Archiv für Oktober 2016

Journal Samstag, 15. Oktober 2016 – Wandern vom Ammer- zum Starnberger See

Sonntag, 16. Oktober 2016

Die ganze Woche hatte ich mich auf Wandern am Wochenende gefreut: Von Herrsching am Ammersee nach Tutzing am Starnberger See mit Variationen diese Wanderung in die Gegenrichtung. Plan war, im viel gerühmten Lokal des Guts Kerschlach einzukehren, und dann sollte es nicht schon nach anderthalb Stunden der Wanderung auftauchen, sondern eher gegen Ende. Samstag hätte ich deutlich bevorzugt: Zum einen sind S-Bahn und Wanderwege weniger bevölkert als am Sonntag, zum anderen wäre so der Sonntag für eine rare Stunde Step-Aerobic frei gewesen. Doch alle Quellen kündigten für Samstag beharrlich Regen an, der mir das Vergnügen vermiest hätte. Ich vereinbarte mit Herrn Kaltmamsell, dass wir am Samstag halt mal sehen würden, wie sich das Wetter entwickelte.

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Strahlenden Sonnenschein und goldenes Herbstlicht, das bot der Samstagmorgen. Die Prognose des Regenradars hatte den Zeitraum drohender Niederschläge auf eine halbe Stunde am Nachmittag verkürzt – ab zum Wandern. Ich erledigte noch ein paar Besorgungen (es ist schon arg praktisch, in der Innenstadt zu wohnen), frühstückte Croissant und Bananenjoghurt, dann setzten wir uns in die S-Bahn nach Herrsching.

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Wir hatten diese Strecke ausgesucht und folgten ihr rein nach Karte; mein Mitwanderer hatte Ausdrucke und sein Tablet dabei. Sie gefiel uns sehr gut, weil sie die unschönen Teile der letzten Wanderung hier vermied, war aber ein spürbares Stück länger (insgesamt 28 schrittgezählte Kilometer). Das hatte ich übersehen: Um die abendliche Dunkelheit zu vermeiden, konnten wir nicht so gemütlich Pausen machen, wie es körperlich ratsam gewesen wäre. Entsprechend erschöpft kamen wir abends in Tutzing an.

Besonders schön fand ich die ersten Kilometer den Ammersee entlang.

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Zweimal führte uns dieser Uferweg mit Steinen über Zuflüsse.

Der nächste Abschnitt ging dann weg vom Ammersee nach Osten: Zum Kloster Andechs.

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Das kleine Stück hoch zum Kloster und wieder zurück ließen wir aus: Wir hatten nicht vor einzukehren, und besichtigt hatten wir die Anlage ja schon mal.

Jetzt zog der Himmel tatsächlich zu, doch nach Regen sah es nicht aus. Zeitweise bekamen wir sogar Sonnenschein. Wir sahen einen Milan, eine Wildzucht, Kühe, Schafe.

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Zwanzig nach vier kamen wir zum Café des Guts Kerschlach – und stellten fest, dass wir noch gar nicht hungrig waren. Wir setzten uns dennoch draußen, um Pause zu machen und etwas zu trinken, doch war das Lokal personell so unterbesetzt, dass wir darauf lange hätten warten müssen. Wir planten um, dann eben am Ende unseres Wegs in Tutzing einzukehren.

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An dieser Stelle waren wir ratlos: Der Pfad endete am Deixlfurter See, wir hätten uns wild durchs Schilf schlagen müssen, um wie eingezeichnet am Ufer entlang zu gehen. Das wollten wir weder dem Schilf noch uns antun.

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Kurz vor Tutzing, schon sehr dunkeldämmrig.

Unter anderem kamen wir vorbei am Warnamt Kerschlacher Forst: Einerseits war die Anlage mittelmartialisch gesichert, unter anderem mit Schildern, die vor Betreten warnten, außerdem führte eine doppelt panzerbreite Straße ohne Abzweigungen hinauf, doch andererseits hing unter dem Warnschild das eines Kunstprojekts. Zurück daheim fand ich diese Erklärung:

In den zehn Warnämtern, die einer strengen militärischen Geheimhaltung unterlagen und deshalb überall in der Bundesrepublik in dichten Wäldern versteckt waren, sollten im Verteidigungsfall knapp 200 Mann starke Belegschaften Unterkunft finden und die Bevölkerung mittels Rundfunk und Sirenen vor Gefahren warnen. Die Bunker waren mit Notstromaggregaten, Vorräten und Krankenstationen ausgerichtet auf einen 30-tägigen autarken Betrieb.

Dieses konkrete Warnamt ist eben jetzt ein Kunstprojekt.

In Tutzing gingen wir ins laut Google Maps nächstgelegene Wirtshaus, das auch angenehm urig aussah. Doch die Bedienung wies uns gleich darauf hin, dass es nur Schweinsbraten zu essen geben würde, und den müssten wir auch gleich bestellen, denn sie erwarteten eine 80-köpfige Hochzeitsgesellschaft. Zum Glück war uns beiden sehr wohl nach Schweinsbraten, und so setzen wir uns. Umwuselt von den hochzeitstypischen aufgemaschelten kleinen Kinder, die einander jagten, aßen und tranken wir, im Hintergrund das Gespräch der einzigen beiden anderen Gäste (die eine erklärte der anderen mit ganz konkreten Tipps, wie Schriftstellerei geht, von der sie anscheinend lebte – das Geheimnis liegt demnach im kontinuierlichen Notieren von Ideen und emotionalen Eindrücken, aus denen man sich beim Schreiben bedienen kann).

Journal Freitag, 14. Oktober 2016 – Das echte Leben

Samstag, 15. Oktober 2016

Morgens mein selbstauferlegtes Kleidungskaufverbot gebrochen und unter anderem einen Rock bestellt, zu dem perfekt mein dunkelblauer Fledermausärmel-Angorapullover vom Flohmarkt mit tiefem Rückenausschnitt passt. Den ich allerdings vor über 25 Jahren aussortiert habe, blöd auch.

§

Weil sie’s schon angekündigt hatte, das Süddeutsche Magazin sofort nach Anne Wizorek in “Sagen Sie jetzt nichts” durchblättert – mich sehr gefreut.

Stichwort “große süße Maus”, wie die Lokalpolitikerin Jenna Behrends sich bezeichnen lassen musste: In der Septemberausgabe von Spektrum der Wissenschaft (schickes neues Titeldesign übrigens!) las ich mit großem Interesse den ausführlichen Artikel über die Mikrobiologin Emmanuelle Charpentier, eine der maßgeblichen Erfinderinnen der CRISPR/Cas9-Technologie, eines revolutionären Systems zur gezielten Veränderung von Gensequenzen. Seit 2015 ist Charpentier Direktorin am Max-Planck-Institut für Infektionsbiologie in Berlin.
Und was sagt laut diesem Artikel der Geschäftsführer von CRISPR Therapeutic (von Charpentier mitgebründet), Rodger Novak, über sie: “Sie ist ein kleines Persönchen mit sehr starkem Willen und enormem Durchhaltevermögen.”
Nein, ich halte mich nicht für überempfindlich, wenn ich da die Luft anhalte. Versuchen Sie sich einfach vorzustellen, er würde einen Mann welcher Maße auch immer als “kleines Persönchen” bezeichnen.
Können Sie nicht?

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Auf dem trockenen, nicht mehr ganz so kühlen Heimweg Wochenendeinkäufe beim Edeka, beim Weitergehen Sehnsucht nach einem Blumenstrauß entwickelt. Als ich mich noch fragte, ob die Blumenstandlerin am Sendlinger Tor wohl schon Feierabend gemacht haben könnte, fiel mir der Rosentagsrosenblumenladen ein, den ich doch hatte unterstützen wollen.

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Daheim Herrn Kaltmamsell geknutscht, Blumen angerichtet, in die Blaue Stunde gestellt.

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Nach einem kräftigen Tequila Sunrise beim Lesen der Blogkommentare hier rührselig geworden: SsssiesssinnndieBESSSTenKommentatorinnenunnnnnKommentaroren vonnnWeb!

Noch rührseliger geworden, als ich das frisch eingetroffene Päckchen öffnete.

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Meine Leibsommeliere Hande hatte mir den Beweis geschickt, dass es auch an der Mosel interessante Weine gibt. <3
Ich freue mich schon sehr aufs Probieren.

Ins Grübeln gekommen, was es bedeutet, wenn es sich die Welt erst Freitagabend so anfühlt, als begönne wieder das echte Leben. Ist das einfach normal? Habe ich mich genau damit unglücklich gemacht, dass ich etwas anderes erwarte?

Nachtmahl waren dann Saltimbocca (der Salbei, den ich am Donnerstag gekauft hatte, bestand aus Schnitzel-großen Blättern) mit Rosmarinkartoffeln.

Nachdem ich kürzlich daran erinnert wurde, guckten wir das Musical The Gay Divorcee, großes Vergnügen. “Careful! He might be a tenor!”, hatte ich schon wieder vergessen.

Journal Donnerstag, 13. Oktober 2016 – Erweiterter Literaturbegriff

Freitag, 14. Oktober 2016

Wieder ein Literaturnobelpreis an jemanden vergeben, der nicht eigentlich zur Literaturwelt gehört (nach Swetlana Alexijewitsch 2015): An Bob Dylan. Ich habe dazu keine Meinung.
(Das Meinung-zum-Literaturnobelpreis-haben kam mir wahrscheinlich beim Freuen über den für Doris Lessing abhanden. Seither ist’s mir eher egal.)

Auf dem Heimweg (Wetter weiterhin bunthimmlig, aber ohne Regen, kühl) bei Verdi ausführlich fürs Abendbrot eingekauft: Der erste Kürbis der Saison sollte in einem Salat mit Pilzen, Apfel und Salbei gefeiert werden. Gestern durfte sogar ich kochen.

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Dazu gab’s leichten Retsina.

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Post-Brexit-Abstimmung sollen Eltern in England Formulare von Kindergärten und Schulen ausfüllen, ob ihre Kinder in UK geboren sind. Englische Unternehmen hätten fast Listen mit ihren nicht-britischen Mitarbeitenden abgeben müssen (wurde abgeschwächt). Doch nichts rief bei mir so sehr Assoziationen mit dem Start der Nazi-Diktatur hervor wie diese Einzelgeschichte im Blog Read on my dear:
“Der vergiftete Apfel”.

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Besticktes Brot:

Terézia Krnáčová is a textile artist from Banská Bystrica, Slovakia, who embroidered six slices of bread for her project titled “Everyday Bread”

http://www.ignant.de/2016/09/23/terezia-krnacovas-bread-slices/

Ich musste gleich an Blaumann denken.

Journal Mittwoch, 12. Oktober 2016 – #12von12

Donnerstag, 13. Oktober 2016

Heute mit Fotos in Worten.

1. Goldene Camper-Schnürschuhe.
Eines der Paare, mit denen ich gut den ganzen Tag zu Fuß gehen kann und für die ich keine Wechselschuhe einstecken muss, weil sie zu wenig bürotauglich sind (zu hässlich/zu warm/zu schmutzig). Beim Schuhebinden spürte ich den Muskelkater vom vortäglichen Langhanteltraining. Und den ganzen Tag über beim Gehen.

2. Werbeplakat auf dem Weg in die Arbeit.
Das groß abgebildete Objekt hatte ich zunächst für einen Insulin Pen oder Schwangerschaftstests gehalten, schließlich stand auch drunter “Das ändert alles” – und mich durchaus über den finanziellen Werbeaufwand für solch ein Nischenprodukt gewundert, da musste ja eine mords Marge drinstecken. War bei näherer Betrachtung aber doch nur Werbung für Elektrozigaretten.

3. Großblättriger Grüntee in runder Teedose.
Nach Langem machte ich mir mal wieder eine Kanne Grüntee. Und wieder war ich überrascht, wie schnell Grüntee in mir verschwindet. Zwar reichen 1,5 Liter Verbene- oder Lindenblütentee auch nur bis Mittag, aber grüner Tee ist bereits nach höchstens drei Stunden weg, gestern schon nach zwei.

4. Riesentasse Schwarztee.
Deswegen und weil mir kalt war, machte ich mir gleich im Anschluss nochmal heißen Tee.

5. Oranger Auflauf auf ovalem Teller steht auf aufgeschlagener Süddeutscher.
Süßkartoffelauflauf zum Mittagessen; ich hatte nichts mehr daheim gehabt, was zur Brotzeit taugte, und musste zukaufen.

6. “Guruguru, wauwau”.
Überschrift auf der “Panorama”-Seite der Süddeutschen zum Nachruf auf den Tierheiler Tamme Hanken. Große Liebe für diesen Asterix-Fan in der SZ-Redaktion.

7. Der nachmittägliche Herbsthimmel,
der auf kleinstem Ausschnitt alle Farben von Himmelblau bis Dunkelgrau präsentierte.

8. Theresienwiese von Theresienhöhe aus.
Golden beschienen die Zelte des Oktoberfests, die bereits zum Teil abgebaut sind, und das schwere Gerät, mit dem sie abgebaut werden.

9. Blick in die Kiste mit Ernteanteil.
Ein kleiner Kopf Eichblattsalat von hinten, ein kleiner Wirsingkopf, zwei Fenchelknollen, eine Papiertüte (da waren die Tomaten drin), am Boden sieht man Karotten. Nicht im Bild: zwei grüne Paprika, ein großer Hokkaidokürbis – der erste der Saison. Da Herr Kaltmamsell berufliche Termine hatte, übernahm ich die Abholung unseres Ernteanteils in der Hans-Sachs-Straße. Den Salat und eine Karotte gab es für mich zum Abendessen. (Nachtisch: Zwei Stück Kuchenreste und mehrere Lebkuchen.)

10. Ein Latte macchiato im Glas.
Ich hatte beim Heimkommen großen Hunger und wollte bis zur Fertigstellung des Abendbrots nicht wie am Vorabend wahllos irgendeinen Mist in mich stopfen. Milchkaffee sättigt übergangsweise, zum Glück habe ich koffeinfreien Espresso im Haus. Und gewärmt hat er auch noch!

11. Meine grüne Wärmflasche an Fußende des Betts.
So kalt, wie mir den ganzen Tag war, würde ich mich beim Zu-Bett-Gehen sicher darüber freuen.

12. Auf meinem Nachtkastl (Schubladenkommode neben meinem Bett) kurz vorm Lichtausschalten.
Taschenbuch (Shirley Jackson), Brille, leere Beißschienendose, Migränespray, Ohropaxdöschen, benutztes Taschentuch, Wecker mit Ziffernblatt (zeigt 20 nach 10 an), Wecker mit Digitalanzeige, Smartphone (das mich tatsächlich weckt).

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Lassen Sie sich mitnehmen von Goncourt’s Blog zu einem Besuch bei der italienischen Familie.

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Ärzte ohne Grenzen erklären ausführlich:
“There is no such thing as ‘free’ vaccines: Why we rejected Pfizer’s donation offer of pneumonia vaccines.”

Denn wie immer: Es ist kompliziert.

They continue to offer donations that give Pfizer a tax break rather than offer a sustainable solution by lowering the price of the vaccine overall. Accepting Pfizer’s donation today would not do anything for the millions of children living in countries like Iraq, Jordan, Philippines, Romania, and Thailand, among many others, where neither their parents nor their governments can afford the expensive vaccine.

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Ein Tweet erinnerte mich an das grandiose Astaire-Rogers Musical The Gay Divorcee von 1934. Ich hatte sofort Musik aus dem Film im Ohr (“The Continental”, “Needle in a Haystack”).

Mit Ihnen teilen möchte ich die albernste Nummer aus dem Film:

Aktivieren Sie JavaScript um das Video zu sehen.
https://youtu.be/2s56o_8MAOc

Gastauftritt von Betty Grable – die damals wohl das beliebteste pin-up girl war und sonst nicht mehr im Film auftaucht.

Ich will ALLE Kleidung in dieser Szene, vor allem die Badeanzüge. Na ja vielleicht mit Ausnahme von Edward Everett Hortons Outfit. Obwohl – die Sandalen?
Und zum wiederholten Mal frage ich mich, wie sich das Frauenbild in Mainstream-Hollywoodfilmen seither derart zurückentwickeln konnte.

Journal Dienstag, 11. Oktober 2016 – The Vegetarian

Mittwoch, 12. Oktober 2016

Abends traf ich mich mit meiner Leserunde, um über Han Kang, Deborah Smith (Übers.), The Vegetarian zu sprechen. Einige hatten das Buch in der deutschen Übersetzung von Ki-Hyang Lee gelesen.

Nach dem kurdischen Roman hatte ich erwartet, dass auch dieser südkoreanische sehr fremd sein würde – in Erzählweise und Erzählwelt. War er aber gar nicht. Und doch ist The Vegetarian ein sehr anderes Buch, auf die beste Art befremdlich. In drei Teilen wird von Yong-Hye erzählt, von einer unauffälligen und angepassten Ehefrau, die eines Nachts beschließt, kein Fleisch mehr zu essen. Das wird in drei Teilen von außen erzählt, irritierenderweise die ersten beiden und wichtigsten Teile der Geschichte von Männern: Teil 1 von Yong-Hyes Ehemann, Teil 2 von ihrem Schwager, einem Künstler. Erst der letzte Teil 3 hat die Perspektive ihrer Schwester, die sie in der psychiatrischen Klinik besucht. Die Erzählweise ist realistisch, mit Ausnahme der Schilderung von Yong-Hyes blutgetränkten Träumen – die sie zu ihrer Essverweigerung gebracht haben. Diese Träume sind auch die einzigen Passagen, in denen die Hauptfigur selbst zu Wort kommt, in denen sie nicht nur von außen von Mitmenschen geschildert wird. Yong-Hyes verschwindet von Kapitel zu Kapitel mehr, in ihrer Passivität scheint sie sich aufzulösen. Doch geht es tatsächlich um Essen? Steht das für etwas anderes?

Wir sprachen lang über das Buch (nur eine hatte es nach wenigen Seiten weggelegt, weil es sie überhaupt nicht interessierte), darüber, wie wenig Sinn die eigenartige Handlung ergibt, vor allem die Protagonistin. Meiner Meinung rührt die Faszination des Romans genau daher, aus dieser Unbegreiflichkeit und der Verweigerung, Yong-Hye zu einem konsistenten, fassbaren Charakter zu machen – was vor allem durch die Schilderung von außen gelingt. Und Verweigerung ist ja ein starkes, möglicherweise das beherrschende Motiv der Geschichte. Verweigerung des Essens als allerletzte Möglichkeit der Selbstbestimmung.

Zudem fesselten mich immer wieder die sinnlichen Beschreibungen von Details der Umgebung oder der Figuren, die mir sehr nahe gingen – zum Beispiel die verregnete Fahrt der Schwester in die Klinik, die ich fast körperlich riechen und spüren konnte.

Auch über den Titel des Romans unterhielten wir uns: Er führt ja eigentlich in die Irre, denn Yong-Hye verweigert nur im ersten Schritt Fleisch. Vielleicht doch eine Marketingmaßnahme? Wir waren uns einig, dass der Titel stark zum Verkaufserfolg des Buchs beigetragen hat.

Die Neue Züricher Zeitung veröffentlichte ein interessantes Interview mit der Autorin.
“Gespräch mit der Booker-Preis-Trägerin Han Kang
‘Unschuld gibt es nicht'”

Ihre Lesart des Romans ist zwar meiner Überzeugung nach nicht höherwertig oder gar richtiger als die anderer Leserinnen, doch in diesem Fall wirklich interessant, zum Beispiel:

Yong-Hye ist als Figur konzipiert, deren Mitte leer ist. Im Roman finden die Leser Bruchstücke an Informationen darüber vor, wer sie sei. Sie sind aufgerufen, diese Splitter zu nehmen und mithilfe der eigenen Imagination die Leere zu füllen.

Journal Montag, 10. Oktober 2016 – Bunter Himmel

Dienstag, 11. Oktober 2016

Es bleibt kalt, der Himmel zeigte gemischteste Farben, regnete auch mal.

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Nach Feierabend nahm ich mir endlich die Kiste mit Winterkleidung vor, die ich am Wochenende aus dem Keller geholt hatte. Ich bin dem Ziel, meinen gesamten Kleidungsbestand auf einen Schrank voll zu reduzieren, nur wenig näher gekommen: Einige Sommerhosen müssen weiterhin ausgelagert werden (locker in die Kiste gelegt verknittern sie hoffentlich nicht sehr), der Rest quetscht sich im Schrank noch ganz schön. Winterkleidung besitze ich ohnehin bei Weitem nicht so reichlich wie Sommerliches, es besteht also kaum Hoffnung, dass der Bestand in den nächsten Monaten durch Aussortieren merklich schmilzt.

Zum Nachtmahl Kartoffel- und Mairübcheneintopf mit Einbrenne. Im Fernsehen lief eine Doku über fränkische Winzer, die begriffen haben, dass sie nur mit Individualität und gebietsbezogenem Profil überleben können (da müsste man doch auch wandern können?), dann eine über Sissi Perlinger – die ich als exzentrische Erscheinung sehr schätze.

Journal Sonntag, 9. Oktober 2016 – The buried giant und die erste Gans

Montag, 10. Oktober 2016

Am Vorabend hatte ich im Bett Kazuo Ishiguros The buried giant ausgelesen.
Einer der besseren Ishiguros (von denen davor war ich enttäuscht gewesen). Vage in der Zeit nach Artus angesiedelt begleiten wir ein altes Ehepaar („Britons“) auf ihrem Weg von ihrer dörflichen Siedlung zu… nun, sie haben beschlossen zu ihrem Sohn, der irgendwo anders ist. Doch sie wollen auch herausfinden, wie es kommt, dass sie und mehr noch ihre Umwelt vergangene Geschehnisse zu vergessen scheinen, selbst wenn es sich um das zeitweilige Verschwinden eines kleinen Mädchens vor wenigen Wochen handelt. Als wenn sich ein Dunst („mist“) auf ihre Erinnerungen gelegt hätte. Es entspinnt sich eine Geschichte um Saxons, Artus’ Erbe, Oger und andere Monster, Drachen, Aberglauben, Krieger. Der alte Mann hat möglicherweise ein bedeutenderes Vorleben, als er es erinnert, und die Drachin eine Funktion für den brüchigen Frieden im Land, die man nicht vermutet hätte.
Die Geschichte gefiel mir gut und überraschte mich immer wieder, auch wenn sie Längen hatte. Ein wenig enttäuscht war ich von viel Informationsvermittlung durch telling statt durch Handlung – gerade wo Ishiguro in An artist of the floating world und Remains of the day bewiesen hat, wie meisterlich er showing sogar als Gegenteil des im telling Behaupteten kann.

§

Vor Kurzem war ich auf die Besprechung einer Shirley Jackson-Biografie in der New York Times gestoßen und hatte mich sofort an das Leseerlebnis von “The Lottery” erinnert.
“The Case for Shirley Jackson”.

Shirley Jackson once wrote that when she went to the hospital to deliver the third of her four children, the admitting clerk asked for her occupation. “Writer,” Jackson replied. The clerk said, “I’ll just put down housewife.”

to most she was just another faculty wife, and a fat and creepy one at that, someone who drank too much and whose house stank of cat pee

Zum Glück lebe ich mit der Science-Fiction-Bibliothek des Herrn Kaltmamsell, aus der ich den einen Kurzgeschichtenband ziehen konnte, der noch zu Jacksons Lebzeiten veröffentlicht wurde.

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In der Früh gab’s Morgenrosa, dann schlagartig Nebel. Doch als ich mit Herrn Kaltmamsell mittags im Zug nach Augsburg saß, kam die Sonne raus. Die Schwiegers hatten zum ersten Gansessen der Saison geladen – langsam kann ich mich vielleicht doch auf das Ende des Sommers einlassen.

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Dazu gab es angenehmste Unterhaltung, während der sich unter anderem herausstellte, dass meine Frau Schwieger vor der Mutterschaft als Programmiererin gearbeitet hat und Mitte der 1960er Röhren-Buchhaltungsrechner mit Werkzeug (also so richtig aus dem Werkzeugkasten) dazu brachte, das zu tun, was der Kunde wollte. Sie habe sich zu diesem Zweck sogar in die Kameralistik eingearbeitet.
(!)
(!!!)

§

Abends zu Fuck Ju Göhte geschaltet, wenigstens ein bisschen wollte ich für die Allgemeinbildung davon gesehen haben. Er stellte sich als deutlich besser als erwartet heraus, viele offene Schenkelklopftüren wurden überraschenderweise nicht eingerannt.

§

“Warum mich der Lokaljournalismus anekelt”.

Anders als die Überschrift vermuten lässt, ist das eine verzweifelt flammende Rede für den Lokaljournalismus. Eine, die auch ich seit vielen Jahren wiederhole, nur ist die oben verlinkte viel besser formuliert.

Lokaljournalist_innen sind die Bodentruppen der Presselandschaft. Sie können sich vor ihren Leser_innen nicht verstecken, auch nicht vor den Interviewpartner_innen oder anderen Objekten der Berichterstattung, denn die sind da, denen begegnet man auf der Straße oder sie klingeln an der Tür.

Und das bedeutet eben Nachprüfbarkeit: Die EU-Berichterstattung aus Brüssel muss die Leserin glauben (oder sich dazu Verschwörungstheorien ausdenken), doch auf dem Schulkonzert war sie dabei und kann beurteilen, ob der Bericht dazu halbwegs stimmt.

„Hömma, was denkst du eigentlich, was wir hier machen? Zeitung machen wir hier!“ habe ich früher manchmal gehört, wenn ich einen schlechten Text abgegeben habe. Mit 16 konnte ich darüber schmunzeln, denken: Ach Gott, nehmt euch nicht so wichtig mit eurer kleinen Lokalzeitung. Heute bin ich den Kolleg_innen von damals für den Anschiss dankbar, für die wütenden Tritte gegen den Türrahmen, die Schimpfworte kurz vor Andruck, fürs Anschreien. Es ist ein gutes Gefühl, ernst genommen zu werden, selbst wenn man nur Ziel des Wutanfalls oder Abladepunkt für Lästereien ist. Es ist ein gutes Gefühl, etwas zu machen, was jemand ernst genug nimmt, um sich darüber zu empören.

§

Dass das Schmock in der Münchner Maxvorstadt schließt, und zwar weil dem Wirt antisemitische Angriffe zum Hals raushängen, hatte ich mit Schrecken erfahren:
“Warum ein jüdisches Lokal in München dichtmacht”.

Beim letzten Besuch vor gut einem Jahr fand ich das Essen nicht mehr so gut (und die stark riechenden Lilien als Deko wirklich störend), doch ich war immer stolz darauf, dass es in München dieses Restaurant gibt – es war oft meine erste Wahl, wenn auswärtiger Besuch kam.