Journal Sonntag, 9. Oktober 2016 – The buried giant und die erste Gans

Montag, 10. Oktober 2016 um 6:39

Am Vorabend hatte ich im Bett Kazuo Ishiguros The buried giant ausgelesen.
Einer der besseren Ishiguros (von denen davor war ich enttäuscht gewesen). Vage in der Zeit nach Artus angesiedelt begleiten wir ein altes Ehepaar („Britons“) auf ihrem Weg von ihrer dörflichen Siedlung zu… nun, sie haben beschlossen zu ihrem Sohn, der irgendwo anders ist. Doch sie wollen auch herausfinden, wie es kommt, dass sie und mehr noch ihre Umwelt vergangene Geschehnisse zu vergessen scheinen, selbst wenn es sich um das zeitweilige Verschwinden eines kleinen Mädchens vor wenigen Wochen handelt. Als wenn sich ein Dunst („mist“) auf ihre Erinnerungen gelegt hätte. Es entspinnt sich eine Geschichte um Saxons, Artus’ Erbe, Oger und andere Monster, Drachen, Aberglauben, Krieger. Der alte Mann hat möglicherweise ein bedeutenderes Vorleben, als er es erinnert, und die Drachin eine Funktion für den brüchigen Frieden im Land, die man nicht vermutet hätte.
Die Geschichte gefiel mir gut und überraschte mich immer wieder, auch wenn sie Längen hatte. Ein wenig enttäuscht war ich von viel Informationsvermittlung durch telling statt durch Handlung – gerade wo Ishiguro in An artist of the floating world und Remains of the day bewiesen hat, wie meisterlich er showing sogar als Gegenteil des im telling Behaupteten kann.

§

Vor Kurzem war ich auf die Besprechung einer Shirley Jackson-Biografie in der New York Times gestoßen und hatte mich sofort an das Leseerlebnis von “The Lottery” erinnert.
“The Case for Shirley Jackson”.

Shirley Jackson once wrote that when she went to the hospital to deliver the third of her four children, the admitting clerk asked for her occupation. “Writer,” Jackson replied. The clerk said, “I’ll just put down housewife.”

to most she was just another faculty wife, and a fat and creepy one at that, someone who drank too much and whose house stank of cat pee

Zum Glück lebe ich mit der Science-Fiction-Bibliothek des Herrn Kaltmamsell, aus der ich den einen Kurzgeschichtenband ziehen konnte, der noch zu Jacksons Lebzeiten veröffentlicht wurde.

§

In der Früh gab’s Morgenrosa, dann schlagartig Nebel. Doch als ich mit Herrn Kaltmamsell mittags im Zug nach Augsburg saß, kam die Sonne raus. Die Schwiegers hatten zum ersten Gansessen der Saison geladen – langsam kann ich mich vielleicht doch auf das Ende des Sommers einlassen.

161009_02_salat

161009_03_gans_ganz

161009_05_ganserl

161009_06_maracujapudding

Dazu gab es angenehmste Unterhaltung, während der sich unter anderem herausstellte, dass meine Frau Schwieger vor der Mutterschaft als Programmiererin gearbeitet hat und Mitte der 1960er Röhren-Buchhaltungsrechner mit Werkzeug (also so richtig aus dem Werkzeugkasten) dazu brachte, das zu tun, was der Kunde wollte. Sie habe sich zu diesem Zweck sogar in die Kameralistik eingearbeitet.
(!)
(!!!)

§

Abends zu Fuck Ju Göhte geschaltet, wenigstens ein bisschen wollte ich für die Allgemeinbildung davon gesehen haben. Er stellte sich als deutlich besser als erwartet heraus, viele offene Schenkelklopftüren wurden überraschenderweise nicht eingerannt.

§

“Warum mich der Lokaljournalismus anekelt”.

Anders als die Überschrift vermuten lässt, ist das eine verzweifelt flammende Rede für den Lokaljournalismus. Eine, die auch ich seit vielen Jahren wiederhole, nur ist die oben verlinkte viel besser formuliert.

Lokaljournalist_innen sind die Bodentruppen der Presselandschaft. Sie können sich vor ihren Leser_innen nicht verstecken, auch nicht vor den Interviewpartner_innen oder anderen Objekten der Berichterstattung, denn die sind da, denen begegnet man auf der Straße oder sie klingeln an der Tür.

Und das bedeutet eben Nachprüfbarkeit: Die EU-Berichterstattung aus Brüssel muss die Leserin glauben (oder sich dazu Verschwörungstheorien ausdenken), doch auf dem Schulkonzert war sie dabei und kann beurteilen, ob der Bericht dazu halbwegs stimmt.

„Hömma, was denkst du eigentlich, was wir hier machen? Zeitung machen wir hier!“ habe ich früher manchmal gehört, wenn ich einen schlechten Text abgegeben habe. Mit 16 konnte ich darüber schmunzeln, denken: Ach Gott, nehmt euch nicht so wichtig mit eurer kleinen Lokalzeitung. Heute bin ich den Kolleg_innen von damals für den Anschiss dankbar, für die wütenden Tritte gegen den Türrahmen, die Schimpfworte kurz vor Andruck, fürs Anschreien. Es ist ein gutes Gefühl, ernst genommen zu werden, selbst wenn man nur Ziel des Wutanfalls oder Abladepunkt für Lästereien ist. Es ist ein gutes Gefühl, etwas zu machen, was jemand ernst genug nimmt, um sich darüber zu empören.

§

Dass das Schmock in der Münchner Maxvorstadt schließt, und zwar weil dem Wirt antisemitische Angriffe zum Hals raushängen, hatte ich mit Schrecken erfahren:
“Warum ein jüdisches Lokal in München dichtmacht”.

Beim letzten Besuch vor gut einem Jahr fand ich das Essen nicht mehr so gut (und die stark riechenden Lilien als Deko wirklich störend), doch ich war immer stolz darauf, dass es in München dieses Restaurant gibt – es war oft meine erste Wahl, wenn auswärtiger Besuch kam.

die Kaltmamsell

2 Kommentare zu „Journal Sonntag, 9. Oktober 2016 – The buried giant und die erste Gans“

  1. Noga meint:

    Ihr Hinweis auf die Schließung des Schmock erinnert mich an die liebevolle Besprechung der Bakery Taitler, die Sie hier im Blog veröffentlicht haben – und auch auf die Schließung haben Sie betrübt hingewiesen. Der nette Bäcker ist vor drei Wochen verstorben. Ein Nachruf ist in Vorbereitung.

  2. Regine Franck meint:

    Mehr zu Shirley Jackson: http://www.newyorker.com/magazine/2016/10/17/the-haunted-mind-of-shirley-jackson
    Viel Vergnügen
    r.

Sie möchten gerne einen Kommentar hinterlassen, scheuen aber die Mühe einer Formulierung? Dann nutzen Sie doch den KOMMENTAROMAT! Ein Klick auf einen der Buttons unten trägt automatisch die gewählte Reaktion in das Kommentarfeld ein, Sternchen darüber und darunter kennzeichnen den Text als KOMMENTAROMAT-generiert. Sie müssen nur noch die Pflichtfelder "Name" und "E-Mail" ausfüllen und den Kommentar abschicken.