sehe) wurde ein wirklich schöner Film daraus. Herrndorfs Dialoge sind einfach Kracher, die gleichzeitige befangene Unsicherheit und das selbstvergessene Bravado von 14-Jährigen ist wunderbar eingefangen, der Einfall mit den Windrädern ein Geniestreich. Zu meckern habe ich bloß an der Besetzung von Isa: Sie war gleich ein paar Jahre zu alt. Zudem: Wie hätte es sich wohl auf dem Film ausgewirkt, wenn wirklich als einzige Musik Clayderman verwendet worden wäre? (Und wurde Herr Clayderman eigentlich schon gefragt, wie er seine Rolle in der Geschichte findet?)

Zur Feier des Tages durfte Herr Kaltmamsell selbst kochen: Er wollte chinesisches velveting (Fleischzartmachen mit Backnatron) ausprobieren.

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Funktionierte gut, schmeckte sehr gut.

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Der britische Schauspieler Riz Ahmed erzählt von seiner Vergangenheit und seiner Gegenwart – und den sich verändernden Stereotypen, auf die er sich einstellen musste.
“Typecast as a terrorist”.

As children in the 1980s, when my brother and I were stopped near our home by a skinhead who decided to put a knife to my brother’s throat, we were black. A decade later, the knife to my throat was held by another “Paki”, a label we wore with swagger in the Brit-Asian youth and gang culture of the 1990s. The next time I found myself as helplessly cornered, it was in a windowless room at Luton airport. My arm was in a painful wrist-lock and my collar pinned to the wall by British intelligence officers. It was “post 9/11”, and I was now labelled a Muslim.

(…)

As I’ve travelled more, I’ve also done more film work, increasing the chances of being recognised by the young Asian staff at Heathrow. I have had my films quoted back at me by someone rifling through my underpants, and been asked for selfies by someone swabbing me for explosives.

Sehr interessant finde ich Ahmeds Beobachtung zu Selbstbild vs. gesellschaftlicher Realität in UK und USA:

Producers all said they wanted to work with me, but they had nothing I could feasibly act in. The stories that needed to be told in the multicultural mid-2000s were about the all-white mid-1700s, it seemed. I heard rumours that the Promised Land was not in Britain at all, but in Hollywood.

The reason for this is simple. America uses its stories to export a myth of itself, just like the UK. The reality of Britain is vibrant multiculturalism, but the myth we export is an all-white world of lords and ladies. Conversely, American society is pretty segregated, but the myth it exports is of a racial melting-pot, everyone solving crimes and fighting aliens side by side.

Journal Samstag, 17. September 2016 – Laufen in Dauerregen

Sonntag, 18. September 2016

Wieder um 5 Uhr hochgeschreckt. Diesmal nahm ich eine Stunde Herzklopfen in Kauf, ich konnte danach ja ausschlafen.

Es regnete überzeugend und unaufhörlich. Das nahm mir die Lust auf einen allerallerletzten Schwumm im Schyrenbad, aber nicht den Bewegungsdrang – vor allem möglichst weg von Oktoberfestumtrieben.

Ich zog meine Laufwindjacke an, setzte eine Schirmmütze auf und nahm die U-Bahn zum Odeonsplatz. Plan war, vom Odeonsplatz über Hofgarten und Englischen Garten an die Isar zu traben.

Schon das U-Bahn-Ziel klappte nicht: Der Bahnhof Odeonsplatz wurde ohne Halt durchfahren, weil gestern zusätzlich zum Oktoberfeststart die Großdemo gegen Handelsabkommen die TTIP und CETA stattfand, und zwar genau da. Ich konnte also erst an der Universität aussteigen.

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Alle weiteren Fotos sind verschwommen, weil die Linse nass war.

Ich lief entspannt und nahezu schmerzfrei, freute mich an den menschenleeren Wegen. Allerdings lief ich länger als geplant: Die Straßenbahn vom Tivoli fuhr nicht (Großdemo), ich musste wieder zurück bis zum U-Bahnhof Universität. Dass ich sehr nass geworden war, machte gar nichts, denn mir war nicht kalt. Mich störte nur das Beschlagen meiner Brille.

Nachmittags Geburtstagskuchen für Herrn Kaltmamsell gebacken; er wünschte sich Zitronenkuchen, ich probierte ein neues Rezept aus.

Abend nahm ich den Fitnesstracker in Betrieb, den ich mir auf die Empfehlung eines Elektronikfachmanns dann doch zum Ausprobieren von sowas bestellt hatte: Xiaomi Mi Band 2. Einstellung und Kontoanlegen funktionierten problemlos, allerdings las ich gleich mal, dass das Gerätchen nicht wasserdicht genug fürs Schwimmen ist. Genau das war eigentlich mein zentraler Wunsch gewesen: ein Tracker, der alle Sportarten inklusive Schwimmen erfasst. Zudem habe ich bislang keinen Hinweis gefunden, dass man irgendeinen Sport manuell eingeben kann.

§

Auf FAZ.net Neues zum alten Thema Essstörungen: Wenig überraschend nehmen sie zu, und die Patientinnen werden immer jünger.
“Hungerwahn”.

Die Ursachen von Anorexie waren und sind vielfältig, heutzutage scheinen aber immer mehr Trigger hinzu zu kommen.

Die vegane Modewelle greift wie eine Krake um sich, besonders unter jungen Menschen. „Das ist mittlerweile eine Jugendbewegung“, sagt Imgart. Leider, wie er findet. Denn vegane Ernährung und Essstörung – das liegt häufig nicht weit auseinander. Sein bayrischer Kollege Voderholzer macht die gleichen Erfahrungen. Nicht selten liege das vegane Essen im Vorfeld der Essstörung. Denn wer vegan isst, beschäftigt sich zwangsweise übermäßig mit seiner Ernährung, um herauszufinden, was er überhaupt noch essen darf. Die Ernährung wird immer einseitiger, auf immer weniger Nahrungsmittel beschränkt. Das Vegan-Essen kann zum Zwang werden; und Magersucht hat viel mit Zwängen zu tun. Und mit Verboten, die man sich selbst auferlegt: „Wir haben das äußere Korsett, das Frauen früher tragen mussten, durch ein inneres ersetzt“, meint Imgart dazu.

Anders als die Autorinnen interpretiere ich den Berufswunsch der meisten Erkrankten nicht als Bedürfnis, anderen zu helfen: Anorektikerinnen und Bulimikerinnen wollen deshalb zum größtenteil in die Ernährungsberatung gehen, um ihre Obsession nicht aufgeben zu müssen.

Journal Freitag, 16. September 2016 – Sex, Lies, and Videotape

Samstag, 17. September 2016

Diese Tage voll Angst, Herzklopfen, Machtlosigkeit und Zusammennehmen haben dazwischen ja auch Nächte. In denen das Zusammennehmen nicht mehr funktioniert, das Herzklopfen mich hochjagt. Mal um halb 4, um 4 Uhr, mal um 5.
Ich nehme es wie’s kommt, was bleibt mir übrig. Und so dachte ich mir Donnerstag schon beim Einschlafen (geht meist gut): Wenn ich wieder so früh hochschrecke, nutze ich die Zeit bis zur Arbeit einfach für Sport.
Was ich dann auch tat, ich holte mit Fitnessblender den Kraftsport vom Dienstag nach, zumindest Bauch und Rücken.

Die zerbröselte Kante meines oberen Schneidezahns wurde mittlerweile renoviert, Karottenabbeißen geht wieder.

Wie geht man am Beginn zweier Urlaubswochen mit dem Wissen um, dass sie enden werden?

Gestern Abend war ich allein, wollte mich dringend ablenken. Ich erinnerte mich dran, dass ich den Film Sex, Lies, and Videotape schon sehr lange mal wieder sehen wollte. 1989 hatte er mich im Kino völlig umgehauen, ich denke sehr oft an den Film, habe viele Bilder davon im Kopf. Also sah ich ihn an.

Ich bleibe dabei: Einer der besten Filme meiner persönlichen Filmgeschichte, dieses kleine Kammerspiel, mit dem Steven Soderbergh sich damals auf die Landkarte des Kinos setzte. Das Drehbuch, die Dialoge (an einer Stelle sogar realistisch durcheinander), die Kamera (immer wieder sehr lange Einstellungen, die mir beim Gucken Zeit lassen, eine Szene zu füllen), die Schnitte (darunter ein bedeutungstragender Bruch mit Realismus): Alles so sorgfältig, aussagekräftig (wenn Konventionen auftauchen, dann um etwas damit zu machen), praktisch perfekt. Andie MacDowell kannte damals niemand, und sie spielt derart gut. Peter Gallagher habe ich hier kennengelernt – und kann ihn seither in keiner Rolle sehen, ohne das Anwaltarschloch John dazuzudenken. Laura San Giacomo und wie sie als Cynthia sagt “Ann. Bishop. Mullany.” – habe ich seit 27 Jahren vor Augen. James Spader gab es bis damals für mich nicht, und er darf leise so atemberaubend spielen wie – ich müsste erst lang nachdenken, um Vergleichbares zu finden.

Zu quengeln hätte ich höchstens (beim ersten Sehen wie gestern), dass der Fernsehbildschirm im Film eindeutig nicht die Bilder zeigt, die die Videokamera aus der gezeigten Perspektive aufnehmen konnte. Schlucke ich als künstlerische Freiheit hinunter.

Das Gegenüberstellen zweier Arten von Erotik (großhirnlose Fleischeslust/neurotisch gefesseltes Verlangen), was alles nicht erklärt wird (z.B. Cynthia und Topfpflanzen), die Lebensphase meist Ende 20, in der Menschen sich eigentlich für einen grundsätzlichen Weg entschieden haben – und hier die Chance bekommen, ihren tatsächlich eigenen zu finden. Und dann der Zeithintergrund Ende der 80er mit seinen hochtaillierten Röcken und Jeans (Letztere gerade an Graham auffallend) und Blümchenkleidern, Cowboystiefel zum schwarzen engen kurzen Rock und nackten Beinen. Und dann konnte Soderbergh in seinem Erstling auch noch etwas, was die meisten bis ans Lebensende nicht schaffen: Den Film gut zu Ende bringen, in Bild, Timing und Ton.

Was ich völlig vergessen hatte, war die Musik von Cliff Martinez, die die Atmosphäre maßgeblich mit setzt – unter anderem weil sie überhaupt nicht das Erwartete ist.

Ich halte meine Empfehlung des Films überzeitlich aufrecht.
(Außerdem habe ich vom Abspann des Films das Wort “Barfly” gelernt.)

Für den Guardian schwärmte Henry Barnes vergangenes Jahr:
“My favourite Cannes winner: sex, lies and videotape”.

There’s no such thing as filler in a Soderbergh film. Every shot says something.

Und hier eine zeitgenössische Rezension aus der Washington Post.

§

Gestern Abend endete der Spätsommer auch in München, mit Sturzregen und Temperatursturz. In Hamburg waren seine letzten Tage wohl noch besonderer, weil ihnen kein wunderschöner August vorangegangen war. Maximilian Buddenbohm fängt sie großartig ein:
“Kippwoche”.

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Katrin Scheib schreibt aus Moskau die Geschichte eines besonderen Kochgeräts und einer Geschwisterliebe.
“Es steht ein Kasan im Rheinland”.

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Auf 3sat schilderte die Sendung scobel den immer deutlicheren Zusammenhang von familiärer Herkunft und Bildungschancen in Deutschland – besonders eindrücklich durch die Livezeichnungen von Skizzenblogger Claus Ast (bei ihm gibt’s Fotos vom Dreh)!

Beifang aus dem Internet

Freitag, 16. September 2016

Jetzt hat auch in Bayern das neue Schuljahr begonnen. Ich lese in kommerziellen Medien und in Blogs viel über den veränderten Tagesrhythmus, pädagogische Konzepte, Schulranzendesaster, andere Eltern (vor allem Elternabende), über die Einkaufslisten, die Schulen zum Schuljahresstart herausgeben.

Pia Ziefle befasst sich mit einem Aspekt, von dem ich sonst nicht lese: Was die Geldausgaben des Schulanfangs für Familien bedeuten, die finanziell gerade so über die Runden kommen. (Also wirklich gerade so, weit unter “Wir können uns dieses Jahr nur einmal drei Wochen Familienurlaub leisten.”)

“Bildung und Teilhabe”.

An Elternabenden habe ich in den letzten Jahren drei Gruppen Eltern erlebt: die einen, bei denen Geld keine Rolle spielt, weil sie genug davon haben. Die anderen, bei denen Geld keine Rolle spielt, weil sie sowieso keins haben. Und die dritte Gruppe, bei denen jeder Euro zählt, weil sie keine Hilfen (wie das Bildungs- und Teilhabepaket BuT, siehe ganz unten) bekommen und sämtliche Kosten alleine tragen müssen.

Und dann rechnet Pia jeden Euro vor, den sie übers Jahr und am Schulanfang für den Schulbesuch ihrer drei Kinder ausgeben muss.

§

Andrea Diener, Fridtjof Küchemann und Julia Bähr analysieren für faz.net

Nicht nur Helene Fischer feiert mit modernem Schlager Erfolge. Warum sind diese Lieder so beliebt? Und warum ähneln sie einander so frappierend?

Absolute Burner-Überschrift:
“Dein ist die ganze Terz”.

Wie immer mit Musikbeispielen, und auch die dazugehörigen offiziellen Videos werden verglichen. Für mich ein höchst interessanter Einblick in eine Musikwelt, die mir so fremd ist wie die des Speed Metalls.

§

Die BBC zeigt alles Ernstes im Fernsehen die Obduktion einer sehr dicken Frau als Motivation fürs Abnehmen. Laurie Pennie macht deutlich, auf wie vielen Ebenen das verabscheuenswürdig ist und welche Mechanismen hinter der Diskriminierung dicker Menschen stecken.
“Obesity: The Post Mortem shows why fat is still a feminist issue”.

I’ve been shy to speak up for the same reason that many of us are shy to speak up. I’m afraid of fat. I’ve spent a lifetime internalising the message that fat is evidence of personal failure. I spent years in eating disorder hell, starving away any hint of softness on my body, because however awful it felt to be weak and hungry, it was surely worse to be fat. Fat, particularly female fat, represented for me what it represents for so many of us — weakness, unabashed desire, the cardinal sin of non-conformity to the narrowing ideal of beauty that is part of the pageantry of female coercion in this society.

§

Es gibt viele bedrohliche Anzeichen, dass wir uns zu einer postfaktischen Gesellschaft entwickeln. In den Kampagnen für den Brexit (und im Ergebnis der Abstimmung) wurde das schwindelerregend deutlich, unbeabsichtigt auf den Punkt gebracht von Brexit-Befürworter Michael Grove (ausgerechnet ehemaliger Bildungsminister): “I think people in this country have had enough of experts.”

Tom Nichols (“a professor of national security affairs at the U.S. Naval War College and an adjunct at the Harvard Extension School”) legt dar, welche Haltungen und Gefühle die Basis dafür sind und worin das Verhängnis liegt.
“The Death Of Expertise”.

Rather, what I fear has died is any acknowledgement of expertise as anything that should alter our thoughts or change the way we live.

(…)

The death of expertise is a rejection not only of knowledge, but of the ways in which we gain knowledge and learn about things. Fundamentally, it’s a rejection of science and rationality, which are the foundations of Western civilization itself. Yes, I said “Western civilization”: that paternalistic, racist, ethnocentric approach to knowledge that created the nuclear bomb, the Edsel, and New Coke, but which also keeps diabetics alive, lands mammoth airliners in the dark, and writes documents like the Charter of the United Nations.

(…)

And competence is sorely lacking in the public arena. People with strong views on going to war in other countries can barely find their own nation on a map; people who want to punish Congress for this or that law can’t name their own member of the House.

(…)

1. We can all stipulate: the expert isn’t always right.
2. But an expert is far more likely to be right than you are. On a question of factual interpretation or evaluation, it shouldn’t engender insecurity or anxiety to think that an expert’s view is likely to be better-informed than yours. (Because, likely, it is.)
3. Experts come in many flavors. Education enables it, but practitioners in a field acquire expertise through experience; usually the combination of the two is the mark of a true expert in a field. But if you have neither education nor experience, you might want to consider exactly what it is you’re bringing to the argument.
4. In any discussion, you have a positive obligation to learn at least enough to make the conversation possible. The University of Google doesn’t count. Remember: having a strong opinion about something isn’t the same as knowing something.
5. And yes, your political opinions have value. Of course they do: you’re a member of a democracy and what you want is as important as what any other voter wants. As a layman, however, your political analysis, has far less value, and probably isn’t — indeed, almost certainly isn’t — as good as you think it is.

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